We do not remember. We rewrite memory much as history is rewritten. Chris Marquer Ich wandere durch Brandenburg, suche die Landschaft ab nach einem Schlafplatz. Fast 40 Kilometer liegen hinter mir. Am Wegrand liegen gefällte Baumstämme, Kiefer, Stammholz. Ich bin müde, setze mich für einen Moment auf einen Baumstamm.
Satellitenbilder deiner Kindheit von Leon Engler Regie Jörg Schlüter und Leon Engler Traue keinem Gedanken, der nicht im Gehen, der nicht im Freien geboren ist. Normalerweise sitze ich zu viel, beiß mich mit den Zähnen am Schreibtisch fest, diesem Bollwerk gegen das Leben. Die Eingeweide füllen sich mit Vorurteilen, der Kopf mit Gedanken, denen ich nicht trauen sollte. Nur ein Gedanke erscheint vertrauenswürdig, alles zurücklassen.
Einfach losgehen, weiter, immer weiter, bis die Füße aussehen wie Mondfauna, nur geradeaus. Wie eine dumme Mechanik dorthin, wo erst man selbst und schließlich die Wege nachdenklicher werden. Alle Ambitionen siebenfach begraben, in Verrufenheit geraten, beginnen milde zu stinken, ein Rembo hinlegen, zu aller Welt sagen, ich glaube es ist besser, wenn ich jetzt gehe. Ein paar Tage später sitze ich wieder am Schreibtisch, starre auf einen Bildschirm und schreibe. Ich schreibe,
Das Gehen habe ich von dir gelernt. Das Davonlaufen auch. Requiem für eine Kiefer. Die Kiefer ist ein immergrüner Nadelbaum, der vom Polarkreis bis zu den Steppen vorkommt. Sie wird bis zu 1000 Jahre alt und 50 Meter hoch. Erinnere dich an die Stimme deines Vaters. Was hörst du? Einzelne Klänge oder ganze Sätze? Ist sie streng?
Oder liebevoll. Wer begegnet dir? In der Erinnerung. Was wirkt stärker? Die An- oder die Abwesenheit? Das Gedächtnis lebt. Ich mache eine mentale Zeitreise. In Gedanken schreite ich Erinnerungsräume ab. Gehe zurück in der Zeit. Durchwandere die Welt der inneren Objekte. Ich gehe zu dir! Ich sitze wieder in Brandenburg. Sitze auf dem Baumstamm. Als es aufhört zu regnen, beginnt es zu dämmern. Die Landschaft kühlt ab.
Es wird Herbst. Es wird Zeit. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich bei den Preisen keines mehr. Ein Polizeiwagen hält neben mir. Hinter der Scheibe zwei Gesichter mit Falten wie Autobahnkreuze. »De disje kein Hotel«, sagt einer. Ich gehe weiter. Dringe tiefer ein in die Erinnerung. Langsam wird es spät. Auf der Karte entdecke ich einen See. Drei Kilometer später stoße ich auf ein verschlossenes Eisentor. Dahinter der See...
Wie eine Wasserflasche im Getränkeautomat und zwei Rentner auf einem Privatsteg. Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und behauptete, dies ist mein. Und Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war ein verdammtes Schienen. In der DDR stand im Grundbuch Eigentum des Volkes. Nun steht da Privateigentum betreten verboten. Ich bin kein Kommunist. Ich bin einfach verdammt müde.
Ich wandle durch schlafende Dörfer voller Einfamilienklötze, Zirkis, Beton, Stoppelrasen. Ab und zu eine Backsteinruine, dann wieder ein Architektenhaus, fremd wie eine Champagnerflasche im Aldi-Regal. Ich blicke in Schlafzimmern, Orte, an denen man völlig legal träumen darf, vorbei an donnernden Autobahnen, die die Landschaft überziehen wie Bettlaken aus Beton.
Im brandenburgischen Naturschutzgesetz steht, Fußwanderer dürfen für eine Nacht Zelte aufstellen, wenn sie privatrechtlich dazu befugt sind. Die größten privaten Waldbesitzer sind seit Jahrhunderten alte Adelsfamilien. Ich schreibe eine Mail an die Hatzfeld-Wildenburgische Verwaltung. office at hatzfeld.de Lieber Hermann Graf von Hatzfeld,
Früher standen hier Eichen und Bucht, der Urwald. Dann kam die Industrialisierung.
Und als alles kahl geschlagen war, pflanzte man Kiefer an Kiefer. Nun statt urwüchsiger Wildnis ein Wald, der aussieht wie ein Becher voller Zahnstocher. Hier schlage ich mein Zelt auf. Am nächsten Morgen erreiche ich ein Dorf. Vor King Kebab stehen eine Handvoll Menschen an für ihre Handvoll Mittagessen. Auf Plastikstühlen sitzen ein paar Männer, Schultheiß an Schultheiß. Auf dem Marktplatz steht eine junge Frau.
Ich gehe weiter. Das ist eine schrittweise Annäherung. Der Limes einer Erinnerungsfunktion. Am Abend dieser Erinnerung bin ich bei dir.
In einer freien Marktwirtschaft sind die Chancen ungleich verteilt, da ein solches System notwendigerweise auf dem Privateigentum und auf dem Erbrecht beruht und auf der dadurch hervorgerufenen Ungleichheit der Startbedingungen. Die Architektur der Erinnerung
Die Kiefer kann bis zu 50 Meter hoch werden. Unter widrigen Bedingungen aber an sogenannten Extremstandorten wächst die Kiefer im Jahr nur einen einzigen Zentimeter und sieht eher aus wie ein kleiner Bonsai.
Du wartest schon am Bahnhof, neben deinem Ford Fiesta. Der älter ist als ich. Ich habe dich gar nicht wiedererkannt. Ist das Erste, was du sagst. Erkennen gleich Althochdeutsch, Irchen an gleich sich erinnern. Ich habe mich nicht mehr an dich erinnert. Die Gedächtnisforschung ist sich nicht sicher, ob man überhaupt etwas vergessen kann oder ob man es einfach nicht wiederfindet. Nicht wiederfinden. Verlegt in der Unordnung des eigenen Gehirns. Ich erkenne dich.
Obwohl du unauffällig bist wie eine Parkuhr. Die Klamotten, die du trägst, kenne ich. Seit meiner Kindheit. Diese Schuhe, die du seit Jahrzehnten hast. Der alte Pullover, Marke Champion. Inzwischen bist du ein alter Mann. Ich erschrecke, wenn ich dein Gesicht studiere. Das hier sei die hässlichste Gegend um Berlin, sagst du, sobald wir im Auto sitzen. 28 Menschen pro Quadratkilometer. In Berlin sind es 200 Mal so viele.
Du legst eine Vollbremsung hin für ein paar Birnen am Straßenrand, schlägst vor, Kartoffeln auszugraben, als wir bei einer Aussichtsstelle neben einem Acker halten. Doch wir steigen nicht aus dem Wagen. Wie im Autokino starren wir durch die Windschutzscheibe auf Äcker und polnische Fabrikschlote. Wir wohnen im Haus deiner besten Freundin, weil deine Wohnung zu klein ist. Ihr Name sei Hertha, wie der Verein oder Müller. Ihr Haus mutet an, wie das Labor einer Apothekerin.
Überall Einmachgläser und Flaschen gefüllt mit fermentierten Lebensmitteln oder Essig. Ziel? Selbstversorgung. Im Falle eines Total Fallout. Hertha raucht und strickt. Sie hat gerade ihren Job verloren, pflegte 20 Jahre lang psychisch Kranke. Du rührst dein Frühstück an wie ein Alchemist mit einer Langsamkeit, die sich nur leisten kann, wer an die Wiedergeburt glaubt.
Dann versinkt er im Internet. Im digitalen Treibsinn. Was hast du die Jahre über gemacht? Du antwortest irgendetwas. Sätze, zäh wie kristallisierter Honig. Herthas Hund liegt vor der Terrassentür. 60 Kilo Hund, 5 Gramm Flöhe. Du fängst die Flöhe mit der Hand, sagst du. Könntest schon einen Floh-Zirkus eröffnen. Erfahrung als Schausteller hast du. Ein Hundefloh kann 250 Mal so hoch springen, wie er groß ist.
Wenn du den Floh aber in ein Einmachglas sperrst, wird er sich das Springen abgewöhnen, weil er merkt, dass gegen den Glasdeckel kein Ankommen ist. Die Lektion der gläsernen Decke. Dann lässt man sie einen Wagen aus Messing ziehen und belohnt sie mit etwas Blut. Die Lektion der Arbeit. Nachmittags pflanzen wir Bäume und spalten Holz. Ich sehe dir zu, wie du mit der Kettensäge hantierst. Du stehst da, ein Bonsai von einem Vater. Lebst du?
wo sonst nichts lebt. Hertha sagt, anstelle die Menschen zum Therapeuten zu schicken, sollte man sie holzhacken lassen. Zwischen den Brennnesseln wächst Hanf, den Hertha zu Haschkekse verarbeitet. Damals, als du drei Cookies auf einmal gegessen hast, die du für normale Schokokekse hieltest, die Dimensionen hätten sich verschoben, sagst du. Du sprichst gerne von Dimensionen. Von Paralleluniversen. Die Realität sei keine beschlossene Sache.
Dein Mantra lautet: "Wir alle erschaffen unsere eigene Realität." "Ach", sagte die Maus, "die Welt wird enger mit jedem Tag. Du musst nur die Denkrichtung ändern", sagte die Katze und fraß sie: "Wieso hast du dir von allen Welten ausgerechnet diese eingebildet?" "Ich schreibe, um das Gegenteil zu beweisen, weil ich denke, dass es eine Realität außerhalb deines Kopfes gibt."
Irgendwann stoßen auch Autosuggestionen und positive Gedanken an ihre Grenzen. Über den Zaun sprechen wir mit den Nachbarn über Häuserpreise. Alle sprechen nur noch über Preise. Vor zehn Jahren habe man hier noch was bekommen, aber mittlerweile unmöglich. 5000 Euro könntest du vielleicht irgendwie organisieren, sagst du. Die Menschen lachen seltsam gerührt. Und so verlernt er Flo das Springen. Weil dein Auto nicht mehr anspringt, leihen wir uns Herthas.
Mit einer Fahrradpumpe pumpen wir den platten Vorderreifen auf. Jeden Tag fahren wir in deiner Wohnung vorbei, um deine Katze zu füttern und am nächsten Tag ihre Kotze wegzuwischen, weil sie das Futter nicht verträgt. Du sorgst für deine Katze. Ich denke, wenn wir unsere Kinder nur ein wenig so lieben würden wie unsere Haustiere. Eine Einzimmerwohnung, Erdgeschoss, zum vielleicht günstigsten Quadratmeterpreis des ganzen Landes. Die Möbel kenne ich noch aus meiner Kindheit.
In gefütterten Wollsocken stehst du vor mir, als befänden wir uns in einer Polarstation in der Antarktis. Schweigsam wie ein Zen-Meister, der mir ein Rätsel aufgeben möchte. Du selbst bist das Rätsel. Ich erschreibe mir einen Vater, der pygmalionhaft zum Leben erwacht, in meiner Hirnrinde. Doch du bist nicht so greif. Ein Mystiker des Mittelfelds. Wir scheuen beide davor zurück, uns in einem Schicksal einzumauern. Einer möglichen Lebensweise, die alle anderen Möglichkeiten ausschließt.
Du bleibst unbestimmbar, umkehrbar. Du ziehst die Wirklichkeit der Möglichkeit nicht vor. Ich fürchte mich vor deinem Erbe. Ich schreibe diesen Text an vielen Orten. Ich beschwöre dich in Berlin, in Köln, in Wien, in Porto, zu jeder Tages- und Jahreszeit. Inzwischen existieren über 35 verschiedene Fassungen. Erst kürze ich, dann verlängere ich.
Allein die Annotationen wären ein eigenständiger Text. Mit 30, sagt mir jemand am Telefon, nimmt man sich den Vater vor, doch es ist keine gute Zeit für Väter. Im alten Ägypten hätte ich einen Totenkult um dich erhoben. Im alten China wäre ich meiner Sohnespflicht nachgekommen und nun? Der Vater ist die Piñata der Psychotherapie, auf die man haut, bis eine Diagnose herausbricht.
Mit hin ist Gesellschaft ein Produkt der Ideologie und nicht die Ideologie ein Produkt der Gesellschaft. Der visuell-räumliche Notizblock.
Die Kiefer ist ein bescheidener Baum und wächst im Grunde überall. Auf Fels, Sand, an Sumpfrändern. Keine andere Baumart kommt mit so wenig Wasser und Erde aus. Eine Askitin, eine Überlebenskünstlerin. Ich laufe die Gegend ab. Eine Ansammlung von Häusern an einer Straßenkreuzung, wie mit der Maurerkelle hingeschleudert. Relikte einer Werkssiedlung aus DDR-Zeiten, als die Zuckerfabrik hier noch in Betrieb war.
Neben deiner Wohnung ein Solarpark, der wie eine Excel-Tabelle die Landschaft zerteilt. Das ehemalige Schulgelände haben Ziegen übernommen. Der Planet der Huftiere. Ab und zu ein altes Arbeiterhaus, in dem vereinzelt noch ein Fenster leuchtet. Wie der letzte wackerflackernde Buchstabe einer kaputten Leuchtschrift. Du wohnst direkt neben einer Ruine. Ein rotes Graffiti, quer über zerbrochene Fenster. Ich brauche dich nicht.
Nach 130 Jahren stellte die Zuckerfabrik am 31.12.1990 den Betrieb ein. Auf dem ehemaligen Rübenlagerplatz steht nun eine gigantische Biogasanlage. Zündquellen und offenes Feuer vermeiden. Wie weit ist es von deinem Bett zur Biogasanlage? Ich zähle die Schritte. Warum interessiert dich das so? Fragst du. Weil ich schreibe. Vielleicht schreibe ich über dich, um nicht zu dir zu werden.
Ein apotropäisches Schreiben. Ich möchte dich abwenden. Euch, die Mutter. Die Großeltern. Die Klinikaufenthalte. Die Sachwalter. Die Zwangsräumung. Die Blamage der Armut. Auf der Suche nach dem richtigen Wort. Abwehr. Entlastung. Vergeltung. Einmal fahren wir zu Brecht. In sein Landhaus in Buko. Wir sind die einzigen Besucher. Blicken durch das gigantische Fenster des Atelierhauses auf den Schermützelsee.
der in der Abendsonne schimmert wie ein Groschenstück. Brecht hatte eine Schwäche für Seegrundstücke. 1932 kauft er ein Haus am Ammersee. Das Geld streckt der Vater vor, Manager der Heindelschen Papierfabrik. Nach Hitlers Machtergreifung flüchtet Brecht, kauft sich ein Fischerhaus nahe Schwedenburg, Dänemark, flüchtet in die USA, 1. Klasse mit Swimmingpool und landet mit vielen Umwegen in Bukow.
Brechts Arbeitermontur war aus den teuersten Stoffen geschneidert. Die Ballonmütze kam vom besten Hutmacher Berlins. Er ließ sich den Schmutz unter die Fingernägel schieben, schreibt einer, der ihn kannte. Das glänzendste Geschäft auf dieser Welt sei die Moral, schreibt einer, dem er nacheiferte. Brecht schrieb nicht nur Gedichte für die Arbeiterschaft, sondern auch für Automobilhersteller. Wir liegen in der Kurve wie Klebestreifen.
Unser Motor ist ein denkendes Erz. Steyr schenkte Brecht im Gegenzug eine Limousine. Als er die gegen einen Baum setzte, legte Steyr nach. Vielleicht sollten wir Ford ein Gedicht widmen, damit du wieder ein Auto hast. Was tust du in dieser Gegend ohne Auto? Spannst du den Hund vor den Fiesta? Sehr verehrte Ford Motor Company, anbei finden Sie ein Gedicht, das ich Ihrer Firma widme. Vielleicht haben Sie Interesse, im Gegenzug meinem autolosen Vater einen Wagen zu widmen.
Es wäre mir eine innere Fiesta. Unmotorisierte Grüße, L.E. Wir fliegen aus der Kurve wie Frisbeescheiben. Unser Motor ist ein lausiger Hund. Du hättest uns beinahe umgebracht. Kannst du dich noch erinnern? Keine Antwort. Auf einer S-Kurve im Jahr 1992. Keine Antwort. Ich habe noch ein Stück Autoscheibe in meiner Stirn. Von Haut überwachsen. Weißt du das nicht mehr? Weißt du wirklich gar nichts mehr? Ganz beiläufig sagst du in einem Nebensatz.
dass du deine Biografie schreibst. Doch seit meiner Geburt erinnerst du dich an nichts mehr. Morgen soll es regnen und ach, seit es dich gibt, habe ich alles vergessen. Darum endet die Erzählung deines Lebens mit meiner Geburt. Wir sind längst eine Klassengesellschaft oder sogar eine Kastengesellschaft. Marcel Fritscher All systems are capitalist. It's just a matter of who owns and controls the capital.
Kiefern haben nicht nur ein ökologisches Erinnerungsvermögen, das Krisen speichert. Sie vererben diese Informationen auch an ihre Nachkommen, um sie für schwierige Situationen zu wappnen.
Kiefern besitzen also eine Art transgenerationales Gedächtnis. Am Anfang war das Wort, das Wort war bei dir, im Namen des biologischen Vaters. Dein Satz des Vergessens war der Beginn dieses Textes. Ich rekonstruiere, schreibe auf, was du vergessen hast. Was ist Erinnerung, wenn nicht der Versuch einer Rekonstruktion? Was ist Schreiben, wenn nicht der lächerliche Versuch der Konservierung? Die Inventur ist der Ursprung der Schrift, Keilschrift.
Ich treibe einen Keil zwischen uns. Vater, 65 Kilo, starke Gedächtnisschwäche. Ich ritze deine Geschichte in Ton. Erinnere dich an das Gesicht deines Vaters. Wie alt ist er in deiner Erinnerung? Älter oder jünger als du? Lächelt er oder schaut er ernst? Blickt er dich an? Ist er für dieses Gesicht selbst verantwortlich? Ich suche nach der Geschichte, den gemeinsamen Jahren. Keine Historie ohne Historiker.
Ich durchsuche Datenträger. Eine alte DVD. Aus dem Off: meine pubertierende Stimme, die sagt: "Ich zeige euch nun, wie man seinen Vater tötet." Kronos, Odysseus, König Laios und Darth Vader wären meine Zeugen, hätten ihre Söhne sie nicht umgebracht. Die vom Vater ausgestoßenen Söhne schließen sich zusammen und liquidieren den Vater, heißt es in der Psychoanalyse. Ich bin die Wachablöse.
Doch was soll ich ablösen? Dein Königreich? Dein Unternehmen? Dein Erbe? Deine Schulden? Es gibt nichts, was ich dir abknüpfen könnte. Außer deiner Geschichte, die du vergessen hast. Vielleicht eine anterograde Amnesie. Informationen nach einem traumatischen Unfall können nicht mehr gespeichert werden. War meine Geburt ein Unfall? Unfall. Spätmittelhochdeutsch. Unfall. Gleich Unglück. Ich stelle die Kamera ab auf dem Esstisch.
Halb totale Vater gegen Sohn. Schließlich bin ich in einem alten roten Buch auf einen Satz gestoßen. The birth of the son is the death of the father. Delegonus sucht seinen Vater Odysseus und tötet ihn, ohne es zu wissen, mit dem Dorn eines Stachelrochens. Auch Oedipus tötet seinen Vater unabsichtlich.
Um nicht entthront zu werden, verschlingt Kronos, der Anführer der Titanen und Herrscher der Welt, alle seine Kinder. Er fürchtet seine Söhne, denn er selbst hat seinen Vater einst verstümmelt. Doch anstelle seines Sohnes Zeus frisst er einen Stein. Diese Verwechslung wird ihm zum Verhängnis. Im Kampf der Titanen besiegt der Sohn den Vater.
Doch Kronos träumt in einer Höhle, schlafend die Welt weiter. Das ist ein stimmiges Bild. Seit meiner Geburt hast du die Welt nur geträumt, hast dir Höhlen gesucht am Rand der Städte und den Überblick über Raum und Zeit verloren. Das ist eine Traumdeutung. Du bist Kronos, der Träumer. Ich bin Zeus. Du bist Odysseus, der Irrfahrer. Ich bin Telegonos. Du bist Laios, der König. Ich bin Oedipus, das Muttersöhnchen.
Ich durchsuche deine Biografie. Ich bin nicht auffindbar zwischen Myriaden von Synapsen. Wie ist das möglich? Ich will deinen Schädel aufbohren, deinen Hippocampus und Temporallappen herausschneiden und unter ein Mikroskop legen. Dein übermenschliches Gedächtnis. Du berichtest sogar von deiner Geburt. Du schreibst über dich selbst. Du wurdest an einem Sonntag im Mai geboren. Deine Geburt war eine ziemlich rational materielle Angelegenheit gewesen. Deine Mutter wollte dich nicht austragen.
Du müsstest es fast mit dem für manche vielleicht abstoßenden Vergleich einer Kuh, die ihr Kalb zur Welt bringt, beschreiben. Es war eben ein rein körperliches, ein fleischliches Ereignis. Du schreibst, obwohl du es vorgezogen hättest, eine Todgeburt zu werden, war da irgendetwas, das dich dazu bewog, deine Körperfunktionen in Gang zu setzen und den ersten entscheidenden Atemzug dennoch zu tun.
Deine Mutter, 20 Jahre alt und obdachlos, gab dich zur Adoption frei. Es ist nicht genug zu essen, hören Hänsel und Gretel ihre Eltern sagen. Später arbeitete sie als Dienstmädchen einer reichen Familie. Es waren nicht ihre Kinder, die sie großzog. Dein Vater war ein Wiener Parkettschleifer. Auf dem einzigen Foto, das ich kenne, trägt er Anzug und Halbglatze. Er war nicht besonders schön, man könnte auch sagen hässlich. Ein Desperado.
Sein Hochzeitsanzug, zu groß, als hätte er früher seinem älteren Bruder gehört. Du ersetztest deine Eltern mit Spielfiguren aus der Getreide-Café-Packung. Dein Vater, dein Nichtvater, musste seinen Beruf aufgeben, weil der Holzstaub ihm die Lunge ruinierte. Er war schon über 40 Jahre alt, hatte über ein Vierteljahrhundert Arbeit hinter sich. Ich stelle ihn mir vor, abends versoff er sein letztes Geld,
Morgens beugte er sich restfett über die Zeitung, wie die Wiener sagen, und suchte nach Arbeit. Was stand in der Zeitung, die er überflog? 1947. Im Hotel du Parc, am Fuß des Mont Pelerin am Genfer See, traf in der vergangenen Woche eine Gruppe internationaler Ökonomen, Historiker und Philosophen zusammen, um die Mont Pelerin-Gesellschaft zu gründen. Vorstand der Gesellschaft ist der Wiener Ökonom Friedrich von Hayek.
Ein liberaler, alter Schule. Über die nächsten Jahrzehnte plant man, ein dichtes Netzwerk aus Thinktanks, Lehrstühlen und Geldgebern zu knüpfen und sich in, Zitat, psychologischer Beeinflussung und politischer Erziehung zu üben. Hayek, es ist nicht schwer der großen Masse, das selbstständige Denken abzugewöhnen. Die öffentliche Meinung ist das Werk von unseresgleichen.
Die Idee ist simpel. Der menschliche Verstand ist begrenzt. Das Preissystem des Marktes aber arbeite wie ein Gehirn von unbegrenzter Kapazität. Wenn nun jeder Mensch den größten Nutzen sucht, stellt sich so auf dem Markt ein heiliges Gleichgewicht ein, in Form gebracht von den Fliehkräften der Eigensucht und der Ordnung einer unsichtbaren Hand. Dein Vater, der Holzabzieher mit der Holzallergie,
Verlor den Boden unter den Füßen. Deine Mutter verließ ihn, weil er nur Sof und sich in der Wiener Halbwelt herumtrieb. Den Rest seines Lebens verbrachte er in der Psychiatrie auf dem Wilhelminenberg. Auch du hast deinen Vater gesucht. Als du ihn gefunden hattest, musstest du ihn nicht töten. Das hatte er bereits selbst erledigt. Du wurdest adoptiert von einem Lehrerpaar aus der Provinz. Kamst in ein streng katholisches Haus. Nach der Schule hieß es Gartenarbeit.
Noch immer heißt es Gartenarbeit. Du schreibst: Dein unzulängliches Verhalten wurde auf die Erbanlagen zurückgeführt, die du leider Gottes von deinen leiblichen Eltern mitbekommen haben sollst, dem Holzabzieher und der Amme. Und mit dieser annehmbaren Theorie wuschen deine beiden pflichtbesessenen Erzieher ihre Westen und ihre Seelen rein. Wieso hat sich dein Vater nicht aufgerafft, ein eigenes Kind zu zeugen, fragst du.
Ein Kind, das seine Anlagen hat und dich entlastet hätte und dir zugleich Bruder oder Schwester gewesen wäre. Später brachst du, das Lehrerkind, die Schule an. Du seist nicht fürs Lernen gemacht, wirst du sagen. Stattdessen wolltest du Elektriker werden. Doch in diesem Dorf gab es keine Elektriker. Du schraubtest an Radios herum.
Was lief in den Radios, die du wieder zum Laufen brachtest? 1973. Putsch des chilenischen Generals Augusto Pinochet gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Chiles, Salvador Allende. Pinochets faschistisches Militärregime wird zur Spielwiese für die wirtschaftsliberalen Ideen. Die Freiheit kostet. 27.000 Tote in den folgenden 17 Jahren.
Ich ziehe einen liberalen Diktator einer demokratischen Regierung, der es an Liberalismus mangelt, vor, so Hayek. Dann schlägt die Stunde von Thatcherism und Reaganomics. Thatchers wichtigster Berater wird der nun schon über 80 Jahre alte Hayek. Und Ronald Reagans Souffleur Milton Friedman, Hayeks geistiger Stammhalter. Nur eine Krise, ob tatsächlich oder gefühlt, erzeugt echte Veränderungen.
In der westlichen Welt bricht die wirtschaftspolitische Nachkriegsordnung zusammen. Ölkrise, Inflation, Krise der Sozialsysteme durch steigende Arbeitslosigkeit. Der Maschinenschlosser suchte gerade jemanden. Macht man hier auch was mit Strom? Fragtest du. Der Chef zeigte auf eine Steckdose. Statt in die Schule zu gehen, produziertest du nun den ganzen Tag kleine Ersatzteile für Maschinen, die du nicht kanntest. Du wolltest unbedingt den Gesellenbrief.
In dir arbeitete die Entfremdung. Du zogst weg. Nach Wien. Weiter nach Kiel und noch weiter nach Paris. Später landetest du in München bei einer Leiharbeitsfirma. Du wolltest in einer WG wohnen, aber in WGs wohnten nur Studenten. Wie so viele warst du auf einem spirituellen Trip, hast alles ausprobiert. Moon, Scientology, Osho, Zeugen Jehovas. Doch das war dir alles zu orthodox.
Du wolltest von der Kirche wegkommen, von deiner Erziehung, aber überlegte es dir gut, ob du austreten solltest. Immerhin drohte man dir mit der Hölle. Eine Kindheit umrahmt von der Theologie der Schuld. Deiner Eltern, die dich aus dem Kinderheim holten. Des christlichen Gottes, der dir mit der Hölle drohte. Und des Individualismus, der dir verspricht, du kannst alles haben und sein.
1983.
Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Sozialabbau, unternehmensfreundliche Politik, niedrige Gewerbe- und Vermögensteuer, Liberalisierung des Mietrechts und des Kündigungsschutzes. Helmut Schmidt sieht darin eine Abwendung vom demokratischen Sozialstaat und eine Hinwendung zur Ellenbogengesellschaft. Doch seine Neubesetzung, Helmut Kohl,
folgt Reagan und Thatcher, leicht zaghaft, in die geistig-moralische Wende. Eine Wirtschaftsordnung ist umso erfolgreicher, je mehr sich der Staat zurückhält und dem Einzelnen seine Freiheit lässt. Schließlich wurde das Haus in der Rosenheimer Straße, in dem du gewohnt hast, saniert. Es war Winter, kein Strom mehr. Wenn es am Nachmittag dunkel wurde, hattet ihr nur noch Kerzenlicht.
Ihr zogt weg aus München, aufs Land, in ein altes Bauernhaus in der Einöde. Kein Telefonanschluss, keine Heizung, kein Warmwasser, kein Auto, kein Geld. Das Notwendigste war da, ein großer Herd in der Küche, eine altertümliche Holzkreissäge, Wärmflaschen und Bier. Du schreibst, vom Fenster aus konntet ihr eine einzige Straßenlampe erspähen. Außer dem Knistern des Feuers und den von uns erzeugten Geräuschen war nichts,
aber rein gar nichts zu hören. Unter den Dachgiebeln dieses Hauses wurde ich geboren. Erinnerst du dich? Nein. Du erinnerst dich nicht. Hier reist der Film. Der Anbeginn der Amnesie. 1989. Hast du die Zeitung dieses Tages aufgehoben? 1989. Kollaps des Ostblocks.
Die ultraliberale Schocktherapie von IWF und Weltbank geht um. Der Kapitalismus hat gesiegt, der Sozialismus ist Geschichte. Privatisierung, Globalisierung, Liberalisierung. Gottgegeben wie die Schwerkraft und die Gezeiten.
"Transform history into nature", schreibt Roland Barthes von der Setzung zum Naturgesetz, der Mensch als Nutzen maximierender Algorithmus. "Is there some society you know that doesn't run on greed?" "Freedmen." Du hattest gerade deinen Job bei einem Traktorhersteller verloren. Dazu kam eine Räumungsklage. Weil es in der Umgebung keine freie Sozialwohnung gab, durften wir noch ein ganzes Jahr in dem Bauernhaus wohnen.
Dann wurden die Gänse und Kaninchen geschlachtet und wir zogen um auf 45 Quadratmeter. Küche, kein Bad. Die einzige Sozialwohnung im gesamten Landkreis. Einmal die Woche machten wir mit dem Holzofen in der Küche Wasser warm. Zunder, Holz, eine alte Zeitung. Vielleicht gingen diese Worte in Flammen auf. 1990
Der seit 1851 etablierte gemeinnützige Wohnungsbau wird aufgehoben. Der Wohnungsmarkt wird liberalisiert und privatisiert. Das Angebot an Sozialwohnungen schmilzt wie Schnee unter einem warmen Urinstrahl. Die Toilette war auf dem Gang, also pinkeltest du nachts in die Spüle in der Küche.
Das heiße Wasser füllten wir in eine Zinnwanne, dann stieg einer nach dem anderen in die Wanne. Meine Mutter saß an der Supermarktkasse, doch sie wollte mehr und ließ sich umschulen. Als sie dich verließ, schrieb sie dir einfach einen Brief. Wir zogen nach München. Die Zinnwanne hattest du fortan ganz für dich. Du verwandeltest dich graduell. Vom Vollzeitvater zum Teilzeitvater. Zur Urlaubsbekanntschaft zum Fremden.
Damals, als wir nach Schweden reisten, wir besuchten meinen Großonkel in einem Vorort von Stockholm. Mein Großonkel gab mir 100 Kronen, die ich nach einer Stunde ausgegeben hatte. Ich erinnere mich an deinen Gesichtsausdruck, als das Geld weg war. Ich war 13, aber wog mehr als du. Du warst so wenig Mensch, so klein und leicht. Du sagtest, die Fluggesellschaft würde auf dem Rückflug jeden Passagier wiegen und wer zu schwer sei, dürfe nicht mitfliegen.
Völlig verstört versuchte ich im Badezimmer mit einer alten Waage herauszufinden, ob ich nun für immer in Schweden bleiben musste. Wären wir doch nur in Skandinavien geblieben.
Wenn die Kiefer auf sich allein gestellt wäre, könnte sie in Deutschland kaum überleben. Ihr fehlt die Konkurrenzkraft. Sie braucht extrem viel Licht. Deshalb ist sie ständig auf Nischensuche, ständig auf der Flucht zu Extremstandorten und Katastrophenflächen, dort wo sonst nichts leben kann.
Du brauchtest einige Zeit, um dich zu sammeln. Aber du fandest eine neue, schöne Wohnung, die du mühevoll hergerichtet hast. Du lerntest eine Frau kennen, machtest eine Umschulung zum Heilerziehungspflegehelfer. Doch die Regelungen in der Pflege wurden geändert, deine Befugnisse eingeschränkt. Du verlorst wieder mal deinen Job. Du zogst von Wohnung zu Wohnung, von Tür zu Tür, entfliegender Händler deiner selbst. Ich kann die Jobs kaum zählen, die du gemacht hast.
Du schlugst die Job-Annoncen in der Zeitung auf: "Das ganze Leben eine Sinusfunktion." "2004: Deutschland kränkelt. Vier Millionen Arbeitslose. Seit zwei Jahren stagniert das wirtschaftliche Wachstum. Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen", erklärt Schröder im Bundestag. "Eigenverantwortung fördern? Wir alle erschaffen unsere Realität. Deine Realität?
Ein 1-Euro-Job im Altenheim. Den Job hast du geliebt, sagst du. Doch solche Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung waren zeitlich befristet. Talfahrt. Am Ende arbeitest du in einem heruntergekommenen Vergnügungspark und bedientest Fahrgeschäfte. Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, die es in Europa gibt, sagte Schröder. Du spartest jeden Cent, wie Dostoevskys Jüngling.
Nur dass du nicht reich wie ein Rothschild werden wolltest, sondern die Welt wolltest du sehen. Der Tausch? Entfremdung gegen Fremde. Im Winter, wenn der Vergnügungspark geschlossen war, kratztest du dein Erspartes zusammen, um in Asien zu überwintern. Wo du mal mit einem Moped durch Laos knattertest, mal mit einem Floß den Mekong befuhrst. Eines Tages wirst du dorthin ziehen, sagtest du damals immer. Nach Laos wirst du ziehen. Während der Arbeit lerntest du heimlich Laotisch. Aber du zogst nicht nach Laos. 2008
Die Finanzkrise entlarvt die Schwächen des globalen Kapitalismus, die Folgen von Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung. Für einen Moment wurde der Vorhang gelüftet, so könnte die Welt ins Chaos stürzen. Doch die Höllenmaschine, dieses Gemisch aus höherer Mathematik und Bungee-Jumping, lief einfach weiter nach dem einzigen infernalischen Algorithmus, den sie kannte. Scheißen auf den größten Haufen.
Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen. Wir können den Schwachen mehr abgeben, wenn es mehr Starke gibt. Das Schicksal der nicht wiederholten Inhalte.
Aus tausenden Baumsamen entstehen hunderte Keimlinge, von denen am Ende vielleicht zwei oder drei Bäume übrig bleiben. Die natürliche Selektion: Ein endloser Kampf um Boden, Licht, Nährstoffe und Wasser. Im Untergrund sind die Bäume durch ein Netzwerk aus feinen Pilzfäden verbunden.
Mykorrhiza, die sich durch den gesamten Waldboden ziehen. Hier wird gehandelt, kooperiert und sabotiert. Heiligabend 2016. Hongkong Spezialitätenrestaurant in München. Die Frühlingsrollen waren noch halb gefroren. Die Tischdecke voller Flecken, die die letzte dysfunktionale Familie hinterlassen hatte. Ich versuchte, eine Geschichte aus den Flecken herauszulesen,
Dann sagtest du, du seist jetzt in Frührente. Warum? fragte ich. Warum? wiederholtest du. Du zeigtest mir deine alte Wohnung. Nicht mal, wenn du ihnen deinen ersten Sohn gegeben hättest, hättest du hier wieder einziehen können. Du wohntest noch nicht in Brandenburg, sondern in einem Dorf an der österreichischen Grenze. Hattest dort durch Glück und Zufall eine Wohnung gefunden. Die Geschichte der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Der neue Eigentümer meldete Eigenbedarf an. In der Zwischenzeit: 150% Mietpreissteigerung in Bayern. Verfassung des Freistaates Bayern Artikel 106: Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung. Aber du fandest keine angemessene Wohnung mehr. Du fandest gar keine Wohnung mehr. Es heißt: Einen alten Baum verpflanzt man nicht.
Doch du zogst weiter, mit der Katze auf dem Beifahrersitz, den günstigen Mietpreisen hinterher. Ins Grenzland, in eine der letzten Nischen, die Strategie der Kiefer. Das ist der Albtraum des Tellerwäschers. Die Trickle-Down-Demagogie. Das Evangelium der unsichtbaren Hand. Das Märchen vom Minimalstaat. Wir brauchen neue Begriffe. Luck-Egalitarianism und Lemon-Socialism.
Du hast es hingenommen wie ein göttliches Urteil. Was früher Schicksal und Gott hieß, ist heute ein allwissender Markt. So groß und omnipotent
dass er uns den Verstand raubt. Allwissend und gerecht. Ich verfluche diesen Text. Ich verfluche diesen Text!
Ich verfluche die Unübersichtlichkeit der Gegenwart, die sich in Millionen und noch mehr Millionen von Erfahrungsgeometrien ausgestaltet. Die Welt als Zufallswerk. Seit Jahrtausenden sitze ich an diesem Text, verliere die Fassung vor der tausendsten Fassung. Ich stelle den Nationalökonom an. Stelle dir nach! Der Text wächst und wächst. Er wächst mir über den Kopf. Ich träume von einer Totalansicht. Für jeden Buchstaben, den ich streiche, wachsen zwei nach.
Seit Monaten, seit Jahren, pfeile ich an diesem Text, wälze, lese, schreibe, lösche, stelle mir vor, ein Hörspiel, das Jahre andauert und jeder noch so kleinen Verästelungen nachgibt, das Einzelne und Allgemeine versöhnt. Aber mich würde nur das Schicksal von Balsaks Maler ereignen.
ein unerkennbares Gemälde konfuser Formen und Farben. Ich träume von einem bescheidenen Text, der die Verhältnisse nicht verzwergt, auf Kampfbegriffe und lineare Erklärungen zusammenschrumpft und dann wieder zur Weltformel aufbläst, die erklären soll, weshalb die Welt nicht ist, wie sie sein sollte.
Ein Kampfbegriff für alle Anlässe, der mitmischt in allen Metiers. Der Liebe, der Seele, der Kunst, dem Sex. Wenn ich versucht habe, Geschichte als notwendigen, eindeutigen und unaufhaltsamen Prozess darzustellen, tut es mir leid. Ich entschuldige mich für jedes Weil und Deswegen. Facts never disconfirm a good ideology. Die Ernährungsgewohnheiten von Revolutionen. Obwohl kein Buddha...
steht doch so selbstvergessen die alte Kiefer. Baschu. Ich reise ein letztes Mal zurück in der Zeit. Wir sitzen in Brandenburg. Im Hintergrund läuft das Radio. Die Welt schrumpft zusammen auf einer Einzimmerwohnung. Die Wirtschaft liegt im Koma. Doch die amerikanische Zentralbank pumpt eine Million Dollar pro Sekunde in den Kreislauf ihrer Patientin. Und die Vermögenswerte expandieren.
Und die Preise expandieren und die Unsicherheiten expandieren. Und die Risse expandieren. In an earlier period of history, this sort of diagnosis might have been coupled with a forecast of revolution. If anything is unrealistic today, that prediction surely is. Adam Toos. Wir kennen die Ernährungsgewohnheiten von Revolution. Darum zetteln wir keine mehr an!
Wie Kronos. Fressen sie ihre Kinder. Auf Google Maps suchen wir das Haus, in dem du aufgewachsen bist. Ein Satellitenbild. Deine Kindheit auf einem Satellitenbild. Du bist ein astronautischer Mensch. Zu Hause in der Exosphäre deiner Gedanken. Ein bisschen mehr Vater. So hätte dieser Text auch heißen können. Doch er bleibt auf Abstand. Mein Schreiben handelt von dir. Ich klagte dort ja nur, was ich an deiner Brust nicht klagen konnte.
Schreibe ich nicht. Das schreibt Franz an Hermann Kafka. Ich schreibe. Das ist kein Text über einen Vater, sondern über unsere Mütter und Väter, die, obwohl sie zu essen gerade genug haben, verhungern am Rande dieses Landes, ihre Zigaretten selbst stopfen, stoisch ausharren in der Trockenheit und sagen...
Man muss tragen, was einem zufällt. Bist du wahnsinnig? Oder ist es die Welt um dich herum? Wir können doch alle nicht mehr, sind beschäftigt, nicht auszusterben. Der ganze Planet ist fix und fertig. Der Mensch, der Rechenfehler der Natur, überschlägt ein letztes Mal, wie viel Kraftstoff er noch hat. Was haben die Tätigen aus der Welt gemacht? Wie sähe die Welt aus, gäbe es mehr von deiner Sorte?
die in Ruhe in ihren Zimmern säßen und ihre Söhne vergessen, sich leise und sanft bewegten wie eine Plastiktüte im Wind, bescheiden lebten wie eine Kiefer am Weltrand, wo die Zeit vergisst, in welche Richtung sie unterwegs war. Ich sitze in Ruhe in meinem Zimmer und erinnere mich an dich und es erscheint ein freundliches, empfindsames Wesen. Es gibt eine andere Form von Expansion und Eroberung. Zeit und Welt erobern
Indem man geht und keine Spur hinterlässt. Indem man geht und nicht einmal einen Schatten an den Mauern zurücklässt. Womit wir wieder beim Gehen wären. Auf der Fahrt zum Bahnhof kommen wir an einem kleinen Friedhof vorbei. Du zeigst auf ein Stück und sagst, da ist noch Platz. Was tun? Spricht Zeus. Die Welt ist weggegeben. Der Herbst, die Jagd, der Markt ist nicht mehr mein. Willst du in meinem Himmel mit mir leben?
So oft du kommst, er soll dir offen sein. Satellitenbilder deiner Kindheit von Leon Engler mit Niklas Dräger als Sohn. In weiteren Rollen Name Allai, Paula Essam, Silke Linderhaus und Steffen Räuber. Technische Realisation Gertrud Glosemeier und Jens-Peter Hamacher. Musik Leon Engler Regieassistenz Ellen Verstegen
Regie Jörg Schlüter und Leon Engler. Dramaturgie Hanna Georgi und Nathalie Czalis. Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2022.