ARD Bitte beachtet, in diesem Hörspiel kommen seelische und körperliche Gewalt vor. Der Wolf spricht. Ich bin eure Mutter. Aber die Kinder hören die dunkle Stimme des Wolfes, die nicht die Stimme ihrer Mutter ist. Du bist der Wolf, schreien sie im Chor. Da geht der Wolf zum Krämer, besorgt sich ein Stück Kreide. Sie macht seine Stimme hoch und sanft. Und siehe da, die Tür öffnet sich.
Wie er zuvor die Kreide fraß, frisst er nun Geißlein für Geißlein bis auf eins. Es bleibt übrig, um der Mutter davon zu erzählen. Eins bleibt übrig für die Geschichte. Im Uhrenkasten, in dem die Zeit des Vergessens tickt. Eins. Der Stimme ihren Ort zurück. Von Simone Kucher.
Hallo, Mama. Nein. Mama, chill. Inchesusum? Ja, es war gut. Shut Love. Gratulierens Violinkonzert. Ja, ein tolles Stück. Und der Solist. Fantastisch. Die Proben waren anstrengend, aber das Konzert war gut. Nein, mir geht's gut. Don't worry. Ich weiß, Sammy hat mich angerufen. Mama, lass ihn doch.
Oder Burg. Über Armenien. Ich weiß es nicht. Mama, was soll denn passieren? Alles klar. Anzrev. Regen. Anzrev Hegalis. Es regnet.
Das ist ja armenisch. Für einen kurzen Moment. Die hohe Stimme, dieser Klang, der Rhythmus. Wie Papik. Ansrif-e-Galiz. Wie oft habe ich das von ihm gehört? Als könnte die Stimme meines Großvaters hier aus dem Radio kommen. Eine Stimme im Raum, aber die Person nicht.
Die Stimme, die wir gerade hörten, wurde mit einem Fotografen aufgezeichnet. Sie stammt aus dem Berliner Lautarchiv und es handelt sich um die Aufnahme eines Kriegsgefangenen in Deutschland während des Ersten Weltkriegs. Frau Lange, was haben die Personen gesprochen? Also wir wissen nicht ganz genau, ob es ein ganz festgelegtes Prozedere gab. Erster Weltkrieg. Kriegsgefangenenlager. Das ist ja absurd. Kriegsgefangenen aufgefordert.
Papik ist 1910 geboren oder 1911. Also war er während des Ersten Weltkrieges ein kleines Kind. In Deutschland im Krieg. Wir haben nur einmal über Deutschland gesprochen. Kurz vor seinem Tod. Berlin. Dann gehst du also wieder zurück. Es ist Zufall, Papik. Ich habe die Stelle im Orchester. Und wer weiß, wie lange ich dort bleiben werde. Hm.
Bleib bei der Familie, Lissi. Berlin ist zu weit weg. Die Familie ist unsere Heimat. Keine Ohr. Aber Papik, du hast doch deine Heimat in Tabriz. Nein, mein Kind, nein, das ist nicht meine Heimat. Aber du bist doch dort geboren und aufgewachsen. Nicht geboren und nicht aufgewachsen. Das war an einem anderen Ort.
Als ich in Tabriz ankam, war ich schon nicht mehr Kind. Wie heißt denn der Ort, Papik? Berlin, also. Der Zufall, sagst du. Lusin. Mond. Mein Name, Lusin. Der Mond.
Oder von Luis, das Licht. Barry Luis. Tüs Licht. Guten Morgen. Im Cach Ceres, meine Süßigkeit. Im Yankes, mein Leben. Das waren seine Worte.
Immer wieder die gleichen Worte. Als 1877 der Phonograph von Thomas Edison erfunden wurde, konnte man in der Werbung dafür lesen, Tote können nun sprechen. Frau Lange, was steckte hinter dieser Wahrnehmung, nun auch bezogen auf die Aufnahmen aus den Kriegsgefangenenlagern? An den Tonaufnahmen aus dem Berliner Lautarchiv, die eben von Kriegsgefangenen gemacht wurden, gibt es eine zusätzliche Ebene,
des Geisterhaften oder des Gespenstischen, was so auf Todesnähe weist. Denn tatsächlich sind ja auch doch viele der Kriegsgefangene in den Lagern gestorben. Und bei den Tonaufnahmen, solange man nichts anderes weiß, ist es immer möglich, dass es sozusagen eigentlich das letzte Zeugnis einer solchen Person ist, dass es vielleicht keine weitere Spur mehr von ihr gibt, außer dann im
ein Vermerk über ihren Tod im Lager. Und vielleicht gibt es noch nicht mal den. Gibt es Versuche, den Spuren dieser Stimmen nachzugehen? Nein, es gibt ein paar Versuche, aber nicht viele. Was es natürlich auch schwierig macht, ist die zeitliche Entfernung.
Denn es ist jetzt fast 100 Jahre her, dass diese Aufnahmen entstanden sind und es gibt aus dieser Zeit keine Überlebenden mehr. Also keiner der Protagonisten, der 1915 in "Ein Gramm Wohl" gesprochen hat, lebt heute noch. Und selbst bei Söhnen und Töchtern sieht es schon blöd aus. - Samy? Du, ich ruf dich gleich zurück. Es läuft gerade was im Radio. Etwas zu Armenien? Nein!
Eine Stimme aus dem Ersten Weltkrieg. Sie klingt irgendwie, ich weiß es nicht, ich rufe dich zurück. Ja, Archivierung funktioniert, wenn man sich mal versucht, auf so eine Spur zu begehen. Ich danke Ihnen für das Gespräch. Das war die Kulturwissenschaftlerin Britta Lange von der Humboldt-Universität Berlin. Morgen hören Sie zur gleichen Zeit einen Bericht über... Warum gehst du nach Berlin zurück? Das Einzige, an das ich mich erinnern kann, was er mich wirklich gefragt hat. Warum nicht?
Schließlich haben wir alle mal in Berlin gelebt. Für eine Zeit. Wie auch woanders für eine Zeit. Orte, die uns etwas bedeuteten. Deren Sprache wir sprechen oder nicht. Für meinen Großvater war Berlin damals nur eine Durchreise, vergleichbar kurz. Ich kann mich nicht erinnern, dass er irgendetwas gesagt hat, was gegen Berlin sprach. Warum diese Frage dann? Von Tappris über Berlin nach New York
Und von dort weiter nach Kalifornien, Glendale, Los Angeles. Wie fast eine Million Armenier, die dort heute leben. In Little Armenia. Amerika war sein Traum, wie für alle. The American Dream. Sagst du das? Amerikanerin? Was soll ich denn sonst sagen, Mama? Armenierin. Du bist Armenierin. Aber warum denn? Mama, ich habe den amerikanischen Pass. Ich kenne Armenien doch nur aus dem Urlaub. Ich habe dort nie gelebt. Trotzdem bist du da.
Mama, das versteht doch niemand. Man muss wissen, woher man kommt. Gut, dann sag mir mal, woher kommt Paprik eigentlich? Was hat das damit zu tun? Wie heißt der Ort? Muş. Muş? Muş? Das liegt doch in der heutigen Türkei. Mama, was sind das denn für Lügengeschichten, die ihr erzählt? Ihr habt uns doch immer gesagt, dass unsere Familie nicht davon betroffen war. Das heißt, wir sind überall... Was ändert das?
Mama, was weißt du? Ich weiß nichts darüber. In Berlin verbrachten wir insgesamt zehn Jahre. Ich die ersten vier Jahre meiner Schulzeit. Deutsch war meine erste Sprache, die ich lesen, lernte und schreiben. Mit ihr konnte ich "ich" sagen und wusste, wie es aussieht, an welcher Stelle des Alphabets sich die Buchstaben einfügen. I, C. Das Armenische?
Meine Kind- und Muttersprache habe ich nur gesprochen, nur gehört. Die verschnörkelten Schriftzeichen haben keine Bedeutung für mich, wenn ich sie sehe. Mit Aufnahmen aus dem Berliner Lautarchiv. Das ist es doch. Trotzdem ist mir diese Sprache am nächsten. Ohne den Anker einer Struktur. Und ich fühle mich immer haltlos ihren Zeichen ausgeliefert. Meine Bedürfnis, Liebes...
Wutsprache. Wie Musik. Schön, dass du gespielt hast. Das hat sich doch Papi gewünscht. Er hat sein Leben lang hart gearbeitet. Ich sehe ihn immer nur in seinem Laden. Schon als Kind. Entweder hinten in der kleinen Kammer essen oder vorne die Schuhe reparieren. Aber seine größte Freude war, dass du Musikerin geworden bist. Mama, warum hat er denn nichts anderes gelernt? Er musste Geld verdienen.
Schon als kleiner Junge hat er als Schuster gearbeitet. Ich weiß nicht mehr genau seit wann. Als kleiner Junge. Und habe es. Jetzt haben wir keinen Tamada mehr, der die Trinksprüche macht. Weißt du, das mochte er doch nie. Nur weil er der Älteste am Tisch war. Glück und Freude. Alt werden sollt ihr auf einem Kissen und eine Familie werden. Sammy?
Ja, ich hab's im Netz gefunden. Du, ich schick dir den Link. Du, es klingt irgendwie vertraut. Papiks Vater? Ja, ich weiß, dass viele Armenier im Ersten Weltkrieg auf russischer Seite gekämpft haben. Du, das glaub ich allerdings nicht. Ja, das Archiv ist in Berlin. Du, dafür hab ich keine Zeit. Nicht im Moment. Ja, mal sehen. Du, versprechen kann ich es nicht. Wann fährst denn du? Und wie geht's mit dem Buch? Ja? Mein Bruder...
Er ist immer derjenige in unserer Familie gewesen, der alles darüber wissen wollte. Was versteckst du da? Die 40 Tage des Musa Dar? Gib her! Woher hast du das? Aus dem Bücherregal. Das steht ganz oben. Das ist nichts für uns. Wer sagt denn sowas? Wusstest du das, was mit den Armeniern passiert ist? Was denn? Hier steht, dass 1915 bis 1916 1,5 Millionen Armenier im Osmanischen Reich ermordet wurden. Einfach so.
Deportiert, verbrannt, hingerichtet, in die Wüste geschickt. Und niemand hat irgendwas gemacht. Das steht da? Wir haben in der Schule nichts darüber gelernt. Nicht mal eine Fußnote, wenn es um die Türkei geht. Das haben wir erst letztes Jahr gehabt. Der Erste Weltkrieg, Europa und das. Und nichts, gar nichts darüber. Vielleicht stimmt es nicht? Was? Es ist ein Roman, das siehst du doch. Es ist eine Geschichte. Mann, du bist dumm wie Brot. Und du erst. Als Kind hat es meine Mutter auf armenisch-deutsche Märchen erzählt.
Sie begann sie immer wie die armenischen Märchen mit der Formel: "Linume cilinumi" – "Es war oder es war nicht". Der Wolf und die sieben Geißlein zum Beispiel. Wir mochten es nicht. "Am Ende ist doch alles gut", versuchte uns Mutter zu überzeugen. Aber die Vorstellung, dass man Kreide isst und damit eine andere Stimme bekommt, macht uns Angst. Dass man einfach so jemand anderes werden kann. Sogar der Wolf ein Mensch. Und auch das Ende.
an dem der Wolf zugenäht mit den Steinen im Bauch in den Brunnen fällt, war kein tröstlicher Gedanke, obwohl es ein gerechter war. Er war nicht der Wolf? Wer? Dein Großvater. Er hat sich nur versteckt. Woher willst du das wissen mit dem Versteck? Ich habe mich ausgesteckt. Wovon redest du? Mein Bruder auch. Und meine Schwestern.
Wie alt bist du? Fünf. Wo kommst du her? Von zu Hause. Und deine Eltern oder deine Geschwister, wo sind sie? Weißt du, wo sie sind? Nein. Woher sollte ich das wissen? Weißt du, wo deine Familie ist? Natürlich weiß ich das. Mein Bruder und meine Mutter wohnen in New York. Warum hältst du dir die Ohren zu? Ich halte mir nicht die Ohren zu. Du lügst. Nein. Meine Mutter hat auch gelogen.
Sie hat gesagt, wenn sie kommen, sollen wir uns verstecken. Und wenn sie weg sind, holt sie uns raus. Ich hatte das beste Versteck und niemand hat mich gefunden. Aber sie weiß, wo ich bin. Bestimmt. Aber sie holt mich nicht. Vielleicht kann sie dich nicht herausholen. Warum nicht? Ich weiß es nicht. Mama? Chill. Nein, ich bin wach.
Ja, ich hab mit Sami gesprochen. Nein. Cee, warum soll er denn nicht in die Türkei? Warum denn? Mama, lass ihn doch. Gut. Ja, ich spreche mit ihm. Don't worry, Mom. Ja. Manchmal kann mein kleiner Bruder mich echt nerven. Das hat er immer schon gekonnt. Du verstehst ja wohl gar nichts. Was soll ich denn verstehen? Red nicht so mit mir. Das ist doch ganz klar.
Das Foto hier lag in einer der Kisten oben auf dem Dachboden. Siehst du hier? 14 Leute. Und der kleine Junge, dort in der Mitte mit der Geige. Er ist etwa vier Jahre alt. Das muss Papik sein.
Das Bild stammt von 1914 und da war er vier Jahre alt. Papik hat nie Geige gespielt. Aber du spielst Geige! Was ist das für eine Logik? Außerdem hatte Papik keine Familie. Er war weise. Du kapierst wirklich nichts, oder? Da gibt es nichts zu kapieren und weißt du was? Es interessiert mich nicht. Genau das ist das Problem! Was für ein Problem? Ich habe kein Problem! Du hast ein Problem! Kupfergraben Nummer 5. Ein kleines Haus. Eingezwängt zwischen den hohen Gebäuden links und rechts.
In meinem Rücken über dem Fluss das majestätische Hufeisen zum Bergamon-Museum. Komitas. Warum steht hier Komitas? Im Internet stand unter dieser Adresse Berliner Lautarchiv, der berühmteste der armenischen Musiker nach Charles Aznavour. Komitas war auch in Paris. Die letzten Jahre in der Nervenheilanstalt. Das ist das Wenige, was ich von ihm weiß.
Aber von 1896 bis 1899 hier in Berlin. Steht auf der kleinen Messingtafel. Drei Jahre kurz vor dem Jahrhundertwechsel. Kann ich helfen? Ja, ich suche das Berliner Lautarchiv. Oh, da sind Sie hier falsch. Hier ist die Musikwissenschaftliche Bibliothek. Sie müssen die Treppe runter über den Hof. Da finden Sie eine kleine Tür rechts. Die Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock. Und da ist es. Danke.
Entschuldigen Sie, dort draußen die Messingtafel zu Comitas. Ich frage mich, ob Sie hier in der Bibliothek Noten haben, von Comitas zum Beispiel. Ich bin Musikerin deswegen. Wir haben nicht viele Noten. Warten Sie mal, ich sehe, was ich für Sie finden kann. Danke. Komponisten. K. Comitas. Comitas Vardapet. Geboren 1869 in Kütahya.
Osmanisches Reich gestorben am 22. Oktober 1935 in Paris. War ein armenischer Priester, Komponist, Sänger, gilt als Begründer der modernen klassischen Musik Armeniens. Wurde am 24. April 1915 mit einigen hundert weiteren armenischen Intellektuellen verhaftet und nach Cankere deportiert. Acht dieser Deportierten überlebten darunter Kommiters. 24. April 1915
Der Beginn. Das Datum, das heute in Armenien und der gesamten Diaspora ein nationaler Trauertag ist. Selbst ich weiß das. Obwohl es in unserer Familie ein Tag wie jeder andere war. Parallel zu der Leitung eines Männerchors 1899 in Etchmiadzin reiste er quer durch das Land und sammelte eine Vielzahl von armenischen Volksliedern, wie sie in den Dörfern aufgeführt wurden. Wie die Brüder Grimm ein paar Jahre zuvor die deutschen Märchen aufschrieben. Das Lied Krunk.
Sein berühmtestes, der Kranich. Oder das Geigensohle, wie heißt das nochmal? Nur eine Melodie, die so süß und hoch anfängt, bis sie langsam in dem tiefen, pelzigen Gaumen versinkt. Wir haben leider nur die Noten zu einem Stück. Hier bitte. Zidanezar, das ist es. Der Aprikosenbaum. Genau danach habe ich gesucht. Kann ich es ausleihen? Mit einer Berliner Anmeldebestätigung, ja.
Zwei Wochen ist die Auslauffrist. Vielen Dank. Gerne. Die andere Tür. Das Lautarchiv ist im Hof. Danke. Ball, Bär, Auto, Hund waren wohl die ersten Worte, die ich auf Armenisch sprechen konnte. Wie jedes Kind in jeder Muttersprache. Nach Mutter und Vater und vielleicht nach Oma und Opa. Papik. Karput. Blau.
Karmir, Rot, Derin, Gelb, Spitak, Weiß. Als hätte jede Farbe eine Stimme, die zu mir spricht. Blau. Blau ist nicht nur eine Farbe. Es ist auch der Name einer Stadt, in der meine Großmutter geboren ist und mein Großvater. Heute heißt sie anders. Aber damals hieß sie Kaput.
Sie hieß so, weil alle, die dort wohnten, blaue Augen hatten. So blau wie meine. Alle haben wir diese Augen. Meine Großmutter, mein Großvater, meine Mutter, ich, meine Geschwister. Heute gibt es die Stadt nicht mehr, aber die Augen, die gibt es noch. Blau. Karput, Karmir, Derin, Zbitak.
Blau, Rot, Gelb, Weiß. Die Farbe der Sonne dort ist gleich, aber das Licht flimmert dunkelgelb. Es taucht die Straßen und Häuser in eine andere Farbe. Ganz früh morgens ist es noch weiß, dann wird das sattgelb, bis abends der blutrote Ball untergeht und die Nacht kommt. Man kann die Sterne ganz deutlich sehen, wie sie sich abzeichnen, weiß auf schwarz.
Das kann ich nicht beschreiben. Das ist ein einziges Funkeln des Himmelszelt. Man könnte sie trinken und essen. Was macht denn sie satt? Und dann ist da dieses Rot. Immer wieder Rot. Wenn man an die Geschichte denkt, ist das die Farbe, die überwiegt und alles zudeckt. Selbst der Schnee kann es nicht zudecken. Das Rot kommt immer wieder durch das Weiß.
Ich kann nicht schlafen und entdecke einen merkwürdig stillen Film über Kommitas. In einer Sequenz gibt es ein Gedicht. Die Kamera fährt langsam über ein verlassenes Kloster, das eine Ruine ist. Etwas baumelt im Wind, Stein auf Stein, Sand und Sonne. Aber wie kann ich woanders leben?
Wo es doch woanders keine Sonne in dem Schnee und in der Sonne nicht so viel Schnee gibt. Wo es doch woanders keine Kindheit gibt, die aus jedem Stein, jedem Bach, mit meinen Augen in meine Augen schaut. Aber wie kann ich woanders leben? Aber wie kann ich leben ohne mich? Selbst wenn du hörst, mich gab es nicht auf dieser Welt. Selbst wenn der Wind dir deine letzte Hoffnung raubte, werde ich kommen. Was auch sein wird, ich werde kommen.
Mein Großvater war fast 100, als er vor vier Jahren starb. Ein biblisches Alter. Wie auch unsere Herkunft mit der Bibel verknüpft ist. Ich bin in Tabriz geboren, in Iran. Von dem man sagt, dass dort das Paradies lag. Hier sammelten sich die Flüsse Bishon, Gehon, Euphrat und Tigris in der Wiege des Wassers, dem Urmeersee. Nur meine Kindersommer.
verbrachte ich dort in Armenien, in Yerevan, wo man von jedem Winkel aus den Berg Ararat sehen kann, an dessen Spitze Noas Arche nach der Sintflut strandete, so sagt man. Und die Taube ihren Ölzweig aus dem Land Armenien, Noah, als Zeichen der Zukunft von Leben vor die Füße warf, verbrachte die Sommer im Garten der Großeltern meines Vaters, ein Garten voller Obstbäume,
in denen wir auf den Zweigen saßen und die reifen Früchte aßen, bis man die schlafenden Kinder nachts aus den Bäumen pflückte. Von da über Rom, nach Berlin, nach New York und seit vier Jahren wieder in Berlin, zum ersten Mal allein. Das Einzige, was ich von der Reise mitgenommen habe, ist eine Sprache, die man als Kind hört und spricht.
Moment, ist es bei dir soweit? Was? Dass du endlich einen Mann findest. Mama, jetzt nicht schon wieder. Und am besten noch ein Armenier, ja, ich weiß. Ach, egal. Aber besser wär's schon. Ich wär so gerne Großmutter. Mama, ich bin 28. Eben. Wenn man nichts hat, kann man nichts verlieren. Das ist eine einfache Rechnung. Nur was, wenn es schon verloren ist?
Ich bin Sami. Ähm, melde dich. In ein paar Tagen fahre ich in die Türkei. Lass uns unbedingt vorher telefonieren. Warst du schon in dem Archiv? In jeder armenischen Familie gibt es einen, der zum Erzähler wird. Man könnte meinen, es wäre ein alltäglicher Beruf, wie ein Schuster, ein Bäcker oder ein Schmied oder Schneider. Ein Handwerk. Eine der wenigen Bräuche, die mir meine Mutter erzählt hat, ist der.
Wenn dem Kind die erste Zahn wächst, versammeln sich alle im Haus und stellen Gegenstände auf den Boden. Das Kind krabbelt durch den Raum. Den Gegenstand, den das Kind nimmt, das wird sein Beruf. Nimmt es den Schuh, wird es ein Schuster. Nimmt es das Brot, ein Bäcker. Und das Kind, das in die offene Tür krabbelt, wird später der Erzähler, der in das Offene blickt.
Auf das, was kommt, wenn der erste Zahn im Mund wächst. So sind die Augen mit dem Mund verbunden, das Sprechen mit dem Sehen und der Kampf um das Vergessen beginnt. Auge, Nase, Mund, Zunge, Zahn. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Kann ich helfen?
Ja. Also ich habe im Radio einen Bericht gehört mit einer Stimme, ich glaube aus dem Archiv hier, einer Aufnahme aus einem Kriegsgefangenenlager im Ersten Weltkrieg. Und ich dachte, vielleicht könnte ich sie noch einmal hören und etwas über sie erfahren. Was für eine Nationalität? Arminisch. Die kann ich Ihnen heraussuchen. Danke. Also weil ich dachte, vielleicht für einen kurzen Moment dachte ich, es wäre die Stimme, also eine Stimme, die ich kenne. Wirklich? Wir suchen immer nach den Spuren der Stimmen.
Viele sind verloren. Wir wissen oft nicht mehr, was danach mit den Menschen passiert ist. Verstehen Sie Armenisch? Ja, aber nicht alles. Es ist meine Muttersprache. Dann suchen Sie nach einem Angehörigen? Mein Urgroßvater, ja, also vielleicht. Karun, Amar, Aschun, Zemer. Karun, Amar, Aschun, Zemer. Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Karun, Amar, Aschun, Zemer.
Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag. Kiraki. Dann hat er vielleicht die Kreide gefressen, wie der Wolf in der Geschichte mit den sieben Geißlein. Das ist eine deutsche Geschichte. Aber wir sind ja hier in Deutschland. Du bringst alles durcheinander. Wie soll ich nicht alles durcheinander bringen?
Ich bin dort, wo ich bin, mit den Geschichten, die dort sind. Warum hat dein Großvater so eine hohe Stimme? Woher soll man das wissen gehen? Vielleicht ist er das letzte Geißlein, das in der Uhr sitzt und der Mutter von dem Wolf erzählt. Und von der Stimme des Wolfes, die die Stimme der Mutter ist. Es gibt für jede Aufnahme einen Personalbogen. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.
wie die Person heißt, woher sie kommt und in welchem Lager die Aufnahme gemacht wurde. Mehr wissen wir oft nicht. Danke. Darbinians Jakov. Jakov Darbinians? Warum das Z am Ende? Das Armenische hat am Ende ein Jan. Mein Name, Lusin Hagopian. Genannt Lusi oder Lusik Can. Das I aus dem Armenischen, um zu verkleinern. Kleine Lusin. Und das Can aus dem Persischen. Mein Liebes. Mit dem armenischen Nachnamen.
den man durch die Endsylbian überall erkennen kann. Hagopjan, Sohn des Hagop, Jakov. Ich picke mir die Wörter heraus, die ich kenne. Sohn, Meer, Bolore, alle. Wir alle am Meer. Ich war noch zu klein, als dass ich mich daran erinnern könnte. Aber es gibt ein Bild von irgendeinem Meer, von irgendeinem Strand.
Ich sitze auf fein gewebten Tüchern im Sand, ein großes Stück Melone in der Hand, deren Saft auf meinen nackten Bauch tropft, mit einem zahnlosen Lachen im Gesicht. Zari Gluch. Zari. Baum. Gluch. Kopf. Die Baumkrone. Ach, so ein Baum hat tiefe Wurzeln, mein Kind.
damit er sich das Wasser ziehen kann aus dieser staubigen Erde. Und ich stelle mir manchmal vor, wie ich dort oben auf einem Ast sitze, im Schatten der Baumkrone und mich ausruhe und ein Schläfchen halte in den grünen, saftigen Blättern. Ich sitze mit dem Kopfhörer in diesem Archiv und höre von der Stimme, die mir so vertraut ist,
als wäre es ein entfernter Verwandter, noch mehr Wörter und Zahlen. Mec, 1, Yergu, 2, Yerek, 3, Chors, 4. * Musik *
Ich nehme die Kopie des Bildes von 1914 aus meiner Tasche, die mir Sammy irgendwann geschickt hat. Ich sehe einen kleinen, wahrscheinlich vierjährigen Jungen, der mit dicken Backen ernst in die Weite blickt. Seine Hände umfassen, Gedanken verloren, die Seiten der Geige, die neben seinem geschnürten, abgewetzten Stiefelchen steht. Seltsam. Allein zwischen der vielköpfigen Familie.
Seine Fingerchen sind an den Seiten gespannt, als würde er einen Akkord spielen. Dieser Gegensatz fällt mir zum ersten Mal auf. Die angespannte Geste seiner Finger und das völlig entspannte Gesicht seines in die Ferne gehenden Blickes. Das Instrument muss ihm sehr vertraut gewesen sein. Und ich frage mich, warum er nie wieder eine Geige angefasst hat. Nie mehr danach. Wenn ich noch helfen kann? Ja, bitte. Wo liegt Halsberg?
Sie meinen das Kriegsgefangenenlager, in dem die Stimmaufnahme gemacht wurde? Ja. Bist du dir sicher? Ja. Jakob Darbinians, das steht so auf dem Personalbogen. Das ist der Name, der zu der Stimme passt. Keine Spur also. Keine Spur, die zu unserer Familie führt. Sag mal, Sammy, musst du diese Reise unbedingt machen? Warum denn nicht? Ich habe Angst, dass dir dort etwas passiert. Mir passiert dort nichts. Aber wenn du dort recherchierst für dein Buch, dann pass auf, wem du was sagst. Man landet dafür so etwas im Gefängnis.
Vor was hast du eigentlich Angst? Ich möchte nur eine Weile dort sein. Die Luft atmen. Sehen, was es dort gibt. Welches Obst dort wächst. Welches Gemüse. Wie die Landschaft aussieht. Wie es riecht und das alles. Damit der Ort wenigstens einen Geruch bekommt. Einen Geschmack. Eine Form. Wenn ein kleines Kind, das noch in der Wiege lag, nicht schlafen konnte, legte man ihm ein kleines Säckchen Friedhofs Erde unter das Kopfkissen. Es schlief ruhig ein. Das war die Vorstellung von der Mutter Erde, die beides zugleich bedingt.
Leben und Tod. Heute hat dieser Brauch keine Bedeutung mehr. Wir haben diesen Ort nicht mehr. An dem Anfang und Ende an ein und derselben Stelle aufeinandertreffen. Ich gehe in eine andere Bibliothek und finde in der vorderasiatischen Abteilung ein paar Regale zu Armenien. Ein Regal versammelt die Geschichte. Angefangen mit dem Mythos um den Stammvater Haik,
der den Riesen Bail bezwang und seine Landsleute in das Land Ararat in die Freiheit führte. Bis zu Mesrov Matjtots im 5. Jahrhundert, der das armenische Alphabet und damit die armenische Sprache wiederentdeckte und dokumentierte. Eine Sprache, mit der sich das Volk erfolgreich seine Identität durch zahlreiche Kriege bewahrte. Die 3000-jährige Geschichte und Kultur benötigt ein Regal. In den restlichen vier Regalen lauert der Völkermord.
Ich nehme das dickste Buch aus dem Regal. Dokumente aus dem politischen Archiv des Deutschen Auswärtigen Amtes von Wolfgang Gust. Hand, Haut, Mensch, Wasser, Mehl. Diese erzählten uns auch alle dieselben haarsträubenden Geschichten.
Die Männer, die noch lebendig eingefangen wurden, sie waren gar wenige, wurden gleich außerhalb der Stadt erschossen. Die Frauen wurden mit den Kindern nach den nächsten Dörfern gebracht, zu Hunderten in Häuser getan und verbrannt. Andere wurden in den Fluss geworfen. So viel es war, außer einer kleinen Anzahl Frauen, die die Kurden oder Türken für sich nahmen, ist im ganzen Muschgebiet fast alles, was armenisch heißt, vertilgt.
Musch hatte so an die 25.000 Armenier, 300 Dörfer, die überwiegend armenisch waren. Da wir nach drei Wochen von Musch abreisten, war alles abgebrannt. Auf dem Wege begegnete uns ein großer Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in guter Verfassung waren. Wir mussten lange halten, um sie vorüberzulassen, und nie werden wir den Anblick vergessen.
Einige wenige Männer, sonst nur Frauen und eine Menge Kinder. Viele davon mit hellem Haar und großen blauen Augen, die uns so todernst und mit so unbewusster Hochheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts. In lautloser Stille zogen sie dahin. Dies alles aber wurde übertroffen durch den furchtbaren Anblick der täglich wachsenden Schar verwaiste Kinder.
Am Rande der Zeltstadt hatte man ihnen eine Reihe von Löchern in die Erde gegraben, die mit alten Lappen bedeckt waren. Darunter saßen sie, Kopf an Kopf, Knaben und Mädchen in jedem Alter, verwahrlost, vertiert, verhungert, ohne Nahrung und Brot, den niedrigsten menschlichen Hilfe beraubt und vor der Nachtgelder schaudernd aneinander gedrängt. Ein kleines Stückchen glimmernde Holzasche in der erstarrten Hand haltend,
an dem sie vergeblich versuchten, sich zu wärmen. Einige weinten unaufhörlich. Ihr gelbes Haar hing ungeschnitten über die Stirn. Ihre Gesichter waren von Schmutz und Tränen verklebt. Andere lagen im Sturm. Ihre Kinderaugen waren unergründlich und von Leiden ausgegraben. Und obwohl sie stumm vor sich hinblickten, schienen sie doch den bittersten Vorwurf gegen die Welt im Antlitz zu tragen.
Unter den Weißen aus Bab fand ich einen kleinen vierjährigen Buben. Es war früh am Morgen. Ich fragte ihn, ob er etwas gegessen hatte. Da sah er mich mit großen Augen an und sagte, ich habe immerzu die Sterne angeguckt und da hat mich der liebe Gott ganz satt gemacht. Auf meine Frage, wo den Vater und Mutter seien, sagte er einfach, sie sind in der Wüste gestorben.
200 450 22 15.000 20.000 3 120 17 Das ne J, 17.
Semih erzählt mir am Telefon die Geschichte von der Hardenbergstraße Nummer 17. Am 15. März 1921 hat Sogumon Tehlirian am helllichten Tag und auf offener Straße Talat Pasha erschossen. Pasha galt als ehemaliger Innenminister der jungtürkischen Regierung, als Hauptverantwortlicher der armenischen Deportationen.
Und er sagt es nicht, aber ich kann es hören.
Von dem man sagt, er habe seine Familie bei den Deportationen verloren. Von dem man sagt, dass er alles gesehen hat.
und dass er das Glück hatte, ohnmächtig geworden zu sein. Von dem man sagt, dass er nach den Deportationen zurück in sein Heimatdorf gereist sei und in dem verlassenen Haus seiner Familie im Garten die vergrabenen Goldstücke an sich nahm und sich dann einer Untergrundorganisation angeschlossen habe. Von dem ein deutsches Gericht sagt, dass er unschuldig sei.
und ihn nach einem dreitägigen Prozess von der Anklage des Mordes an Talat Peser freisprach. An den Kanzler des Deutschen Reiches, Herrn Dr. von Bethmann-Hollweg. Nicht nur die Entente-Presse, auch die öffentliche Meinung in den neutralen Ländern sieht Deutschland als mitverantwortlich für die inneren Vorgänge in der Türkei an. Gewiss wird hierbei der Einfluss der deutschen Diplomatie auf die Pforte überschätzt,
Aber bestehend bleibt der Eindruck, dass Deutschland nach Ausschaltung der Entente-Mächte die einzige Macht am Bosporus war, die für die Verhinderung von Christen schlechter rein in Frage kam. Wir bitten daher, Euer Exzellenz, Berlin den 15. Oktober 1915 gezeichnet Dr. Johannes Lepsius sowie andere. Unser einziges Ziel ist die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten.
gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht, 17. Dezember 1915, gezeichnet Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg. Ich weiß jetzt, dass das Kriegsgefangenenlager in der Stadt Heilsberg lag, die heute Litzbark-Warminski heißt und als eine der schönsten Städte Ostpreußens galt. Ich weiß auch,
dass es nicht meines Urgroßvaters Stimme war, die ich gehört habe, sondern jemand, der Darbinians Jakob hieß. Ich weiß, dass er am 18. Dezember, kurz vor dem armenischen Neujahrsfest im Jahr 1893, in Nowobajaset geboren wurde, das heute Kamu heißt und am Sevansee in Armenien liegt.
Er war also bei der Aufnahme 25 Jahre alt, von Beruf Verkäufer. Vielleicht hatte er eine Frau und Kinder. Und ich weiß, dass er an einem wahrscheinlich heißen Tag im Juli 1918 im damaligen Heilsberg im Saal des Zentralhotels eine Platte mit einem Durchmesser von 30 Zentimeter besprach. Das ist alles. Nicht viel.
Aber mehr als von irgendjemand sonst. Hörst du die Zikaden? Wie laut die sind. Ich laufe um eine Kirche. Sie heißt Aracelots Kloster und besteht nur noch aus einem Haufen Steine und einem kleinen spitzen Turm. Es ist karg hier. Nichts als staubige Erde.
Vor mir ein hoher Berg, aber dahinter, dort war ich gestern, ein grünes Tal mit einem eiskalten Bach. Zypressen wachsen hier überall. Es riecht nach den stacheligen Büschen, das ist wie Rosmarin. Und der Himmel, das kann ich nicht beschreiben. Und die Nacht. Ich weiß immer noch nicht viel mehr, aber ich stelle mir vor, wie mein Großvater als fünfjähriges Kind in einem Versteck den Brand in Musch überlebte.
wie ihn eine türkische Familie, die wie viele ohnmächtig dem Treiben zuschauen musste, in den Ruinen fand und so schnell wie möglich aus diesem Land schleuste, was für ihn für immer verloren war. Nach Tabriz, wo er nicht in einem Waisenhaus aufwuchs, sondern auf der Straße, zuerst als Schuhputzer und dann als Schuster bei einem Meister in die Lehre ging und immer weiter fortlief, über Rom, Berlin,
bis ans andere Ende der Welt. Das Ende der deutschen Märchen habe ich immer irgendwie grausam gefunden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Die armenischen Märchen enden so. Drei Äpfel fallen vom Himmel. Ein Apfel für den, der die Geschichte erzählt. Ein Apfel für den, der der Geschichte zuhört. Und ein Apfel für den,
Der Stimme ihren Ort zurück. Von Simone Kucher. In weiteren Rollen. Und viele andere.
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks Köln 2015. Dramaturgie Isabel Platthaus.