Bitte beachtet, in diesem Hörspiel kommen verstörende Szenen vor, mit Gewalt gegen Menschen und Tiere. In gleichmäßigen, geschmeidigen Schritten überquert ein Fuchs das zugefrorene Flussbett, auf das nachts zuvor noch eine flockige Schicht Schnee gefallen ist. Den Kopf geduckt, die Nase dicht am Boden, trabt er über die weiße Eisplatte auf die mitten im Fluss liegende Insel zu.
Er erreicht die Insel, schlüpft unter die Flanken des Stegs und verschwindet. Auf einem efeu-umrangten Plastikstein stehend, blicke ich über eine trockene, vom Winter ausgebleichte Heidelandschaft und einen im schütternden Gras versinkenden Dinosaurierpark. Die umgekippten Saurier sind umgarnt vom immergrünen Efeu. Engmaschig umwickelt die Pratzen und Klauen des Tyrannosaurus Rex.
Weiter drüben eine Riesenechse mit Flügeln, die einzige, die noch aufrecht dasteht. Ihr Maul ewig weit aufgerissen. Ein tief ins Knochenmark gehendes Ächzen windet sich aus dem rostigen Riesenrad am nördlichen Rand des aufgelösten Freizeitparks. Auf den gefrorenen Pfaden allein das Profil meiner Bergschuhe. Alles ist noch verkrochen unter Dickicht und Gebüsch. Oder versunken in einem der laubgefüllten Betonkästen, die überall im Boden eingelassen sind.
Gekappte Stromkabel ragen wie beschnittene Stängel aus ihnen heraus. Zwischen den Zementtürmen am anderen Flussufer steigt ein orangefarbener Ball empor und wirft seine Strahlen durch das dürre Gras. Eiskalt geht die Sonne auf. In Sichtweite der Zaun und das Loch, durch das du gesprungen bist. Mit Tieren gehen von Maxi Obexer
Ich hatte das Handy am Ohr, hab irgendwann aufgesehen, sah nach dir, sah dein schwarzseidenes Fell, die vorgestreckten Vorderbeine, deinen blitzschnell eingezogenen Schwanz, sah dich springen, sah dich dann nie wieder. Ich telefonierte mit den Polizeistationen, hörte später in den Radiosendern die Durchsagen nach vermissten Tieren, hörte deinen Namen. Pirat. In den Gräben längs der Schnellstraße suchte ich nach einem Hundekörper. Verletzt.
Frierend, hoffend, tot. Die vermissten Meldungen legte ich in den Tankstellen und Tierarztpraxen aus, setzte das Entlaufen groß über eines meiner Lieblingsbilder. Weißer Kopf mit schwarzem Auge, wie die Augenklappe eines Seemanns. Dein Erkennungszeichen, dein Name Pirat. Die spitzen Ohren mit den weißen Berggipfeln im Hintergrund, inmitten einer blühenden Almwiese voller orange-gelber Arnika.
Darüber ein blauer Himmel. Mit einer Packung Reisnägel ausgerüstet, hämmerte ich das Bild an die Bäume, die meine Gänge säumten. Wer mich suchte, fand mich über das getackerte Hundeporträt. Es wurde zu meiner Spur auf der Suche nach dir. Die Kälber kamen im Frühjahr auf die Alm. Sie gehörten verschiedenen Höfen an und verteilten sich in fünf Gruppen über das Almgebiet bis hoch zum Gebirge. Eine Gruppe blieb hier in der Nähe der Hütte. Bei schlechtem Wetter zog es sie in den Wald.
Immer im Wald hielt sich eine andere Gruppe von Rindern auf, die streiften den ganzen Sommer durchs Waldgebiet. Eine andere graste weiter oben am See, eine besetzte den höchstgelegenen Almrücken, eine andere befand sich in einer Kehle gleich unterhalb der Berghälse. In den langen Sommerabenden gingen sie längere Wege. Sie trafen oft die anderen, vermischten sich, grasten zusammen und kehrten wieder in denselben Gruppen zu ihren Plätzen zurück. Morgens stieg ich auf und besuchte sie auf den entfernt voneinander liegenden Almwiesen.
Hier kamen sie mir entgegen. Ich verteilte ein paar Handvoll Salz auf den Steinen. Sie schleckten es auf, während sie mich musterten. An mir rochen. An meinem Körper entlang fuhren, mich in die Seite stupsten, ihre Schnauze in meine Hand gruben. Andere beäugten mich zuerst von weiter drüben, kamen langsam angetrabt. In der stillen, unaufdringlichen Körpersprache von Kälbern spielten sie mit mir, testeten mein Verhalten, fanden heraus, wer ich war.
Welches Gemüt ihnen da entgegenkam? Welche Stimme? Wie spreche ich sie an? Was sage ich ihnen? Bin ich ein Lauter oder eher ein Stiller? Wie klingen meine Wörter? Wie viel Zeit lasse ich uns? Wie bewege ich mich? Wer bin ich? Können sie mir trauen? Was können sie wagen? Bald konnte ich mich unter sie stellen, ihr hinteres Bein hochnehmen, nach ihren Klauen schauen. Sie ließen es zu, nahmen beim nächsten Mal ihr Bein freiwillig hoch, stellten es wieder ab und schwenkten davon.«
Wenn ich wieder davonging, warf ich ihnen einen letzten Blick zu. Okay, Mädels, genug des Austauschs. Sie gingen ihren Wegen nach, ich den meinen. In der stillen Gewissheit, dass wir uns am nächsten Tag wiedersehen. Bald war ich ein Teil von ihnen. Ich war ihr Hirte. Mit der Faust schlage ich auf den harten Grasboden ein. Der bleibt gefroren. Hier ist die Grenze. Sie ist banal. Sie ist erschlagend. Ich habe nicht deine Nase, um deine Witterung aufzunehmen.
Kann nicht wie einer roten Linie deinen Spuren folgen und direkt auf dich stoßen. Ich kann dich nicht anrufen, du kannst nicht rangehen. Meine Augen fühlen sich mit Tränen. Ich ahne, ahnte es immer, wohin es dich zog. Als du durch das Loch entwischt bist. Deiner Geschwindigkeit, deiner Lust, deinen Instinkten hinterher. Einem Tier nahmst die Fährte auf und fandst nicht mehr zurück. Oder wolltest nicht mehr. Warst angezogen, warst durchdrungen vom Geruch des Wilden.
Vom Wald, von der Alm. Ich weiß, wie tief die Schluchten hineinführen und wo überall hinauf. Kenne sie durch dich, den Hund an meiner Seite. Oberhalb der Waldgrenze die ausgestreckte Alm. Wie der riesige braune Fellrücken einer Kuh. Über ihr Rückgrat hinweg zieht sich wie silbernweiße Borsten der Gebirgskamm. An der anderen Seite des Grads die schattigen Schluchten des Nordhangs, die felsigen Böden im Wald.
Die abwegigen und verlassenen Geröllfelder. Ich drehe mich in alle Himmelsrichtungen. Dann breche ich auf, dir nach. Dorthin, wo unsere Fährte einmal begonnen hat. Unsere gemeinsame Zeit. Unsere Geschichte. Zuerst schaust du noch auf das gelbe Schildchen in ihren Ohren. Das ist die Gabi, das ist die Greta, die Sophie, die Toni, die Etiketten. Nach kurzer Zeit kennst du jede einzeln. Erkennst sie in ihrem Gang, kennst ihr Gesicht, ihre Augen und wie sie dich anschaut.
Jede anders. Gabi wollte sofort wissen, wer ich war. Sie kam direkt auf mich zu. Ihr Blick immer hellwach. Keine war so wetterfühlig wie Toni. Sie setzte sich in Bewegung, wenn die anderen noch gemütlich grasten und lange bevor auch ich den geringsten Hauch eines schärferen Windzugs vernahm. Ganz gemächlich ging sie los. Beschleunigte den Schritt, kehrte auf den Trampelsteig zurück und stieg ein in den Wald. Sie schaute nicht zurück, ob die anderen ihr folgten. Sie wusste, dass sie es taten. Ging voran?
blieb stehen, wartete, ging wieder los. Die Verträumteren Greta, Sophie, die immer einen Moment später begriffen, was los war, liefen unbesorgt hinterher. Du nimmst Kontakt auf mit denen, die sich zögerlich nähern, die zurückhaltender sind, zarter, vorsichtiger. Milla und Emil, die Zwillinge, standen immer am Rand. Sie wirkten verstockt, waren unsicher. Sie scheuten den Blick, sprangen zurück, wenn ich ihnen den Arm entgegenhielt.
und wollten doch, wie die anderen auch, in Verbindung mit mir treten. Sie liefen ein paar Schritte vor, blieben stehen, als stünde da jemand, der mit dem Stock drohte. Du erkennst an ihrem Verhalten, aus welchem Stall sie kommen, mit welchem Bauern sie zu tun haben. Es war unser Anfang, als wir zum ersten Mal zusammen losgingen. Seither gingen wir wie eingeübt, gingen zusammen, gingen nicht verloren. Mit dir fand ich in eine Welt, in die ich sonst nie Eingang gefunden hätte. Ich hätte mich nie so tief vorgewagt.
Hätte von der Existenz vieler Gegenden nicht einmal etwas gewusst. Und gehörte ihnen doch an, sobald ich in ihnen war. Die vielen Male, in denen wir in den Wald aufbrachen, die vielen Stunden des Gehens, des Aufsteigens, des Schnaufens und Schwitzens fingen unsere Körper an, aufeinander zu hören. Ich horchte dem, was dich aufhorchen ließ, schmiegte mich an das, was du wahrnahmst, folgte deinen Spuren, den unsichtbaren Pferden.
In den dicht bewaldeten Schluchten kamen wir den verborgenen Pfaden auf die Spur. Wer ihnen folgte, fand zu den Unterschlüpfen, fand in die Mulden, fand Schutz, fand irgendwo hin, findet wieder heraus. Wenn an mehreren Regentagen hintereinander der Boden abgespült und aufgeweicht war, blieben nur unsere Abdrücke sichtbar. Deine Pfoten und meine Schuhsohlen. Als gäbe es mit den Tieren nur noch uns.
Es wurde uns zur Gewohnheit, in eine Welt zu gelangen, die nur von den Tieren bevölkert ist. Am Grenzverlauf der Wildnis entlangzugehen, sie mit dir auszudehnen, sie mit dir zu durchdringen, mit deinem Körper als Schutz. Ein Tier zu sein, wie die anderen Tiere auch. Wir gingen denselben Weg und gingen doch auch verschiedenen Wegen nach. Anderen Spuren bewegten uns und entfernten uns in sicherer Nähe.
Du behieltest mich im Auge, so wie ich dich im Auge behielt. Du hattest Angst um mich, ich hatte Angst um dich. Aus einem Moment des Zusammenspiels von zwei Vertrauten konnte im nächsten Moment eine Begegnung von neuartigem Wesen werden, die einander fragend anschauten, die sich beschnüffelten, die nicht aufhörten, sich ein Rätsel zu sein, die deshalb auch nicht aufhörten, sich anzuschauen, die nicht aufhörten, sich zu bewundern für das,
Was der andere ist, für das, was der andere kann. Eine Ewigkeit konntest du vergehen lassen mit deinem Blick, der auf mir ruhte. Du studiertest mich, ohne je ein Ende einzuplanen. Was siehst du, wenn du mich ansiehst? Ein Tier oder einen Menschen? Kaum fragte ich, das merkte ich, wie seltsam diese Frage war. Ob du einen Menschen siehst oder ein Tier. Und doch war gerade in dem, was wie selbstverständlich zusammengehörte, kaum zu ermessen,
Aus wie vielen geglückten Momenten diese eine Geschichte entstanden ist, bis sie unumstößlich wurde. Eine Liaison zweier verschiedener Gattungen, die durch zahllose Abenteuer gingen, die sich durch zahllose Gefahren brachten, die hinterher in der Sonne lagen. Ich war mir der Besonderheit dieses Tieres neben mir in jeder Sekunde bewusst. Du gehörst zu den Tieren, genauso wie du zu uns Menschen, zu mir gehörst. Einen Moment später spürte ich deine Nase in meiner Hand schütteln.
Du warst wieder ganz hier. Aus dem Kopftuch schmunzelt uns ihr schmales, von der Sonne dunkel gegerbtes Gesicht entgegen. An den Nachmittagen im Sommer traf ich sie ganz oben am Kamm. Ich hockte mich auf einen Stein und wartete, bis ich Trese den Hang hochkommen sah. Von Weitem hatte mir ihr weißes Kopftuch angezeigt, dass sie unterwegs war.
Sie war der weiße Punkt, der sich zwischen den Heidelbeersträuchern hin und her bewegte und sich langsam den Hang hochklaubte, mit dem immer gleichen Lied, das sie vor sich hin summte. So saßen wir da. Über uns segelten die Dohlen, tauchten hinab, ließen sich vom Wind in die Höhe tragen, weit über den Kamm hinweg.
Sie überflogen die Felsspitzen, saßen auf ihren Kanten, wo sie sich vom aufkommenden Wind das Gefieder durchlüften ließen und tauchten dann wieder hinab in die Tiefe. Du hast mich in die Seite gestupst. Du wolltest zurück. Ich hatte die Zeit vergessen. Die Luft war mit einem Mal schärfer geworden. Eine Windbürste schliff die Felskante hoch, schob mit Wucht in unsere Rücken. Binnen Sekunden füllte sich der Gebirgskessel mit Nebelschwaben.
Die schwarzen Felsbrocken wurden von weißen Wolken umwickelt, bis wir mit ihnen in der Nebeldecke versanken. Du ducktest deinen Kopf zu Boden, übernahmst, nahmst die Fährte auf, navigiertest uns durch das steinige Nebelmeer, in das die Dunkelheit einzog. Der Nebel erkraute. Wie eine Blinde folgte ich dir, deiner Nase, deinem Körper, der nach links und rechts ausschwenkte, einer klaren Linie folgend.
Stunde um Stunde schlüpften wir so durch den dichten, dunklen Nebel. Wir kletterten über eine Leiter in eine Scheune, warfen uns aufs Heu und bauten uns eine Grube. Durch die Balkenritzen im Dach sah ich das Funkeln einzelner Sterne. Ich schlief ein. Hast du gebellt oder hab ich das geträumt? Wir sahen einander an. Hast du es auch gehört, dein Bellen in meinem Kopf? Dann hast du dich eingerollt und weiter geschlafen. Ich legte meine Hand auf deinen warmen Bauch.
Dein Herz pochte in ruhigen Schlägen an meinem Puls. Wir waren zu zweit, also nie verloren. "Gleib", habe ich geflüstert, als er aus dem Bett stieg und sich die Hose über das ausgestreckte Bein zog. Da war er aber schon weit weg. Als er sich die Wollmütze über den Kopf zog, war es vielleicht schon ein Sturmhelm in seinen Augen und schon die Schlacht wie in einem Rundgemälde. Im Flur verpasste er der Katze einen leichten Stoß, die sprang verwundert zurück
so kannte sie ihn nicht, tätschelte dem Hund hart auf den Kopf, härter als sonst, und murmelte, für euch tu ich's, zur Verteidigung. Warf mir einen letzten Blick zurück, der war schon stahlgehärtet und sagte, für dich gehe ich zum Schutz. Ich schmunzelte, wie er mich eben kannte. Er nicht, schmunzelte nicht zurück, wie ich ihn eben noch gekannt hatte. Stand stramm, schlug die Hacken zusammen und sagte,
Ich folge. An der hölzernen Außentreppe hockten wir, die Katze auf dem Balkongeländer, der Hund unten am Treppenabsatz und sahen ihm nach, wie er übers Feld marschierte. Wir, die Katze, der Hund und ich gingen in den Stall zu den Kühen. Etwas wollte mir nicht in den Sinn, als ich meine Stirn gegen das warme Euter der Kuh drückte. Das Sturmgeläut war doch ein Ruf aus dem Totenreich.
Ich gehe und gehe und gehe und gehe. Folge den Pfaden, die nicht verraten, wohin sie führen. Sie führen tiefer ins Gehölz. Tiefer hinein, irgendwo hin hinein. Kein Ziel als klares Ende. Das Gehen wird zum Atmen. Von dir keine Spur. Mein Herz pocht unruhig, orientierungslos. Pocht gegen mich an, als wollte es hier raus.
Mein Körper taumelt, als suchte er nach Anschluss. Meinem Körper fehlt der Hund an seiner Seite. Dem Knie die sichere Berührung, dem Ohr dein Hecheln. Die Finger tasten nach dem nassen Fell ins Leere. Ich will in deinen Schulterblättern wühlen, um mir Mutsu zu sprechen. Die Stimme will dich rufen. Pirat! Pirat! Pirat! Du fehlst. Fehlst. Mein Körper trägt mich höher und höher.
Auf knapp 2000 Metern liegt eine Höhle dort in Willich. An den Wänden die von Menschenhand gezeichneten Umrisse von Tieren, von Bären, Wölfen, Steinböcken. Die Umrisse der Abwesenden. Im Sprung seit tausenden von Jahren. Ich greife zwischen die Fahnen, die von der Felswand herunterhängen, schiebe die Wurzeln zur Seite. Doch wohin ich greife, ich greife auf einen nassen, kalten Stein. Finde den Eingang nicht. Ich streiche an der Felswand entlang.
Taste mich über die dunklen, triefenden Flechten, lehne meine Stirn dagegen, trinke den modrigen Geruch. Der Fels ist verschlossen. Vor mir ein Meer aus weißen Hügeln und Wiesen ohne Rand. Die Gipfel, die das Almgebiet begrenzen, sind vom Weiß verschluckt. Unter dem Schnee ein harter, gefrorener Boden, kantige Steine und rutschige Gesteinsplatten. Die Erde ist versiegelt.
Letzte dünne Schneeflocken fallen in den Nebel, der alles auflöst. Kein Rand, kein Punkt, nur Nebel. Ich weiß nicht, wo ich bin, wohin ich gehe und was ich war. Schrie ich, während ich den Kühen folgte auf die Alm und vom Kamm hinunterschaute zu den Gotteseckern.
Hier liegen sie, die im ersten Weltkrieg unter den Steinen herausgezogen wurden, aus den Furchen und aus den Steinhöhlen, von irgendwo hergezogen und eingezogen, um hier oben Krieg zu führen, wo kein Mensch überlebt. Begraben zu sein, wo niemals jemand vorbeikommen wird, der sie gekannt hat. "Bleib!", rief ich ihm zu, als ich mit den Kühen an den eisernen Gräbern vorbeizog.
Während sie wiederkäuten, las ich die Namen ungarischer, rumänischer, slawischer junger Männer, die alle nicht älter waren als 25. Hier und da war ein Geburtsdatum dabei. Das Sterbedatum war für alle dasselbe. Mit Granaten hatten sie die Eingänge zugebombt. Die Mulis, die Esel, die Pferde, die sich die Serpentinen hochschleppten mit dem Proviant, weggebombt, die einen in Fetzen zerhauen
Die anderen verhungert. Was alle erzählen, sie fanden sie bei den Tieren wieder. Die Männer sind in ihrer Not zu den Tieren gekrochen. Ich habe mir immer gewünscht, dass er bei einem Tier einschlafen konnte. Irgendwo, wo auch immer. Von Weitem ein dumpfes Trampeln eines schweren Tieres. Es muss von riesengroßer Gestalt sein. Weit schwerer als ein Esel. Schwerer auch als ein Pferd, ein Flügelross.
Oder ein Nashorn. Kleiner als ein Dinosaurier. Wahrscheinlich ein Einhorn. In meine haltlos gewordene Vorstellungswelt wandern jetzt die Tiere ein und aus. Sie kommen von überall her, aus allen Zeiten. Fabeltiere aus frühester Kindheit? Wesen aus archaischen Räumen, aus den Vorzeiten der menschlichen Fantasie. Sie sind jetzt alle gleichermaßen möglich und real. Ich bin im Unbekannten draußen.
Ein großes weißes Einhorn schreitet langsam im grauen Nebel auf mich zu. Ich reiße die Arme auseinander, grätsche die Beine. Ich bin waffenlos. Meine Beine zittern, mein Herz schwer vor Angst. Als hätte jedes einzelne Bein eine Tonne Gewicht zu tragen, kommt die Gestalt auf mich zu. Ich spüre, wie nah sie ist.
Spüre ihren Körper, ihre Wärme, den dampfenden Atem dicht vor meiner Brust. Ich stehe still, halte den Atem an. Ich höre nichts mehr. Dann ein Auftreten im Schnee, ein Trampeln. Die Gestalt scheint sich zu entfernen. Ich höre ihren schweren, regelmäßigen Tritten nach, bis ich nichts mehr höre. Es ist weg, als wäre es nie dagewesen. Warte. Hey, nimm mich mit! Warte! Nimm mich mit! Warte!
Ich sacke zusammen, schluchze auf. Von der Schnee- und Nebellandschaft kehre ich zurück auf die untere Berge ein, zurück auf den breiten Weg, der ins Dorf geht. Ein junger Bauer kommt auf mich zu, voll geschwitzt und rot im Gesicht. Hast du meinen Kalb gesehen? Nein, ich habe keinen Kalb gesehen. Es war nicht mal gelogen. Er zweigt ab in den Waldweg, der steil bergauf führt. Ich bin also nicht die Einzige auf der Suche nach einem verlorenen Tier.
Und schlüssig stehe ich auf dem breiten Forstweg, der hinunter ins Dorf führt. Dann gehe ich ihm nach. Er hockt in einer mosigen Kehle am Bach, der tief in die sumpfige Wiese eingelassen ist und hält sein Handy über das spodelnde Wasser. Mit dem gehe ich ins Bett. Er schaut zu mir hoch. Nachts im Dunkeln höre ich ihm zu. Und er schmunzelt. Seinen Plätschern, seinen Geschichten. Der Kreuzbach verläuft quer über das gesamte Almgebiet. Er ist schmal, kaum einen halben Meter breit.
und ein, zwei Meter tief eingelassen in den Boden, teilweise von Gras überwachsen und oft nicht zu sehen. Aber zu hören. Kieselsteine, Felsen, kleine Wasserstürze. Alles, was wir nicht zu sehen bekommen, erzählt er. Dann schuldet er den Rucksack. Von allen Bächen auf der Erde würde ich ihn sofort wiedererkennen. Ich gehe ihm hinterher. Seine Alm liegt leer und verlassen da. Noch frische, erdige Trampelpfade kreuzen die steile Wiese.
In den schwarzen Löchern der Hufabdrücke hat sich Wasser angesammelt vom überlaufenden Wassertrog, einem ausgehobelten Baumstamm, der von allen Seiten angeknabbert ist. Alles zeugt von den Kälbern, von ihrer Abwesenheit. Das Quellwasser verläuft sich im schütternden Gras. Mitten im Hang steht die kleine, etwas eingesunkene Almhütte. Daneben ein offener, leerer Stahl. Siggi war ihr Hirte. Jackie, mein kleines Stierkälbchen.
Das jüngste von allen. Das einzige Graue in der Gruppe unter lauter Braunen. Ein wenig verloren und auch sehr anhänglich. Wenn ich am Vormittag auf den Alm-Boden ging, lief es mir von weitem entgegen und kam dann mit mir zu den anderen. Wenn ich weiterging, lief es mit. Ich musste es zurückscheuchen, obwohl es schön war, es neben mir zu wissen. So ging das jeden Tag. Ich scheuchte es zurück, es lief mir nach. Ich scheuchte es wieder zurück, wieder lief es mir nach. Dann nahm ich einen Stock.
Ich drohte. Unbeeindruckt lief es mir nach. Dann schlug ich es. Ich trieb es den Weg zurück und schlug es, bis es vor mir wegsprang. Ich drehte mich um und lief davon, entfernte mich laufend, bis ich einen Blick zurück wagte. Es blieb zurück, war stehen geblieben, stand reglos an Ort und Stelle. Ich tauchte ein in den Wald und verschwand. Verschwand wie ein Dieb. Wenn ich in den Tagen darauf auf die Alm hochkam, sah ich Jackie nicht. Wenn ich es dann sah, ging es davon.
Ich hatte etwas getan, was ständig getan wird. Ich hatte einen Stock genommen und zugeschlagen. Auf ein Tier. Auf Jackie. Es war mir ans Herz gewachsen und ich schlug darauf ein. Es hat Wochen gedauert, bis es mich wieder ansah und langsam wieder näher kam. Ich ging vor Dankbarkeit in die Knie. In der Hütte knistert das Feuer und der Kaffee röchelt durch den Espresso-Kocher. Zucker? Als ich jung war, verdiente ich mir das Geld durchs Entfernen der Hörner bei den Rindern. Sie werden abgesägt.
Ich tat es und ich empfand nichts dabei. Kein Gedanken an ihren Schmerz. Bis mich plötzlich der Blick eines Kalbs erwischte. Etwas sprang auf mich über, während das Blut aus den Hörnern floss und ich den Blutlauf mit einem in der Glut erhitzten Brandeisen stoppen sollte. Ich drückte das glutheiße Eisen auf die blutende Wunde und plötzlich war es, als wäre es meine eigene Wunde. Es tat weh. Ich vergaß es nicht. Ich suchte mir Hilfe in den Büchern.
Die Psychologen nennen es den Perspektivwechsel. Den Wechsel ins Sichtfeld des Gegenübers. In anderen Büchern las ich, wie sehr die Hörner zu ihnen gehören. Vom Horn bis zum Schwanz gibt es eine Linie, die fürs Gleichgewicht zuständig ist. Sie tarieren den Abstand zueinander aus. Sie regulieren das soziale Verhalten. Als hätte sich ein Vorhang geöffnet für mich. Dabei war es nur ein kleiner Schritt zu denen, mit denen ich mein tägliches Leben verbrachte. Für meinen Vater galt ich von da an als verrückt.
Oder verloren. Er überschrieb den Hof meinem Bruder. Der übernahm. Mir, dem Träumer, überließ er die Alm. Drei Monate mit den Tieren. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger als das. Es ist eigentlich jetzt die Zeit, das Bündel zu packen und ins Dorf zu ziehen. Die Kräuter für den Tee sind gesammelt. Die Schafgarbe, der Thymian, die Ernika in Schnaps eingelegt. Die Steinpilze in den Gläsern stehen aufgereiht im Regal.
Die Murmeltiere wackeln wie kleine Fettpolster zu ihren Bauten. Bald werden sie sich verkriechen. Jedes Jahr bin ich um diese Zeit ins Dorf zurück. Diesmal habe ich gesagt, bleibe ich. Mich zieht's nicht mehr runter. Sie sollen mich auf der Alm lassen, habe ich ihnen gesagt. Der Herd ist warm genug. Holz habe ich den ganzen Sommer über zusammengetan. Ich komme aus. Die eine Kuh sollen sie mir lassen und die Hühner, die gehören mir eh.
Als ich das letzte Mal unten war und aufs Feld ging, schoss ein Strahl Jauche über meinen Kopf hinweg, über drei Felder hinweg. Ich kroch mich in die Wegböschung hinein. Als ich wieder aufstand, glänzten die Felder schwarz wie beim Weltuntergang. Ich werde hier krank, habe ich gesagt. Ich will auf die Alm und da bleibe ich. Wir machen uns etwas vor.
Wir machen uns die ganze Zeit etwas vor, wenn wir so tun, als seien es einfach nur Tiere. Wir wissen es. Die Tiere sind manchmal die einzigen, die uns daran erinnern, dass sie mit uns in einer Beziehung stehen. Wir sind keine Fremden. Sie nehmen uns wahr. Sie kennen uns seit langer Zeit, seit sie eine gemeinsame Behausung mit uns teilen. Seit Jahrtausenden von Jahren lassen sie sich auf uns ein. Sie wissen, wie tief die Verbindungen zwischen uns sind und sie machen sich jedes Mal neu mit uns vertraut. Tasten ab.
was jeweils möglich ist mit den Menschen, die sie gerade vorfinden. Sie müssen immer mit allem rechnen. Vielleicht besitzen Kühe und Kälber ein schier unerschöpfliches Maß, Dinge zu ertragen, die manchmal unerträglich sind. Sie hören dennoch nicht auf, sanftmütig zu sein. Eine Fähigkeit, die vielleicht unsere Vorstellungskraft übersteigt. Als es Herbst wurde, freuten sie sich aufs Runtergehen. Nach einem Sommer auf der Alm wird ihnen irgendwann langweilig. Es zieht sie in die warme Behausung. Die Tage werden kürzer,
Die Nacht bricht schnell ein. Der Morgennebel kriecht die Almwiesen hoch und will nicht aufsteigen. Sie stehen vereinzelt herum, ziehen die dürren, abgestorbenen Grasbüschel aus dem Boden. Sie wissen auf den Tag genau, wann es Zeit ist zum Abzug. Auf den Tag! Sie wollen runter. Es sollte eigentlich ein großer Tag werden. Ihr Tag. Der Almabtrieb. Am Waldausgang warteten hunderte von Menschen auf sie. Städter, Dörfler, Touristen.
Die Kälber spielten gut aufgelegt mit den Hühnern, schoben mit ihrer Schnauze ihre buschigen Hintern an, freuten sich aufs Runtergehen. Um sieben Uhr wühlte sich ein Van die Forststraße bis zur Almhütte hoch. Manche Kälber gingen den Männern entgegen, die aus dem Van stiegen, darunter mein Vater und mein Bruder. Ganz neugierig schwenkten sie zu ihnen. Gabi natürlich voran. Andere tauchten aus der nebligen Almwiese auf, kamen heruntergestapft, schnupperten in die Luft, in den Dunstkreis der Männer.
Dann ging alles ganz schnell. Die Tiere wurden einzeln zum Stall getrieben. Einer umklammerte den Hals von Gabi und nahm ihr die Glocke ab. Sie wurde über die Schwelle buxiert und in den kleinen Stall geschoben. Gezwungen. Gestoßen.
Toni kam als Nächste. Man griff ihr mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenlöcher, riss ihr den Hals hoch, griff sich den Schwanz, drehte ihn ein und drückte ihn gegen ihren Schenkel. Sophie wurde ins Schienbein gestoßen. Greta, die eigentlich nur herausfinden wollte, wie sie sich verhalten sollte, bekam den Stock auf den Rücken und das Knie in die Flanke. Ich war selber baff. Ich verstand nicht, warum sie die Kälber Huren, Luder, Schweine nannten. Er sieht mich lange an, kneift die Augen zusammen, als seien wir von jetzt an Komplizen.
Dieser plötzliche Umschlag in die Gewalt. Er wird mir immer ein Rätsel bleiben. Er dreht sich eine Zigarette, zündet sie an, sieht dem Rauch hinterher. Horcht kurz auf beim Schrei eines Eichelheers. Schaut zu Boden. Im Stall wurden den Tieren die großen Glocken umgehängt. Mit den schweren Teilen behängt torkelten sie aus dem Stall. Die neuen Klänge um ihren Hals ließen sie vor sich selbst zusammenzucken. Sie waren unter Schock. Gabi bewegte sich gar nicht mehr. Stand wie zu Eis gefroren da.
Jackie büxte aus, sprang über den Mauersims, riss ein paar Steine heraus, rannte auf den feuchten, schlüpfrigen Bretterboden, sprengte die drei Hühner auseinander, die sich ebenfalls auf die Veranda geflüchtet hatten. Über Mila und Emil musste ich staunen. Die waren an der obersten Almwiese geblieben, als das Auto zu hören war, und schlichen sich langsam davon Richtung Wald. Als alle anderen zusammengetrieben waren, sah ich, wie Mila gerade durch die Baumreihen schlüpfen wollte, als ein Bauer sie noch entdeckte und losrannte.
Fluchend trieb er sie herunter. Innerhalb von Minuten herrschte eine völlig veränderte Stimmung. Es war plötzlich ernst und beschwert. Flüsternd sagte ich zu meinem Bruder, dass es eigentlich umgängliche Tiere seien. Umgänglich, solange du ihnen nichts tust, sagte er lachend in einer Kälte, die ich nicht von ihm kannte. Welches Wesen bleibt umgänglich, wenn es gestoßen wird, fragte ich zurück. Da war er schon weg. Sigi wirft mir einen kurzen Blick zu.
Schaut dann auf seine Bergschuhe. Mit den Köpfen auf den Boden geneigt, beschwert von den riesigen Glocken an ihren Hälsen, suchten sie die Nähe zueinander. Sie stellten sich so zusammen, dass sich ihre Leiber berührten. Sie strichen mit ihren Ohren am Hals der anderen entlang, schnauften sich ins Ohr. Greta fuhr mit ihrer Stirn unter den Hals von Gabi und hob ihn hoch. Toni rieb ihre Kruppe an ihrem Oberschenkel, bis sie langsam aus ihrer Schockstarre herausfand und sich wieder bewegte.
Sie hörten nicht auf, sanftmütig zu sein. Wie von Schwere erfasst, trabten sie unter dem lauten Knallen der Geißeln von der Alm über die Forststraße zum Waldausgang. Auf die Dorfwiese, wo die Touristenbusse, die Bierzelte, die Lautsprecher boxen und eine Hüpfburg auf sie warteten und aufgeblasene Riesenkühe über dem Boden schwebten. Es hätte eigentlich ihr Tag sein sollen. Und wieder dieser Blick auf den Boden. Plötzlich verstehe ich ihn.
Es ist Schuld, die auf seinen Schultern lastet. Schuld, dass er sie nicht schützte, wo er den ganzen Sommer lang ihr Hirte war. Schuld, dass er auf ihrer Seite stand und mit ihnen litt, ohne sie zu retten. Und er jetzt allein ist, da sie weg sind. Allein mit seiner Schuld. Es wirkte wie eingeübt und dennoch war es Gewalt. Und das nicht erst von ihnen. Als hätten ihre Väter und Großväter schon dieselben Übungen vollzogen. Als wäre es ein Handwerk. Als wäre die Gewalt ein vererbtes Handwerk. Glaubst du an die Reinkarnation?
An die was? An die Wiedergeburt. Reinkarnation. In meinen Augen wäre das das einzig Sinnvolle. Stell dir vor, wir wüssten, dass wir als Ameise, als Vogel, als Reh, als Steinbock, als Wolf, als Maulwurf auf die Erde zurückkämen. Oder als Kalb. Was ist eigentlich mit dem Kalb? War das gelogen? Als du sagtest, du suchst nach einem Kalb. Steht drüben im Stall und schaut zur Tür heraus. Ich schaue rüber zum Stall, der offen steht und ich weiß auch so, dass da kein Kalb drin steht. Lucy?
wird im nächsten Jahr wieder hier sein, wenn der Sommer beginnt. Er sagt es, als wäre ein Schleier über sein Gesicht gefallen. Was ist passiert? Sie wird hier bleiben, wenn es Winter wird, wenn der Schnee kommt und die Welt hier oben ganz für sich ist. Bist du deshalb noch einmal hoch? Frage ich flüstern. Es ist dir verloren gegangen. Ich bin durch die Geröllfelder, über die sumpfigen Böden, hab hinter jeden großen Steinbrocken geschaut, in jede Sumpfgrube, hab den unteren Seeboden durchsucht.
Bin ans Seeufer, die Mücken folgten meinem Schweiß. Ich starrte in den See, fragte ins Wasser, in seine Stille. »Sag mir, wo du bist, Lucy. Sag's mir!« Starre aufs Wasser, bis ich mich auflöste, bis ich irgendwann nichts mehr hörte, außer den Mücken, den Libellen, dem Schwänzeln der Bergmäuche und tiefer die Algen, die Seeschnecken. Ich glaube, ich hörte auch sie. »Wir ziehen durch den Wald, verlassen den weichen Waldboden.«
Immer unwegsamer wird das Gehen. Unter den hohen Moospolstern und dem Heidekraut verbergen sich kantige Steinblöcke, in die ich immer wieder einknicke. Sie ging verloren bei einem nächtlichen Gewitter. Die Weiden waren wie abgespült von dem Regen. Die Tiere hatten sich in den Wald geflüchtet. Dort standen sie, einzeln unter den Bäumen. Lucy fehlte. Sie fehlte jeden weiteren Tag, jede weitere Nacht. Ich bin bei Vollmond in den Wald, stand da, einfach so, ratlos und starr.
Plötzlich hält er inne. Er hebt den Arm und zeigt auf eine Stelle, an der ich nur die Spitzen von Granitsteinen, Alpenrosen und Moos erkenne. Nach acht Tagen fand ich sie. Lucy befindet sich keinen Kilometer weit von der Hütte. Ich nähere mich ein paar Schritte, schaue genauer hin. Erst dann erkenne ich unter Nadelzweigen die braune Fellhaut eines Kalbs. Versunken zwischen den Steinen am Stamm meiner Kiefer. Der Kopf wie aufgelehnt auf dem Moos und...
im Gezweig der Alpenrosen etwas verdreht und mit dem Riemen der Glocke verhängt. Zuerst denke ich, der Mund sei geöffnet, aber es war die von den Tieren schon herausgeholte Zunge. Der restliche Körper versank in dem Loch, in das es eingebrochen war und nicht mehr herausgefunden hatte. Früher waren es die Felder, die bestimmten, wie viele Tiere die Bauern halten konnten. Heute wird das Futter dazugekauft. Zehnmal so viele Tiere stehen in den Ställen.
Die einen für die Fleisch, die anderen zur Milchproduktion. Alle müssen produzieren, die Felder müssen produzieren, die Tiere müssen produzieren, die Menschen wie die Maschinen. Dazwischen ist an kein Leben gedacht. Kaum mehr ein Tier unter freiem Himmel, nur noch Maschinen. Und wo die Maschinen nicht hinkommen, in die steilen Böschungen, wo einst Ziegen das Land kultivierten, ist jetzt buschiges Dickicht.
Es ist kein Durchkommen mehr, weder für Tier noch Mensch. Alles wächst übereinander her. Wir begleiten Trese zu ihrer Hütte. Im Herd krachen die Holzscheite. Das Licht des Feuers tänzelt auf dem Gesicht von Trese. Ihre hageren, langen Beine übereinander geschlagen, sitzt sie neben dem Herd. Nein, ich errette die Welt nicht mehr. Ich bin alt.
Die Jungen, die das auch nicht mit ansehen können, die ziehen weg. Die lassen die Tiere im Stich, mit denen sie aufgewachsen sind. Sie überlassen sie denen, die sie zum Weggehen zwingen. Überlassen sie ihnen, die zu allem bereit sind, schon immer zu allem bereit waren. Sie wissen das. Und ich kann ihnen ansehen, dass es ihnen schwerfällt, sie zurückzulassen.
Sie sind mit ihnen aufgewachsen, mit den Tieren. Das gehört zu ihnen, das bleibt ihnen. Sie wissen, dass die Tiere, mit denen sie gemeinsam aufwuchsen, das Kostbarste sind, was sie jemals hatten. Sie wissen, wie besonders es ist, mit Tieren aufwachsen zu können. Sie tun ihnen leid und sie tun sich selbst leid und sie verkriechen sich in den Büchern.
Meine Großnächte, die mich besuchen kommt, schreibt ihre Doktorarbeit über die Frage, mit wem Nietzsche Mitleid hatte, als er auf dem Marktplatz in Turin ein zerschundenes Pferd umarmte und bitterlich weinte. Mit wem hatte Nietzsche Mitleid, als er das zerschundene Pferd umarmte? Er hatte Mitleid mit dem Pferd, er hatte Mitleid mit sich, er hatte Mitleid mit den Tieren und mit den Menschen. Und tröstete sich beim Pferd. Und vielleicht fand das Pferd auch ein wenig Trost bei ihm.
Als ob wir Menschen nicht immer schon bei den Tieren Zuflucht gesucht hätten. Sie sah mich groß an. Ich erkannte das Kind wieder, das zum ersten Mal einen jungen Hundewelpen in den Arm gelegt bekommt. Du bist doch auch zu den Tieren. Hast dich beim Anblick der jungen Katzen trösten lassen. Hast du das vergessen? Vielleicht schreibst du das auch in deine Doktorarbeit. Dass nicht erst Nietzsche, dass auch wir anderen zu den Tieren gingen, um uns zu trösten. Immer schon.
Vielleicht hilft das ja. Wir sorgen uns doch alle, graben uns in das Fell eines Tieres, finden Trost, finden die Liebe. Sind sie doch oft die einzigen, die sie annehmen, annehmen können, unsere Liebe. Er kam dafür in die Nervenheilanstalt der Nietzsche, hat sie mir erzählt. Es ist spät geworden. Wir sollten aufbrechen. Wir zögern. Es fehlt uns der Grund, aufzubrechen und abzusteigen.
Wir treten vor die Tür, frösteln, schauen dem Schwall der Wärme nach, die aus der Hütte strömt. Sie gewühlt mit der Spitze seines Bergschuhs im feuchten Boden. Mit einer Taschenlampe leuchtet Tresa uns den Weg zum Schuppen. Sie bückt sich unter die Leiter, wo sich die Luke zum Hühnerstall befindet und schließt sie. Einmal ließ ich die Luke zu früh herunter, nicht ahnend, dass eine Henne noch draußen war. Ihr Gackern riss mich aus dem Schlaf. Ein Flattern, ein aufgeregtes, verzweifeltes Gackern und dann...
Ich kam kaum aus dem Bett. Der Biss in den Hals. Mitten in ihren Schrei hinein. Einen letzten, langgezogenen Schrei, den er aus ihr presste, bis es zu Ende war. Bis nichts mehr zu hören war. Barfuß im Nachtkleid stand ich in der Hütte. Im Morgengrauen fand ich ihre weißen Federn am Waldrand. Trese drückt uns die Taschenlampe in die Hand, mit der wir in den Heuschuppen finden. Wir wühlen uns ins Heu. Mit offenen Augen liege ich da.
Ich höre einen Hund bellen. Ich horche auf. Sigi, hast du das auch gehört? Sein Kopf rührt sich unmerklich im Heu. Oder habe ich das geträumt? Pirat? Über uns die Dunkelheit des Himmels. Durch eine Ritze im Gebälk sehe ich einen Stern glitzern. Wem ist mein Hund nach, als er durchs Zaunloch sprang und der Welt jenseits unserer menschlichen Eingrenzung den Rücken kehrte? Wem gilt sein Jaulen? Ich sehe ihn auf dem Grat stehen, jaulend.
Wem gilt sein Jaulen? Wenn nicht den Tieren. Und einer Welt, in die er mich mitgenommen hat. Mit meiner Sehnsucht danach, in ihr zu sein, in ihr zu verwildern, darin verloren zu gehen. So lange, bis er uns wieder zurückbrachte. In unsere. Bis es wieder zurückging in die sichere Behausung. Wem gilt sein Jaulen, wenn nicht auch dir? Diesem menschlichen Tier an seiner Seite. Dem Menschen, mit dem er seit jeher gemeinsame Sache macht. Pirat.
Ich flüstere es in den nachttrocknen, heurigenden Schuppen. Ich lausche den Tieren im angrenzenden Wald, dem tief durch die Bäume ziehenden Rufen eines Uhus, dem Knispern der Eichhörnchen. Ich spüre sie, die um uns sind, den lauernden Fuchs, den um die Hütte schleichenden Marder, sehe das aufrecht stehende Hermelin im Geäst. Unter uns im Stall das einzelne in Federn gehüllte Gackern der Hühner,
Eine Luke nur trennt sie von ihren Jägern. Von der Hütte dringt das Schnarchen von Trese zu uns herüber, gut eingebettet. Ich sehe Pirat über die Heuwiese laufen, mir entgegen. Wem gilt sein Bellen, wenn nicht auch mir? Es ist kein Traum. Mit Tieren gehen von Maxi Obexer. Mit Henriette Fridoline Schmidt als Maxi, Daniel Christensen als Siggi und Eleonore Weisgerber als Trese.
Technische Realisation Matthias Fischenich und Anna Wolf Field Recordings Pablo Disserand Musik Maren Ruhls Regieassistenz Lin Sacha Regie Gerrit Boms Dramaturgie Felicitas Arnold Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2023