Ja, klar. Ja, klar.
Als ich zum ersten Mal auf dem Weg zum Seniorenheim war, dachte ich, eigentlich wäre ich lieber ins Hospiz gefahren und hätte dort jemanden besucht, weil Seniorenheim und das Leben dort kenne ich eigentlich schon von meiner Oma. Jedenfalls dort angekommen, haben mir die Pflegerinnen dann das Haus gezeigt und erklärt und gesagt, hier gibt es einen offenen, normalen Wohnbereich, dann einen beschützten Wohnbereich für Demenzkranke und ganz oben die Wachkoma-Station.
Am Anfang schien es ziemlich schwierig zu sein, Leute zu finden, die bereit sind für das Gespräch. Und so hatten wir zwei Wochen vor Beginn der Recherche immer noch niemanden gefunden. Aber dann eine Woche vor Beginn hatten wir auf einmal ganz viele Kontakte. Ich habe die Nummer von Petra, von unserem Regisseur Gernot bekommen, mit der Information, dass es sich um eine 47-jährige Frau handelt, die Lungenkrebs hat seit 2005, mit ihrem Mann zusammenlebt und dass der Mann bei den Gesprächen dabei sein wird.
Dann hat die Therapeutin von Herrn Walter mir erzählt, dass Herr Walter oft das Essen verweigert und dass er vor einiger Zeit gemeinsam mit seiner Frau versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Und ich fand das ein bisschen komisch, dass ich jetzt schon so eine ganz intime Information von Herrn Walter habe, wo ich ihn ja noch nie getroffen habe und auch gar nicht weiß, ob er mir das überhaupt erzählen will. Und dann bin ich zum ersten Mal zu ihm in den zweiten Stock gefahren. Als ich das erste Mal dann zum Hospiz gegangen bin, habe ich die ganze Zeit auf mein Handy geguckt und habe gehofft, dass mich jemand anruft und den Termin absagt, aber das war nicht der Fall.
So bin ich dann ins Hospiz gekommen. Dort hat mich die Sozialtherapeutin in Empfang genommen. Wir sind in den Fahrstuhl eingestiegen, sind nach oben gefahren und auf dem Weg hat sie mir gesagt, dass die Frau, die sie mir eigentlich vorstellen wollte, sehr krank ist und dass sie mir deswegen eine andere vorstellen möchte. Helga. Und dann hatte ich so eine komische Vorstellung, dass es sich um ein sehr wohlhabendes Paar handelt.
Er, Anfang 50, gut gebaut, Rechtsanwalt, liebevoller Ehemann. Sie, eine 47-jährige, hübsche Blondine, die eine Eigentumswohnung oder eine Villa im Grün haben. Letzten Endes war es ein Plattenbau. Da musste ich dann in den 6. Stock fahren. Am Ende des Korridors hat schon ein großer, kahlköpfiger, dicker Mann auf mich gewartet. * Musik *
Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja.
Sie hat so schulterlanges braunes Haar und so einen leichten Kleopatra-Schnitt. Und sie hat so ein richtiges Sonnenschein-Lächeln, wo man alle Zähne sieht. Helga hat auch eher ein rundes Gesicht, eine hohe Stirn, graue, buschige Augenbrauen und kurze, graue Haare. Ihr Körper ist eher so dicklich und klein, aber den sehe ich meistens nicht, weil er unter einer Decke ist.
Als ich das erste Mal bei Helga war, da sollte ich sie eigentlich nur auf eine Zigarettenlänge kennenlernen. Aber dann habe ich ihr eine Frage gestellt und daraufhin hat sie mir ihr ganzes Leben innerhalb von zweieinhalb Stunden erzählt. Helga wurde 1937 geboren, sie hat zwei ältere Schwestern und hat mit den Schwestern und der Mutter einer kleinen Wohnung in Magdeburg gewohnt. Den Vater, den hat sie nie wirklich kennengelernt, weil er 1939 in den Krieg gezogen ist und 1941 gestorben ist. Von dem hat sie nur, wie sie sagt, einen kleinen Brief, der in Zitterli geschrieben ist, was sie nicht lesen kann.
Dann später wurden sie ausgebombt und verschüttet. Sie sind dann aufs Land ausquartiert worden und kamen nach dem Krieg wieder zurück, wieder in dieselbe Wohnung. Aber im Haus waren mittlerweile ganz viele Russen einquartiert. Mit 17 hat sie dann ihren ersten Mann kennengelernt. Mit 18 hat sie den geheiratet. Und mit 22 hatte sie schon zwei Töchter.
Dieser Mann war aber, wie sie sagt, ein Felou, der nur von Krim und Klau gelebt hat. Der hat mit einer blonden Frau einen Raubüberfall begangen. Sie war blond, deswegen war sie angezeigt, diese blonde Frau gewesen zu sein. Deswegen musste sie fliehen und kam dann im Westen an.
Auf dem Potsdamer Platz, von dem sie nicht wusste, ob es im Osten oder im Westen liegt. Sie hat nur Soldaten gesehen, von denen sie auch nicht wusste, ob es Ost- oder Westsoldaten sind. Sie ist zu ihnen hingegangen und hat gesagt: "Ich hab mich total verfilzt. Bin ich hier im Osten oder im Westen?" "Wo wollen Sie hin?" "Ist mir egal. Ich will nur wissen, ob ich hier im Osten oder im Westen bin." Sie haben sie mit um die Ecke genommen, haben einen Laden gezeigt, wo viele Petticoats drin waren. "Wie sieht das aus?" "Wie der Westen." "Richtig. Wenn Sie im Westen bleiben wollen, müssen Sie der Straße folgen."
Dann kam Helga im Auffanglager an. Da musste sie viele krumme Dinger drehen, um an Geld für ihre Zigaretten dranzukommen. Sie ist von da aus weitergeflohen nach Hamburg und hat da ihren zweiten Mann kennengelernt.
Der erste Mann ist mittlerweile an Krebs gestorben und der zweite Mann, den hat sie geheiratet, hat mit den zwei Söhne bekommen, der war allerdings Alkoholiker. Und sie wollte die ganze Zeit, dass er endlich eine Entziehungskur macht. Das hat dann sieben Jahre gedauert, bis er es gemacht hat. Und als er aus der Entziehungskur zurückkam, war er medikamentenabhängig. Zwei Jahre später ist er dann gestorben und dann hat sie ihren dritten Mann kennengelernt. Musik
Mit diesem dritten Mann ging es ein Jahr gut, dann wollte sie sich von ihm trennen. Er wollte das aber nicht, hat immer die ganze Wohnung kurz und klein geschlagen und hat ihr Gewalt angedroht.
Die Polizei hat aber rausgefunden, dass Helga gar nicht daran schuld sein kann, weil er nämlich mit so einem Knoten befestigt war, den nur Fremdenlegionäre kennen und er war Fremdenlegionär.
Und dann sind die Söhne irgendwann erwachsen geworden. Der eine hat an Depressionen gelitten und sich umgebracht und der andere hatte einen Herzstillstand, wurde deswegen mit zu wenig Sauerstoff im Gehirn versorgt und ist seitdem pflegebedürftig. Und dann mit 73 hat sie erfahren, dass sie Krebs hat. Drei Monate später kam sie ins Hospiz.
Herr Walter und seine Frau kannten sich 65 Jahre lang. Sie haben sich am 10. Mai 1945 kennengelernt. Und zum 65. Jahrestag hat Herr Walter von seinen Pflegern ein Tüllherz geschenkt bekommen, das liegt bei ihm auf dem Nachttisch. Helga war immer die Kleinste und die Frechste. Und am liebsten hat sie mit Jungs gespielt, weil die konnten auch mal einen Wuff ab. Die Mädchen haben ja immer gleich gequiekt.
Petra und Klaus sind seit dem 26. Februar 1983 ein Paar. Sie war damals 18, er schon 42. Das hat ihnen gesellschaftlich viele Probleme bereitet, aber sie haben immer zusammengehalten. Herr Walter hat im Krieg an fünf Fronten gekämpft. Er hat irgendwann keinen Heimaturlaub mehr bekommen, weil er keine Heimat mehr hatte, weil er aus dem Sudetenland stammt.
Petra und Klaus sind für ihr Leben gerne gereist. Und auf einer ihrer Reisen haben sie sogar mal Roberto Blanco auf Kuba getroffen. Herr Walter wählt seit Adenauer die CDU und guckt am liebsten hart aber fair. Petra liebt Western. Am allermeisten liebt sie daran das Geballer. Herr Walter und seine Frau hatten beschlossen, sich gemeinsam das Leben zu nehmen.
Sie haben diesen Tag ganz genau vorbereitet, das heißt, sie haben alles gespendet und verschenkt, was sie besaßen, sodass sie an dem Tag tatsächlich nur noch die Kleidung besaßen, die sie anhatten. Herr Walter war 91 Jahre alt und seine Frau 95 und den beiden ging es gesundheitlich eigentlich noch ganz gut. Und ich habe Herrn Walter immer wieder gefragt, wie man denn so eine Entscheidung treffen kann. Und da hat er gemeint, ja, die wurde getroffen wie alle anderen auch, also gemeinsam. Und für uns beide war das ganz klar.
Sie wollten das am Abend des Tages machen und dann hatte aber seine Frau beim Frühstück ein bisschen Schmerzen. Sie hatte Osteoporose und dann haben sie gesagt: "Ach komm, wir machen es einfach gleich nach dem Frühstück." Sie hatten 100 Tabletten. Seine Frau musste ein bisschen mehr als 50 nehmen und er ein bisschen weniger. Und dann haben sie noch eine spezielle Flüssigkeit dazu getrunken. Und ich wollte von Herrn Walter wissen, wie er überhaupt an die Tabletten gekommen ist. Und da hat er gesagt:
Naja, man findet dann doch immer einen Ars, das menschlich ist, das einem dabei hilft. Er hat dann an die Zwischentür so ein Schild angebracht, auf dem stand, vor sich zwei Tote. Herr Walter und seine Frau haben sich an den Tisch gesetzt gegenüber, haben sich in die Augen geschaut, die Tabletten genommen und die Flüssigkeit getrunken und sich gegenseitig in die Arme genommen. Und so sind sie dann gemeinsam eingeschlafen.
Und genau in dem Moment ist dann die Oberschwester ins Zimmer gekommen, die normalerweise nie an diesen Tag kommt, und hat die beiden gefunden. Und dann hat sie sofort nach den Patientenverfügungen gesucht, weil sie gedacht hat, die gibt es sicher, die besagen, dass man keine lebensverlängernden Maßnahmen treffen darf. Und da hat Herr Walter gesagt, da habe ich einen Fehler gemacht. Also den Abschiedsbrief, den hatten sie auf den Tisch gelegt, der war an die Enkeltochter gerichtet, aber die Patientenverfügung, die hat er vergessen.
Und die Oberschwester, die hat sich dann im Nachhinein auch entschuldigt und hat gesagt, ich habe sie überall gesucht, ich habe die nicht gefunden, mir blieb nichts anderes übrig, ich musste sie ins Krankenhaus bringen. Und dadurch kamen die beiden dann ins Krankenhaus und lagen dort sechs Monate im Koma. Und dann sind beide wieder aufgewacht. Und dann sind sie in ein städtisches Pflegeheim nach Hamburg gekommen und dort warten sie eigentlich jeden Tag, dass Gott sie abholt. Ich höre gerade das dritte Gespräch nochmal ab.
Wir sind ganz am Anfang des Gesprächs. Sie erzählt mir nochmal ihr Leben. Ich habe jetzt gerade die Stelle, wo ich das erste Mal bei ihr war. Und da wusste ich noch nicht so recht, wie ich dieses Thema Tod, Sterben und so weiter ansprechen kann. Und sie sagt, Mensch Junge, eier nicht lang rum. Stell mir die Fragen, die du zu fragen hast. Vielleicht fange ich an zu weinen, aber stell dann einfach weiter Fragen. Das ist unser erstes Treffen und Herr Wetter erzählt...
Die jungen Burschen, die kommen da hin und die haben sich gegenseitig erzogen. Erzählt vom Arbeitsdienst. Und das war eine richtige Kameradschaft. Ich meine, die Jungs von heute, das war ein ganz anderes Leben. Heute sind sie alles Schläger. Das gab es damals nicht. Auf meiner Aufnahme ist jetzt seit einer Minute nichts zu hören. Nur so leise Geräusche im Hintergrund. Hier frage ich gerade, wie das denn so ist, Petra. Also hast du Angst vorm Sterben und so. Und sie fängt an zu lachen und sagt, ach Junge, wenn...
Wenn ich tot bin, bin ich tot. Jetzt gerade versuche ich ihr eine Zigarette zu stopfen, was mir aber nicht wirklich gelingt, weil der ganze Tabak verteilt sich unter mir auf dem Fußboden und die Zigarette, die ich rausbekomme, ist so ganz mickrig. Und dann sagt sie, ich soll sie wegschmeißen, das Schweinchen muss geschlachtet werden, auch wenn es quiekt. Seit 60 Jahren 40 Zigaretten am Tag.
Helga raucht, seitdem sie 14 ist. Sie hat auch nie wirklich probiert aufzuhören. Manchmal musste sie zwangsläufig eine kleine Pause einlegen, weil dann das Geld zu knapp war. Aber jetzt, seitdem sie im Hospiz ist, ist es ein bisschen schwieriger geworden, weil da darf sie nämlich nur noch rauchen, wenn Besuch da ist, weil sonst die Gefahr zu groß ist, dass sie einschläft und dann das ganze Hospiz anbrennt. Deswegen nutzt sie die Gelegenheit, wenn ich da bin und raucht gleich mal zehn Zigaretten am Stück. Die eine an, die nächste wieder aus.
# Die eine aus, die nächste wieder an. Am Anfang hat sich Helga selber die Zigaretten gestopft. Das geht nicht mehr, weil ihre Hände zu zittern. Ich hab's für sie auch nicht auf die Reihe bekommen. Deswegen raucht sie Filterzigaretten. Westsilver, big silver. Westsilver.
Neuerdings sagt das Pflegepersonal, dass eigentlich nicht mehr Besuch bei ihr rauchen darf, weil die Luft so sehr im Raum steht, dass man sie schneiden kann. Aber Helga lässt sich davon nicht abhalten. Sie sagt: "Ach komm, wir gehen ins Badezimmer." Und hängt draußen ein Schild dran: "Hier wird gerade eine Abtreibung vorgenommen. Vorsicht, bitte nicht stören." # Hier wird gerade eine Abtreibung vorgenommen. # Vorsicht, bitte nicht stören. # Hier wird gerade eine Abtreibung vorgenommen.
Vorsicht, bitte nicht stören. Aber ein Pfleger Peter sagt nichts dagegen. Hier sind Bewohner über 90 geworden und haben auch ihr ganzes Leben lang Kette geraucht. * Musik * Jetzt ist es sowieso egal. * Musik * Jetzt ist es sowieso egal. * Kuss * Egal. * Kuss * Jetzt ist es sowieso egal. * Kuss *
Jetzt ist es sowieso egal. Jetzt ist es sowieso egal. Na na na na na na na.
Petra ist 1963 geboren, in Hamburg und in Barmbek aufgewachsen. Petras Eltern hatten einen Campingplatz auf der Lüneburger Heide, genau neben dem Campingplatz von Klaus. Sie kennen sich seitdem Petra 12 ist und seit dem 26. Februar 1983 sind die beiden ein Paar. Was komisch ist, weil wie Petra es beschreibt, sie Klaus am Anfang gar nicht abkonnte. Der hatte so eindeutig zweideltige Sprüche.
Bis sie realisiert hat, dass sie die Einzige ist, die ihn wirklich versteht. Petra hat ihre Ausbildung bei der Allianz gemacht und danach 20 Jahre dort gearbeitet. 1992 hatten Petra und Klaus einen schweren Autounfall, bei dem Klaus fast ums Leben gekommen wäre und danach über ein halbes Jahr im Krankenhaus bleiben musste. Morgen früh, wenn Gott will.
Und am 26. Februar 1999 haben sich Petra und Klaus das Ja-Wort gegeben. Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja. 2005 wurde bei Petra Lungenkrebs diagnostiziert. Es folgten eine Chemotherapie und mehrere Operationen. Morgen früh in Gotthild, na, na.
2010 war der Lungenkrebs besiegt. Zwei Monate später wurde dann unheilbarer Dünndarmkrebs diagnostiziert. Hast du Angst vor dem Tod? Findest du das gerecht, dass du jetzt Krebs hast? Was macht dich wütend?
Also das heißt, Sie haben Ihren Vater nie kennengelernt? Ja, und jetzt frage ich gerade, wie das denn bei den beiden so als sexuell aussieht. Ah, also krankheitsbedingt. Okay. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er das nochmal machen würde, ob er nochmal versuchen würde, sich das Leben zu nehmen. Und da sagt er, ja, auf jeden Fall, nur im Moment habe ich nicht so die Beziehungen. Und jetzt frage ich Sie gerade hier, ob sie jemanden hat, mit dem sie über das Sterben reden kann, ihre Kinder oder Freunde? Ja.
Und da sagt sie: "Nee, warum soll ich denn darüber reden? Warum soll ich denn auch noch das Leben schwer machen?" Jetzt habe ich sie gerade nach ihrer schönsten Erinnerung gefragt und sie sagt: "Ja, dass ich meinen Mann kennengelernt habe." Und wie ist das mit deiner Beerdigung? Hast du das... Und sie sagt: "Ja, das habe ich selber geklärt. Als ich aus dem Krankenhaus rauskam, habe ich beim Bestattungsunternehmen angerufen, habe mir die billigste Urne bestellt und habe veranlasst, dass auf mein Grab ein Strauß weißer Rosen gestellt wird."
Hier erzählt er mir gerade, dass er im Krieg Rechnungsführer gewesen ist und deswegen am Ende des Krieges mit der Kompaniekasse fliehen konnte. Und von dem Geld hat er sich dann seinen ersten Anzug gekauft.
Euro, D-Mark, Reichsmark. Reichsmark, D-Mark, Euro. Herr Walter und seine Frau sind nach dem Krieg zusammengezogen in eine kleine Wohnung nach Hamburg-Harburg. Es war gar nicht so einfach, überhaupt eine Wohnung für ein unverheiratetes Paar zu finden. Und sie haben nur von der Witwenrente seiner Frau gelebt. 250 Reichsmark. Ihr Mann war im Krieg gefallen und sie hat eine siebenjährige Tochter mit in die Beziehung gebracht.
Herr Walter ist durch Zufall in die Süßwarenbranche gekommen und war dort Vertreter für Eis, Lebkuchen, Sekt, Tortenböden und Brauselutscher. Er hat erst für eine Firma gearbeitet, dann für eine zweite, dritte, vierte, fünfte Firma und sein Gehalt hat sich ziemlich schnell gesteigert. Von 500 Reichsmark, 500 D-Mark, 600, 700, 800, 900, 20, 30, 40, 50, 60, 80, 90, 100.
Herr Walter ist sehr viel Auto gefahren. Er war zuständig für den ganzen Bereich Hamburg-Schleswig-Holstein. Seinen ersten Wechsel hat er unterschrieben für seinen ersten VW. Dann ist er umgestiegen auf Opel, Opel Kadett, Opel Senator, Opel Kapitän. Und dann irgendwann kam der erste Mercedes-Benz. Er war ein sehr guter und sehr schneller Autofahrer. Sein Arbeitsalltag fing morgens Montag um halb sieben an und ging bis Samstagabend.
Sonntag war frei, Wagen waschen zum Beispiel oder mal einen Ausflug mit den Schwiegereltern. Man hat sich auch manchmal was gegönnt, zum Beispiel ein verlängertes Wochenende an der See oder einen kleinen Skiurlaub. Weil meistens hat man darauf geachtet, dass das Geld immer schön zusammenbleibt. Man wusste nie, ob er vielleicht auch mal eine Firma wieder verlieren würde. Und er hatte also einen ungefähr 80-Stunden-Wochenalltag und diese Arbeit hat er gemacht bis zu seinem 70. Lebensjahr.
Herr Walter und seine Frau haben dann überall nach dem geeigneten Heim für sie gesucht. Aber keins hat ihnen so richtig gefallen. Außer dem Rosenhof in Blankenese. Aber der war schon die nächsten sieben Jahre ausgebucht.
Und dann kam plötzlich der Neubau, der Rosenhof in Travemünde. Leben, wo andere Urlaub machen. Mit Traveblick und direkten Zugang zur Travemünder Altstadt. Das war eine sehr schöne Zeit für Herrn Walter und seine Frau. Herr Walter sagt oft, die Zeit wird er gern nochmal erleben. Er hat die letzten fünf Jahre seine Frau dann jeden Tag durch die Travemünder Altstadt geschaukelt. Die kannten dort alle, alle haben sie gegrüßt.
Sie hatten zwei Einzimmerwohnungen mit einem Durchbruch. Eine Einzimmerwohnung hat 3000 Mark gekostet, dann irgendwann 3000 Euro, also zusammen 6000 Euro. Das Ganze waren dann im Jahr ungefähr 80.000 Euro. Sie sind davon ausgegangen, dass sie noch ungefähr zehn Jahre leben würden. Daraus wurden aber schnell 17. Herr Walter sagt auch ganz gerne mal knapp 30. Und im Großen und Ganzen sind sie dann im Rosenhof zwei Millionen Euro losgeworden. Und jetzt muss Herr Walter beim Amt betteln gehen. Das hätte er nicht gedacht, dass es mal so weit kommt.
Einer von uns drei Schauspielern hier im Studio stirbt zuerst. Das ist sicher. In Deutschland stirbt jeder vierte an Krebs. Das heißt, wenn wir drei hier alle totales Glück haben, dann stirbt keiner von uns an Krebs. Das ist bei Ihnen, die jetzt zuhören, schon ganz anders. Sie sind ungefähr 100.000. Das heißt, 25.000 von Ihnen sterben auf jeden Fall an Krebs.
Wenn wir hier heute Abend fertig sind und ich aus dem Studio gehe und irgendwie noch ganz schnell zur S-Bahn renne und nicht aufpasse, kann es sein, dass mich ein LKW überrollt und ein Krankenwagen kommt und ich dann auf dem Weg ins Krankenhaus noch sterbe. Also theoretisch ist möglich, dass dann Herr Walter noch zu meiner Beerdigung kommt. Das ist möglich. Und diesen Gedanken, den finde ich irgendwie reizvoll.
Meine Kollegin Marie hier neben mir am Mikro hatte heute Morgen Kopfschmerzen und hat eine Kopfschmerztablette genommen. Und das macht sie vielleicht auch noch so zwei Jahre lang, bis sie dann irgendwann zum Arzt geht. Und der stellt fest Gehirntumor. Dann ist sie 28, dann wird es... Ich stelle mir vor, der Tod ist ein großer, dunkler Raum. Ich stelle mir vor, der Tod hat keine Decke. Ich stelle mir vor, es gibt auch keine Fenster und keine Türen. Ich stelle mir vor, der Tod hat einen süßlich-würzigen Geruch.
Ich stelle mir vor, der Tod ist irgendwo zwischen uns. Vielleicht einen Meter über unseren Köpfen. Ich stelle mir vor, der Tod ist auf einer weißen, großen Fläche. Ich stelle mir vor, der Tod ist einsam.
Herr Walter und seine Frau hatten zwei Jahre lang Kontakt zu Dignitas, der Schweizer Sterbehilfeorganisation. Und dann waren sie beide auf der grünen Liste. Das heißt, sie hätten in die Schweiz fahren können und sich dort, wie Herr Walter immer sagt, einschläfern lassen können. Das hätte die beiden nochmal jeweils 3000 Euro gekostet und da hat Herr Walter gesagt, das ist zu viel. Das machen wir lieber selbst. Das sind ja Halsabschneider. Das machen wir lieber selbst. Das machen wir lieber selbst. Das machen wir lieber selbst.
Meiner war mal der Reichste. Meiner hatte mal eine unechte Stradivari. Meiner kennt Hamburg besser als jeder Taxifahrer. Meiner hat eine ganze Spirituosenabteilung im Schrank. Meiner hat ganz lange auf dem Kiez gearbeitet. Meiner hat mal die Hosen vor mir runtergelassen. Meiner hat mir mal einen Bronzeengel geschenkt, den er von einer Pfarrerin bekommen hat. Meiner ist am meisten gereist. Meiner hatte die meisten Männer.
Meine hat Lungenkrebs besiegt. Meine hat die meisten Krebssorten. Meine hat manchmal den Schwindel, weil die Batterie seines Herzschrittmachers nicht funktioniert. Meine hatte mal eine Leiche im Keller und niemand wusste, wem sie gehört. Meine war mal ein Vierteljahr im Krankenhaus und keiner wusste, was es ist. Meine hatte eine Chemotherapie hinter sich. Meine hat einen Katheter. Meine hat einen Herzschrittmacher. Meine hat einen künstlichen Darmausgang.
Petra hat einen künstlichen Darmausgang, den hat sie seit 2010 wegen der Operation wegen dem unheilbaren Dünndarmkrebs. Und sie selber sagt, dass das das Schlimmste ist, was ihr passieren konnte. Sie kann nicht auf den Weihnachtsmarkt, nicht mehr reisen mit Klaus. Also all das, was sie so sehr geliebt hat, geht nicht, weil sie sagt immer, so ein Ding reicht gut und gerne mal und dann hat man den Schweinkram.
Und einmal war ich bei denen und dann ist Post gekommen und ich hab gefragt, was denn mit der Post gekommen ist. Und dann hat Klaus gesagt: "Beutel." Und ich meinte: "Ja, was für Beutel?" Dann meinte er: "Na, für den künstlichen Darmausgang." Und dann hab ich gefragt: "Was ist denn so ein künstlicher Darmausgang?" Und dann ist Petra aufgesprungen, direkt zum Schrank gelaufen, hat so einen Ordner rausgeholt mit 1000 Postbänken und hat angefangen zu suchen und mir das zu verbildlichen. Und dann hat sie mir so ein Bild von so einem jungen Mann gezeigt.
Der hat so rechts neben dem Bauchnabel ein Loch im Bauch und daran hängt ein Beutel. Und sie sagt, ja, also da hängt dann der Beutel dran, ne, den versteckt man dann in der Hose und der füllt sich dann und dann geht man gut und gerne mal gekrimpt. Und dann mischt Klaus sich ein und sagt, äh, Petra, magst du nicht mal die Hosen runterlassen? Dem Jungen mal zeigen, wie das aussieht.
Und sie sagt: "Ja, klar, kann ich machen." Und er sagt: "Wenn du das überhaupt sehen willst, nicht dass du uns hier gleich umkippst." Und ich sage: "Nein, nein, klar, immer her damit." Natürlich möchte ich es nicht sehen. Zu spät, Petra hat schon die Hosen runtergelassen und fängt an zu erklären: "Also hier ist der Verschluss, das darfst du dir vorstellen wie so ein Tupperwarenverschluss und daran hängt das Ding und das füllt sich dann." Und ich schaue mir das Ganze an
Und seh diesen Beutel, der bezogen ist mit so ner bräunlichen, hautfarbeähnlichen Schicht. Und man kann gar nicht sehen, was innen vor sich geht. Es ist also gar kein schlimmer Anblick. Das Sterben ist zu spüren in der Appetitlosigkeit. Das Sterben ist zu spüren in dem weniger Rauchen.
Das Sterben ist zu spüren an den kleinen Augen. Das Sterben ist zu spüren an dem geringeren Bewegungsradius. Das Sterben ist zu spüren an dem nur noch in eine Richtung gucken. Das Sterben ist zu spüren an ihren Verabschiedungen. Das Sterben ist zu spüren an dem Geschenke machen. Das Sterben ist zu spüren an ihrem Witzen. Das Sterben ist zu spüren an dem nicht mehr wollen. Als Kind habe ich gedacht, ich bin unsterblich. Und manchmal glaube ich das immer noch. Als Kind habe ich gedacht, bis ich mal alt bin, da sind bestimmt schon so viele Medikamente erfunden, dass man gar nicht mehr sterben muss. Oder wir können uns alle einfrieren lassen.
Oder wir leben schon längst auf einem anderen Planeten. Oder wir haben so viele Konservierungsstoffe gegessen, dass man gar nicht mehr altert. Als Kind kamen mir Urlaube auch unglaublich lange vor. Ich habe auch nie daran gedacht, dass sie irgendwann mal zu Ende sein könnten. Aber umso enttäuschter war ich dann, wenn sie doch irgendwann zu Ende waren. Und dadurch habe ich mir angewöhnt, immer das Ende mitzudenken. Und seitdem rast die Zeit an mir vorbei. Ich will das Ende nicht noch mehr mitdenken müssen. Ich will mich nicht damit beschäftigen.
Ja?
Wir haben Besuch! Von wem? Einer Schauspielerin! Wieso? Ein Stück über dich! Warum? Naja, und dann stehe ich daneben und versuche zu erklären, dass ich ja eigentlich kein Stück über sie mache, sondern eher über ihn. Und zwei Wochen nach diesem Kennenlernen ist die Frau von Herrn Walter gestorben. Jedes Mal, wenn ich zu Helga gehe, dann schaue ich schon durch die Glastür beim Hospiz durch, ob die Kerze brennt oder nicht, weil das ist das Zeichen dafür, ob an dem Tag jemand gestorben ist.
Und dann schaue ich, wenn die Kerze brennt, welcher Name darunter geschrieben ist und hoffe jedes Mal, dass da nicht Helga steht. Wenn ich Herrn Walter anrufe, dann rast mein Herz immer schon, wenn ich die Nummer gewählt habe. Er hat einen Anschluss direkt auf seinem Zimmer. Und dann denke ich aber, wenn es schon mal klingelt, dann ist der Anschluss ja auf jeden Fall nicht gekündigt und es ist schon jemand anderes dort eingezogen. Bei dem Gespräch hier, was ich gerade auf dem Diktiergerät habe, frage ich sie, ob sie den Krebs fühlt. Und sie sagt, ja klar fühlt man den Krebs.
Das ist wie so ein ganz heißes Metallband, was um die Brust geht und das kocht dann förmlich. Und dann sage ich immer zu den Kindern: "Ruhig, ruhig, eure Mutter kocht gerade ihre Krebse ab." Hier habe ich sie jetzt gerade gefragt, ob es irgendwas gibt, dass sie noch mal leben möchte, also irgendeinen Moment. Und sie sagt: "Nö, nö, das war halt so, das ist vorbei." Und jetzt frage ich sie gerade: "Und was hättest du gemacht, wenn du keinen Krebs bekommen hättest?" Und dann sagt sie: "Ach, da hätte ich nicht mehr viel gemacht."
Ich hätte mir noch mal einen kleinen Hund angeschafft und hätte mich auf die Parkbank gesetzt wie die alten Leute. Hier habe ich sie gefragt, wann sie das letzte Mal geweint hat. Dann sagt sie, gestern. Ich sage, wie gestern? Ja, ich war gestern bei der Ärztin, bei meiner Onkologin und die hat mir gesagt, dass die Werte jetzt besser geworden sind und da musste ich heulen.
Herr Walter erzählt hier gerade, wie sie so beim Höhepunkt seiner Karriere ins Atlantikhotel eingeladen worden sind, seine Frau und er. Und jetzt, es war kurz vor Weihnachten und sie dachten, er kriegt jetzt irgendeine Auszeichnung überreicht. Und dann hat der Chef ihm mitgeteilt, dass er gekündigt wurde. Und dann sagt sie auf einmal, siehst du das? Guck mal an der rechten Wand. Siehst du das? Und da hinter dir. Siehst du das? Und da direkt neben dem Radio.
Siehst du das? Und dann sagt sie, das habe ich schon als Kind gerne gemacht. Aus Strukturen und Wäsche Gesichter gelesen. Und guck mal da, direkt neben der Tür. Siehst du das? Und da, direkt an der Decke. Siehst du diese beiden kleinen Augen und diesen großen Mund? Und guck mal da, direkt unterm Fenster. Siehst du das? Und dann sagt sie, mach mal die Badezimmertür zu. Da steht der schwarze Mann. Ich gucke hin und schaue sie wieder an und frage sie, siehst du den öfter? Ja, sehr oft.
Der war auch schon bei mir in der Wohnung. Und ich frage sie, und kennst du ihn? Nee, ich kenne den nicht. Ich erkenne den auch nicht so richtig. Der hat so ein schwarzes Basecap auf und so Teile an der Seite. Und immer wenn ich hingucke, guckt er weg. 2005 sitzen Petra und Klaus im Auto. Sie sind auf dem Weg zum Campingplatz von Klaus auf der Lüneburger Heide. Eine Woche davor war Petra beim Arzt. Sie ist Beifahrerin und Klaus fährt den Wagen.
Sie greift hinter sich auf die Rückbank und holt einen Brief aus ihrer Tasche. Sie öffnet den Brief und liest ihn. Klaus, ich habe Krebs. Sie fahren weiter. Irgendwann fängt Petra an zu heulen. Sie fahren weiter auf den Campingplatz und verbringen das Wochenende dort. Und am Montag sind sie dann gemeinsam zum Arzt gegangen. Lalalalalalalala
Mein erster Mann, den habe ich mit 17 kennengelernt und mit 18 geheiratet. Und dann ist er im Krebs gestorben.
Und dann ist er im Krebs gestorben. Geben Sie doch mal die Sauerstoffflasche her, der atmet doch noch.
Und meinen dritten Mann, den habe ich auch auf dem Kiez kennengelernt, der stand mitten im Weg. Da habe ich gesagt, worauf wartest du, dass du Pferde scheißt oder was? Da hat er gesagt, du hast die richtige Schnauze, du gefällst mir. Und dann, ein paar Tage später, waren wir ein Paar. Und dann ist er im Krebs gestorben. Geben Sie doch mal die Sauerstoffflasche her, der atmet doch noch. Und da hing er dann an der Tür, stranguliert.
Einmal, da kam mein Sohn und hat gesagt, er würde sich gerne eine Punksträhne machen lassen. Hab ich gesagt, klar, kann er machen, wenn er will. Und den nächsten Tag kam er wieder, hat gesagt, er würde sich gerne noch eine Punksträhne machen lassen. Hab ich wieder gesagt, na klar. Und dann noch ein paar Tage später sah er schon aus wie so ein richtiger Punk. Und da hing er dann an der Tür, stranguliert, den eigenen Sohn totzufinden. Das ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann.
Kurz vor Weihnachten habe ich dann meine Mutter zu mir genommen, weil sie einen Schlaganfall hatte. Und dann hat sie mich auf einmal zu sich gewunken und hat gesagt, sie hätte gern Schnaps. Habe ich ihr Schnaps gebracht. Und das hat aber die Ärztin mitbekommen und hat gesagt, sind Sie denn verrückt? Sie können doch Ihrer Mutter keinen Schnaps geben. Habe ich gesagt, natürlich kann ich. Ich kann alles. Und dann habe ich das Fenster aufgemacht, dass die Seele wegfliegen kann.
Vor den Toten saß ich immer alleine. Dann hab ich Petra mal nach Kindern gefragt, was sie von Kindern hält. Und sie meinte: "Ach, Kinder sind super, die sind so schön naiv und ehrlich, ne?" "Also, wenn ein Kind nicht sieht, sagt es bestimmt als erstes: 'Wann sterbst du?'"
Dann habe ich sie gefragt, ob es irgendwas gibt, das sie bereut. Und sie meinte zu mir, nee, ich kann nachts ganz schlecht schlafen, wenn ich was bereue. Deswegen sage ich immer gleich alles, was ich zu sagen habe. Petra, hast du ein Lebensmotto? Und sie sagt, kiekst in den Sinn und nicht ins Musloch. Petra, gibt es für dich einen Unterschied zwischen Leben und Tod? Sie meinte, was sind das für Fragen, Junge? Noch lebe ich doch, woher soll ich denn das wissen? Und Petra, was meinst du würdest du machen, wenn du nicht krank wärst?
Ja, weiß ich nicht. Verliebt sein, mit Klaus leben, mein Leben genießen, so wie jetzt. Und glaubst du an die Wiedergeburt? Da sagt sie, ja mal ja, mal nein, aber ich will gar nicht wiedergeboren werden. Und dann habe ich sie gefragt, Petra, schränkt dich deine Krankheit sehr ein? Und sie meinte, weißt du, ich lebe nicht für oder gegen meine Krankheit. Ich lebe einfach mit ihr.
Helga hat ganz viele Spitznamen für mich. Sie nennt mich Truschie, Schuschie, Mäuschen, Kindchen. Sie hat auch ganz viele Tipps für mich. Zum Beispiel sagt sie, schafft er ja keinen Mann an und wenn schon, dann heirate ihn nicht, weil sonst denkt er, du bist sein Eigentum. Zu Beginn der Recherchephase, als ich von Herrn Walter erzählt habe, hat unsere Dramaturgin Hanna irgendwann gesagt, du, der ist doch verliebt in dich.
Also mit das Schönste an diesen ganzen Gesprächen ist, wenn die mehr oder weniger nebeneinander sitzen, wie so zwei Gehirnhälften, die dann miteinander funktionieren und sich ergänzen.
Bei Helga hängen ganz viele Bilder von ihrem Enkel. Da ist er ungefähr acht drauf und sie erzählt auch ganz viel von ihm. Und ich bin irgendwie davon ausgegangen, dass er auch wirklich acht ist. Aber dann kam er einmal zu Besuch und da war er 25. Und dann hat sie uns beide so eine Weile angeguckt und hat mich gefragt, wie groß ich bin. Dann habe ich gesagt 1,72. Und da hat sie ihn angeguckt und ihn gefragt, wie groß er ist. Dann hat er gesagt 1,85. Und dann hat sie gesagt, ach das passt ja. Einmal meinte Klaus zu mir,
Weißt du, wir haben unser Leben lang tolle Typen kennengelernt. Und jetzt kennen wir auch dich. Es gibt öfter Essen, wenn ich dort bin. Und einmal, da wollte sie mir unbedingt was anbieten, aber ich hatte an dem Tag keinen Hunger und habe es deswegen abgelehnt. Und dann hat sie gesagt, ach so, du denkst also auch, dass Krebs ansteckend ist. Einmal habe ich Herrn Walter zusammen mit meinem kleinen Sohn besucht.
Und dann sind wir einem Mitbewohner aus dem Heim begegnet und der hat Herrn Walter angeguckt und hat gesagt, also Herr Walter, also so habe ich Sie ja noch nie, was ist denn? Und dann hat Herr Walter über das ganze Gesicht gestrahlt und gesagt, ja, ich bin nochmal Urgroßvater geworden.
Helga erzählt gerne ganz viele Geschichten und am liebsten so vielen Leuten wie möglich. Das nennt sie dann Salontage machen. Einmal hat sie mir zum Beispiel erzählt, dass ihre Mutter Pfannkuchen gebacken hat und hat alle Russen eingeladen und die Kinder haben mitgegessen. Und es waren die leckersten Pfannkuchen, die Helga je gegessen hat, was sie aber nicht wusste, dass es mit Maschinenfett gebacken war. Und die Russen klopfen dann später und sagen, oh, oh, oh, oh, unseren Kameraden geht es so schlecht, die liegen im Krankenhaus. Aber den Kindern ging es wie vorher gut. Hast du Angst vor dem Tod?
Nee, Angst habe ich eigentlich nicht. Ich bin eher neugierig, was da kommt. Glaubst du an Wunder? An Wunder direkt glaube ich nicht, aber ich glaube, dass es mehr gibt, als unser Verstand begreifen kann. Wenn du den Satz vervollständigen müsstest, das Leben ist, was würdest du dann sagen? Aufregend. Und liebst du das Leben? Ja, wenn man den Tod abzieht, dann schon. Was glaubst du, wer dich am meisten vermissen wird, wenn du nicht mehr da bist? Ich glaube, mein Enkel. Und gibt es irgendwas, was du noch tun willst, bevor du stirbst?
Nee. Es ist gut jetzt. Seit wann weißt du, dass du sterben musst? Spüren tue ich das schon ziemlich lange, aber definitiv weiß ich es erst seit letztem Sommer. Ich bin dann ins Krankenhaus gefahren, weil mir schlecht war und dann hat der Arzt immer so an seiner Brust rumgefummelt und hat gesagt, ja Problem, Problem. Dann habe ich gesagt, ja was ist es denn? Und das wollte er mir erst nicht sagen, hat er immer mit seinem Kollegen getuschelt. Da habe ich gesagt, ja sagen Sie doch, dass es Krebs ist. Und dann sagt er, ja woher wissen Sie das? Sag ich, ja das spürt man.
Und was ist es für ein Krebs? Ja, Brustkrebs. Sag ich, aha. Und noch einer? Ja, Bronchalkrebs. Aha. Und noch einer? Ja, Lungenkrebs. Na, und dann haben die Ärzte gesagt, dass ich mich um den Hospizplatz bemühen soll. Ich hab Schiss davor, dass es meiner Mutter schlecht geht. Ich hab Schiss davor, dass mein Vater schlecht geht. Ich hab Schiss davor, dass meinem kleinen Bruder schlecht geht. Und ich hab Schiss davor, dass es mir schlecht geht.
Ich habe Schiss davor, dass es meiner Mutter schlecht geht. Ich habe Schiss davor, keinen Erfolg zu haben. Ich habe Schiss davor, vor Gott schlecht dazustehen. Ich habe Schiss davor, in die Hölle zu kommen. Ich habe Schiss davor, ein schlechter Mensch zu sein. Ich habe Schiss davor, keinen Erfolg zu haben. Ich habe Schiss davor, dass mein Freund schlecht geht. Dass meine Liebsten nie etwas erreichen. Dass ich nichts erreiche. Dass ich arm bleibe. Dass ich kein Geld habe. Ich habe Schiss davor, vor Gott schlecht dazustehen. Ich habe Schiss davor, erfolglos zu sein. Ich habe Schiss davor, vor Gott schlecht dazustehen.
Ich habe Schiss davor, niemals Liebe zu finden. Ich habe Schiss davor, nicht die richtige Frau zu finden. Ich habe Schiss davor, keine Familie zu gründen. Ich habe Schiss um meine ungeborenen Kinder. Ich habe Schiss vor Krankheit. Ich habe Schiss vor Krebs. Ich habe Schiss vor Aids. Ich habe Schiss davor, dahin zu wehen, die mir zu holen.
Ich habe Schiss zu leiden. Ich habe Schiss davor, anderen Menschen Schaden zuzufügen. Ich habe Schiss davor, dass man mir Schaden zufügt. Ich habe Schiss davor, dass man mich verletzt. Ich habe Schiss davor, zu weinen. Ich habe Schiss davor, dass man in mein Herz bricht. Ich verstehe das nicht! Ich verstehe nicht, wie man Krebs hat und trotzdem glücklich ist. Ich verstehe nicht, wie in ihrer Situation...
Ich verstehe nicht, wie man stirbt und trotzdem glücklich ist. Lieber Herrgott, mach, dass unser Ende gut zu Ende geht.
Ist das Ihr Gebet? Ja. Lieber Herrgott, mach, dass unser Ende gut zu Ende geht. Ich habe Herrn Walter gefragt, was er glaubt, was nach dem Tod kommt. Ja, da mache ich mir auch oftmals Gedanken. Es heißt immer, man kommt in den Himmel oder in die Hölle. Ich gucke immer, wo ist eigentlich der Himmel? Man kann sich da immer gar keine richtigen Vorstellungen von machen. Ja.
Ich frage mich, wo fängt er an, wo hört er auf? Und glauben Sie, dahin geht's? Ich... Nein, ich glaube nicht dran.
Immer wenn ich zu Helga ins Hospiz gehe, da gibt's entweder gerade was zu essen oder sie wird gefragt, was sie essen möchte. Und ich dachte immer, das wäre ja total toll, weil dann kann man sich alles bestellen, was man möchte. Da gibt's Sternköche, die einem jeden Wunsch erfüllen, aber Helga überfordert die Auswahl immer total und am liebsten nimmt sie einfach das, was sie am Vortag hatte. Ich hab Herrn Walter gefragt, was er jetzt mal am liebsten hätte. Da hat er gesagt, so ein hauchdünnes Kalbsschnitzel wäre toll.
1992 war Klaus im Krankenhaus wegen dem Autounfall und da hat er sich an Weihnachten eine Gans gewünscht. Und dann hat Petra ihm eine gemacht und dann meinte sie: "Naja, um das Ding frisch zu halten, haben wir es einfach aus dem Fenster gehängt." Herr Walter ist in dem Wohnheim, in dem er jetzt wohnt, meistens gar nichts, weil er sich so ekelt. Weil er sagt, er sieht, wie der Pfleger seinen Zimmernachbarn gerade gewickelt hat und ihm dann das Essen bringt. Und wenn er dann die Fingerabdrücke auf dem Tellerrand sieht, dann kann er nichts essen.
Einmal hatte Helga einen Freund, der hatte Krebs. Kurz bevor er gestorben ist, wollte er noch mal groß heiraten auf dem Kiez. Da hat sie gesagt: "Nee, mach das einfach so. Ich bekoche dich und dann machst du es gemütlich zu Hause. Wenn's dir schlecht geht, gehst du ins Nachbarzimmer und kannst dich kurz hinlegen."
Und dann hat sie ihm alles gekocht, was er wollte: Hühnerbrust, Schweinebrust, Entenbrust und auch Pudding. Vanillepudding, Erdbeerpudding, Karamellpudding, Schokoladenpudding. Und dann hat sie jeweils dieses ganze Essen da auf dem Tisch gehabt. Und dann hat der Freund das gesehen, sie wollten gerade anfangen. Und dann ist er aber nochmal rüber ins Nachbarzimmer und dann ist er da gestorben. Und dann kamen die Verwandten aus dem Zimmer wieder raus und haben dann gefragt: "Ja, was sollen wir denn jetzt mit dem ganzen Essen machen?" Und da hat Helga gesagt: "Ach, das Frieren war einfach ein und Essen zum Fellversaufen."
Petra bezeichnet die Zeit der Chemotherapie als die schlimmste in ihrem Leben. Eine Zeit, wo sie Stimmungsschwankungen hatte und kaum Appetit. Was ihr aber immer Kraft gegeben hat, das war Cabri-Eis. Herr Walter weiß, dass es Ärzte gibt, die Menschen unterstützen, die nicht mehr leben wollen. Und er versteht nicht, warum die Kirche Selbstmörder wie Verbrecher verurteilt. Und dafür hasst er die Kirche. Helga hat immer wieder gesagt, wenn es nach ihr gehen würde, dann würde sie sich eine Spritze geben lassen und gut ist.
Und dann habe ich sie mal gefragt, wirklich, du würdest nicht gerne noch ein paar Tage leben? Und da hat sie gesagt, nee. Als ich einmal bei denen war, ist Peter auf die Toilette gegangen. Und dann hat Klaus mir anvertraut, dass er im Krankenhaus sogar mal für sie gebetet hat. Und das hat er noch nie gemacht. Ich habe Herrn Walter gefragt, ob er eine Erklärung dafür hat, dass er nach dem Selbstmordversuch wieder aufgewacht ist. Da sagt er, nein, habe ich nicht. Als ich nach unserer Recherche Helga wieder besucht habe, da habe ich Gernot, unseren Regisseur, mitgenommen.
und wollte die beiden miteinander bekannt machen. Und dann hat sie ihn so zu sich gewunken und er dachte, vielleicht will sie ihn jetzt umarmen. Aber dann hat sie ihm eine Ohrfeige gegeben und gesagt, ja, du weißt schon wofür. Und er hat sie angeguckt und den Kopf geschüttelt und dann sagt sie, tu nicht so, du hast das Bier verschüttet. Und das ganze Gespräch über war sie dann ziemlich verwirrt und hat uns kaum noch erkannt. Und dann drei, vier Tage später habe ich sie wieder besucht und
Und auch da war sie kaum noch ansprechbar. Und anderthalb Wochen später ist sie dann gestorben. Jeden Morgen gehen Petra und Klaus zum Kiosk an der Ecke. Da holen sie sich jeder eine Ausgabe der Bild-Zeitung. Danach gehen sie gemeinsam hoch und gehen sie zusammen Stück für Stück durch. Also wenn ich ehrlich bin, am Anfang war gar keine Liebe da.
Die ist erst so über die Jahre entstanden. Und dann sind wir so zusammengewachsen, dass wir am Ende ein Stück waren. Naja, es gab mal Meinungsverschiedenheiten, klar. Aber gestritten, das haben wir noch nie. Als er dann gestorben ist, da kam die Nachbarin und hat gesagt, mein herzliches Beileid. Aber ich hab gesagt, nee, ich bin erleichtert. Eine erste Liebe eigentlich nicht. In der Zeit, in der man sich hätte verlieben wollen, wurde ich ja eingezogen. Also das waren ja die verlorenen Jahre.
Ehrlichkeit. Dass man seine Meinung ganz offen sagen kann, dem Partner gegenüber. Am Ende habe ich nur noch von meiner Frau gelebt und meine Frau nur noch von mir. Es konnten hundert Männer in einem Raum sein, aber ich hatte garantiert den Doofen an der Backe. Ich packe also meine Sachen zusammen und dann sage ich, das war's für heute, Petra. Dann gebe ich ihr die Hand, verabschiede mich und Klaus bringt mich zur Tür und schließt hinter mir die Tür wieder ab.
Immer wenn wir uns verabschiedet haben, haben wir uns auf die Wange geküsst und sie hat zu mir gesagt, du kannst dich jederzeit gerne bei mir melden. Du kannst mich gerne auch wecken. Wenn wir uns jetzt verabschieden, dann bringt mich Herr Walter noch bis raus auf die Straße und begleitet mich ein Stückchen. Und dann bleibt er an der Litfaßsäule stehen und ich gehe die lange Straße lang. Dann drehe ich mich immer noch ein paar Mal um und sehe ihn immer kleiner werden. Aber er steht immer noch mit seinem Rollator an der Litfaßsäule und winkt.
Als ich Petra das letzte Mal gesehen hab, da hab ich ihr noch versprochen, dass wir uns auf jeden Fall wiedersehen und dass ich sie anrufe. Und sie meinte nur: "Mach mal dein Ding, mein Junge." Und dann hab ich noch zwei, drei Mal telefonisch versucht, sie zu erreichen, hab sie aber nicht erreicht und dann hab ich auch irgendwann nicht mehr angerufen. Und zwei, drei Monate später hab ich dann per E-Mail erfahren, dass sie im Hospiz gestorben ist. Jetzt tritt Herr Walter auf den Balkon. Jetzt liegt jemand anders in Helgas Zimmer. Jetzt liegt Klaus allein im Ehebett.
Jetzt schaltet er den Fernseher ein. Jetzt stehen die Sachen irgendwo im Keller. Jetzt liest er alleine die Bild-Zeitung. Jetzt sucht er mit seinen Füßen nach den Schlappen. Jetzt vermisst er sie. Jetzt schaut er auf dem Speisewochenplan nach, was es morgen zu essen gibt. Jetzt wird jemand anders gefragt, was er essen will. Jetzt betätigt er die Klospülung. Frühstück. Mittagessen. Kaffee. Und Essen. Frühstück. Mittagessen.
Bei einem meiner letzten Besuche hat Herr Walter gesagt, ja, ich bin der Letzte von den Dreien. Und dann wusste ich erst gar nicht, wovon er redet. Na, von uns Dreien, von drei Leben. Mittagessen, Frühstück. Einmal stand Herr Walter ganz lange vor mir und hat mich angeschaut. Und dann hat er gesagt, es sind noch genau 60 Jahre, bis Sie so alt sind wie ich. Ich habe mal mit Helga über Wünsche gesprochen und dann habe ich ihr gesagt, ich wünsche mir ganz lange zu leben.
Und daraufhin hat sie mich verblüfft angeguckt und mich gefragt, warum das denn? Drei Leben. Hörspiel von Gernot Grünewald. Nach einem Theaterprojekt von und mit Cornelia Dörr, Marie Seyser, José Barros. Musik Daniel Sapir.
Ton Nikolaus Löwe und Iris König Regieassistenz Silvia Vormelker Dramaturgische Mitarbeit Hanna Kowalski Regie Gernot Grünewald Eine Produktion des Rundfunk Berlin Brandenburg mit Deutschland Radio Kultur 2012 Dramaturgie und Redaktion Juliane Schmidt