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Gesicht verloren

2025/2/9
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Das Berlin Hörspiel

AI Chapters Transcript
Chapters
The speaker delves into the symbolism of the flower 'Vergissmeinnicht' (Forget-me-not), exploring its historical names and associations with love and remembrance.
  • Vergissmeinnicht is historically linked to eyes due to its appearance.
  • The flower symbolizes loving remembrance.
  • Vergissmeinnicht is described as a pervasive plant, much like an unyielding memory.

Shownotes Transcript

Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht! Vergiss mein Licht!

Der Name ist seit dem 15. Jahrhundert belegt. Davor hieß das Gewächs Mausohr, Gansaug und Froscheuglein. Offenbar erinnerten die Blüten an Augen. Man mutmaßt, dass Augen dann mit Lieben in Verbindung gebracht wurden. Warum eigentlich miteinander sehen vielleicht? Schöne Vorstellung, wenngleich nicht immer zutreffend. Dass die Pflanze deshalb ihren Namen erhielt und zum Symbol liebenden Erinnerns wurde.

Mich erinnern Vergissmeinnicht überhaupt nicht an Augen. Dazu finde ich sie viel zu klein und zu hell und zu zahlreich. Da ist Mausohr doch passender. Andererseits ist da dieses blaue Blinken. So ein Feld voller Vergissmeinnicht erinnert mich fast an Sternenhimmel.

Zur Entstehung seines Namens habe ich also eine von Augen ganz unabhängige Vermutung. Ist doch das Vergissmeinnicht ein ausgesprochenes Wuchergewächs, beinahe ein Unkraut. Hat man in einem Jahr eines, sind es im nächsten 20. Denn jede der zahlreichen kleinen Blüten bringt noch zahlreichere kleine Samen hervor. Kurz und gut. Sind einmal Vergissmeinnicht da, kriegt man sie so leicht nicht mehr weg. Ich stelle mir vor...

Wie die Geliebte, bevor sie fortgeht, dem Geliebten einen Topf Vergissmeinnicht in den Garten setzt. Mehr als Mahnung, denn als Geschenk. Um zu sagen, ich bleibe. Mich wirst du so leicht nicht wieder los. Nicht dieses Jahr und nicht nächstes. Und übernächstes erst recht nicht. Kleine blaue Denkzettel verteilen sich überall. Blinken und blicken.

Gucken den Geliebten an aus Frosch- und Gänseaugen. Gehen auch dann nicht weg, wenn die Geliebte wegbleibt. Verschwunden ist, untreu geworden, verhindert, verloren, verstorben, nicht tot zu kriegen. Tja, und nun? Ihre Brüder nannten sie Ainur. Mondstrahl, den Fotos nachzuurteilen, passt das. Oberlandstraße, der Mark erstrahlt.

Passt erstaunlich gut zu der langen, kühnen Nase. Einer Sultanin würdig. Zu den Augen, die dunkel und tief sind wie ein See bei Nacht. Mondsee. Jetzt nisten im Leib der Schwester die Würmer. Einur. Schöner Name. Muss man Mördern Geschmack zubilligen? Punkt, Punkt, Komma, Strich. Fertig ist das Mondgesicht. Umgekehrt geht es aber noch schneller. Deutschland wählt West. Und dann ist alles vorbei.

Sie hat die Pistole gesehen. Sie hat es ja kommen sehen. Sehen bis zuletzt. Hallo? Hallo, stopp! Sie riet dem Bruder dringlich von der Tat ab, stand in der Zeitung. Riet ihm ab, solange sie ihr Gesicht noch hatte. Dann die ersten zwei Kugeln aus unmittelbarer Nähe. Auf Wangen? Stirn? Sehen bis die Augen brechen. Doch das sah sie dann nicht mehr. Das sah nur er. Und er, Bruder, richtet die Waffe auf den Kopf der am Boden liegenden.

An einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof. Da welken jetzt ein paar Blumensträuße und ein Büschel Vergissmein nicht. Ein Jahr lang oder zwei war sie in vieler Munde. Syrici, Hatun, die mit den drei Brüdern. Jetzt nisten in ihrem Leib die Würmer. Ich hab ein Foto. Darauf sieht sie schön aus. Sie lacht. Sie schaut ein wenig auf den Betrachter herab. Mit hochgezogenen Brauen. Ironie, Spiel, Einladung.

Doch ich kann sie mir auch streng vorstellen. Schmal und kantig, wie sie ist. Sehr kurdisch. Oder was man dafür hält: Ein Gesicht der Berge, der Kargheit, des Überlebenskampfes und auch des Schweigens. Stillschweigens. Verschweigens. Aber Hatun ist Kreuzbergerin. Ihr Land ist eine verregnete, verrückte, umbrechende Großstadt. Da ist sie mittendrin. Von ihrer Familie verstoßen.

ins Leben gestoßen, ins Gastland, ins Andere. Hatun macht den Schulabschluss nach. Erfolgreich. Hatun absolviert eine Lehre. Erfolgreich. Während ihre Brüder an Straßenecken herumstehen und mit Schlüsselbunden rasseln. Sie macht eine Therapie. Sie hat Männer. Sie redet. Sie trinkt. Sie lacht. Hatun auf Stöckelschuhen. Hatun Discoqueen. Die Sultanin im String. Manchmal holt sie auch.

Aber ihresgleichen hat schon ganz andere Gewichte gestemmt drüben in den kurdischen Bergen. Und wie ihre Mutter und deren Mutter? Eine unendliche Kette von Müttern kann auch hart tun, wenn es darauf ankommt, schweigen. Schweigen gegenüber der Sozialarbeiterin, der Freundin gegenüber. Schweigen in Einklang mit Jahrhunderte alter Tradition. Schweigen mit der Familie. Sterben muss sie sowieso. Die Herausgeforderte funkelt vor Herausforderung. Sie ist stolz.

Eine schöne Frau, eine tolle Elektroinstallateurin, denn sie will weder Köchin noch Sekretärin noch Übersetzerin werden. Vielleicht ist sie es leid, sich von Männern mit Wurstfingern und wichtigen Minen die Glühbirnen einschrauben zu lassen. Vielleicht will sie blauäugigen Jungs mit ihren geschickten Händen imponieren.

Vielleicht will sie durchtrainierten jungen Kerlen auf der Leiter ihre langen Beine präsentieren und zeigen, was sie kann. Kabel verlegen, Geld verdienen, ein Kind durchbringen, eine eigene Wohnung haben und Nächte durchtanzen. Manchmal sieht man sie drei Tage lang nicht. Danach hat sie Schrammen im Gesicht und ein blaues Auge. Sie sagt, ich sterbe sowieso. Sie wusste, was sie tat, Sultanin Disco Queen. Ich sterbe sowieso. Schlampe, die fremden Männern Leitungen in die Wand legte.

Drei Kugeln ins Gesicht der Hure. Drei Kugeln gegen den Gesichtsverlust. Kürzlich sah ich ein Foto von Hatun Sürücü in der Zeitung, die im Februar 2005 in Berlin-Tempelhof an einer Bushaltestelle erschossen wurde. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich heftete mir das Foto an die Wand, begann einen Text über die Verstorbene zu schreiben und stürzte in eine persönliche Krise.

»Sowas passiert mir öfter. Mein Mann sagte, ich stehe entsetzlich unter Strom, und da hatte er zweifellos recht. So beschloss ich, um Strom abzubauen, mich dem Thema Blumen zu widmen, also nicht so sehr gärtnerisch als vielmehr literarisch. In meinem Garten wachsen zwischen dem Unkraut ein paar Rosen, Lilien und – vergiss mein nicht – und ich dachte, die müssen unbedingt rein in den Text über den Ehrenmord. Zur Entspannung sozusagen.«

Aber ich bin schon sehr bald, nach weniger als zwei Minuten, auf Schwierigkeiten gestoßen. Unüberwindliche Schwierigkeiten. Denn erstens ist das Thema Blumen vollkommen abgeschmackt. Und zweitens ist es unmöglich, auch nur ansatzweise die Schönheit einer Blüte zu beschreiben. Die Reinheit eines tiefen Blumenblaus. Die Frische des frischen Rosas einer frisch erblühten rosanen Rose.

Mein Gott, das ist Quatsch, das kann man nicht beschreiben. Und zu malen ist das Privileg der Maler, beziehungsweise ihr Fluch. Denn warum, mein Gott, malen Menschen Blumen? Wo es doch echte Blumen gibt, göttliche Blumen, von denen ein einzelnes Blatt tausendmal schöner ist, als jeder noch so kunstvoll gemalte Strauß. Vom Duft ganz zu schweigen. Den Duft lassen wir hier mal außen vor.

Der lässt einen ja gleich verstummen. Wenn ich meine Nase in einer Rose vergrabe, könnte ich stundenlang weinen. Natürlich vor Glück. Aber dann hält das Glück überhaupt nicht lange vor. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es genau eine Minute und 53 Sekunden gedauert hat.

Apropos Zeit und Glück, muss ich an einen Film denken. Einen ebenso wunderbaren wie unbekannten Essay-Film, den außer mir keiner zu kennen scheint. Er heißt Sans Soleil und beginnt mit Bildern aus Island. Weißblonden, lachenden Kindern auf einer langen, schwarzen Teerstraße zwischen baumlosen Hügeln. Riesiger Himmel.

Am Ende ein Dorf. Ein Jahr darauf, das erfahren wir später, würde der nebenstehende Vulkan ausbrechen und alles unter mehreren Metern Asche begraben. Der Film handelt vorrangig von Zeit und Glück, weswegen ich ja darauf zu sprechen kam. Und irgendwann kommt etwas überwunden vor. Dass jemand, dessen Namen ich vergessen habe, laut dem Film gesagt haben soll, ich habe ein schlechtes Namensgedächtnis, auch an den Wortlaut kann ich mich nicht erinnern,

Aber in meinem Kopf ist sperrig und schwer die Behauptung hängen geblieben, dass die Zeit keine Wunden heile. Im Gegenteil lasse die Zeit alles, was die Wunde hervorgerufen habe, Personen, Umstände, allmählich verblassen, bis schließlich sie, die Wunde, als Destillat ihrer selbst allein zurückbleibe.

Körperlos. Körperlos. Meine Schwester ist ein bildhübscher Mensch. Von Kindesbeinen an hat sie das immer wieder zu hören bekommen. Zum Model hat es später nicht gereicht, obwohl sie gern eins geworden wäre. So hat sie einen stattlichen Wandschrank von Mann geheiratet und ein paar Kinder bekommen.

Jetzt denken Sie natürlich: "Kinder, oh Gott, was kann da von der Schönheit bleiben?" Aber unterschätzen Sie nicht die heutige Kosmetikindustrie, vor allem nicht die plastische Chirurgie. Letztere hat meine Schwester nicht nur von schwabbligen Schwangerschaftsresten, sondern sogar von ihrer Nase befreit. Jetzt hat sie nur noch einen Stups ohne Nase und sieht ungefähr aus wie Barbie. Wobei man meine Schwester von Barbie immer noch dadurch unterscheiden kann,

dass ihre Brüste wesentlich größer sind. Barbie hat ja auch keine Kinder gestillt, so was würde sie nie tun. Bei meiner Schwester hingegen musste das einzusetzende Silikonimplantat schon ziemlich groß sein. Ich schätze 80D. Der Wandschrank ist trotzdem mit einem Bodylotionmodel durchgebrannt, das blonder war und ein teureres Silikonimplantat hatte.

Willkommen, Hartun, in der westlichen Welt. Ihre Nase, Frau Siridjü, ist einer Sultanin würdig. Aber ehrlich gesagt, damit riechen sie 100 Meter gegen den Wind nach Anatolien, Knoblauch, Kleinasien. Ich will nicht sagen, dass die schmutzig sind, sagte meine Mutter. Nur waschen sie sich vielleicht nicht ganz so oft. Also pass auf auf den öffentlichen Toiletten.

Immer schön den Rand mit Klopapier abwischen, dass du dir nichts holst. Meine Mutter litt ihr Leben lang unter Vaginalinfektion. Die Würde des Menschen, Frau Surychö, ist hierzulande unantastbar. Wir helfen Ihnen. Ich schlage vor, wir schneiden Sie ab. Also erst brechen wir Sie. Und dann kürzen wir Sie ein, die Sultansnase. Unter Vollnarkose, selbstverständlich.

Versprochen. Wenn Sie uns bitte folgen möchten, Sie werden gänzlich fühllos sein. Gänzlich fühllos. Und zählen Sie bitte bis zehn. Wie ausgewechselt. Zehn.

Willkommen in der Europäischen Wertegemeinschaft. Sind Sie eigentlich, nur mal so, mit Ihrer Körbchengröße zufrieden? Sonst könnten wir da vielleicht was integrieren. Der Täter feuert Kugel Nummer 3 auf den Kopf der am Boden liegenden. Eino, der Mond hat sein Gesicht verloren. Während der fünfjährige Sohn des Opfers 200 Meter entfernt in seinem Bett mit einer Spider-Man-Figur spielt...

Wie soll man sprechen zu ihm, von ihm, dem Sohn? Er lag im Bett mit seiner Spider-Man-Figur. Der Onkel... Der Onkel war zu Besuch gewesen und hatte mit ihm gespielt. Viel gespielt, mehr als sonst, war netter gewesen als sonst. Die Mutter brachte den Onkel... ...ihren Bruder zur Bushaltestelle. Die Familie wollte dich, den Sohn. Die Hure hätte man vielleicht Hure sein lassen. Aber da sie Mutter war, musste sie aus dem Weg. Du, der männliche Nachkomme...

Was? Familienbesitz? Familiengeheimnis. Was weisst du, der du unter falschen Namen bei einer Pflegefamilie lebst? Wem wirst du gehören? Umkämpft von deiner Tante, deiner Grossmutter, von deinem Vater in der Türkei, den du nie gesehen hast. Wem wirst du glauben? Du, Anlass für den Mord an deiner Mutter, Neffe des Mörders. Was wirst du tun? Die Mutter, die Tote verachten?

Oder deiner Familie? Der Familie, die den Freispruch der älteren Brüder wie ein Fest gefeiert hat. Die von Hatun, der Schandfleck, ist ausgelöscht. Nicht mehr spricht, die dir über den Kopf streicht. Deiner Familie den Rückenkehren? Ich sehe dich, Schulkind, mit übergroßem Ranzen an der Bushaltestelle. Vor dir braust der Verkehr, dir zur Seite proklamiert eine Telefongesellschaft die neue Redefreiheit.

Flatrate statt Freedom of Speech. Guter Tausch, wenn man nichts zu sagen hat. Und hinter dir, an der beliebigen deutschen Bushaltestelle, prangt übergroß ein Knackarsch im Spitzenhöschen. Wollüstige Lippen, frisch aufgeschäumt, raunen dem Passanten zu. Du bist hässlich. Du bist fett. Du hast eine Brille. Du hast Sommersprossen. Graue Haare, deine Fingernägel sind runtergekaut.

Du hast Cellulitis, deformierte Füße, Krähenfüße, Tränensäcke. Davon weiß das Schaumlippenmodel im rosa Höschen ein Lied zu singen. Schönheit vergeht. Es gibt sich noch drei Jahre in seinem Beruf. Die Welt besteht aus Kohle, Asche, Schotter und Mäusen. Die Welt besteht aus Kohle, Asche, Schotter und Mäusen. Musik

Eigentlich bin ich gegen die Freiheit. Ich möchte nicht, dass mein Sohn auf dem morgendlichen Schulweg neben einer leicht bekleideten Möse auf den Bus wartet. Ich möchte nicht, dass er in Höhen täglich drei Paar Supertitten vorgesetzt bekommt. Ich möchte nicht, dass mein Kind lernt, Redefreiheit bedeutet, billig zu telefonieren. Wird mein Telefon demnächst vom Verfassungsschutz überwacht? Was wirst du denken, Sohn, an der Bushaltestelle?

Im Alter von acht, zwölf, achtzehn. Zwischen den Aushängeschildern unserer Freiheit. Was wirst du denken über deine Mutter, die ein Handy besaß, aber keineswegs Redefreiheit, geschweige denn Lebensfreiheit, die Stringtangas getragen hat, ohne ihren großen Bruder zu fragen, der ihr auch mal an die Wäsche wollte. Nach Aussage verschiedener Zeugen, aber davon hat man im Prozess lieber die Finger gelassen.

Was wirst du denken über deine Mutter, die für ihre Freiheit ihr Leben gab? Spielball der Kulturen ins Ausgeschossen. Wie soll man sprechen von dir? Zu dir, dem sie die Tote, den Namen Can, das heißt Leben gegeben hat. Was wirst du denken? Wirst du ein Kämpfer? Wird dein Telefon abgehört werden vom Verfassungsschutz? Wirst du sie lieben, deine Mutter?

Die Elektroinstallateurin, aus der die Umstände, aus der du, Can, das Leben, eine Heldin gemacht haben, eine tote Heldin? Dir, Kind der Dunkelheit, eingekeilt zwischen Kopftuch und Knackarsch, wird, wenn du leben willst, nicht viel anderes übrig bleiben, als auch ein Held zu werden. Sans Soleil ist ohne Zweifel der beste Film, der je gedreht wurde, auch wenn er außer mir keinen interessiert.

Das sage ich jetzt nicht aus Eitelkeit, denn die Eitelkeit, die darin Befriedigung finden könnte, einen ausgefallenen Geschmack zu haben, wird unendlich überwogen durch die auf einen Geschmack resultierende Einsamkeit. Nichts macht einsamer als ein ausgefallener Geschmack. Todtraurig! Beispielsweise keinen Geschmack zu haben. Aber eigentlich wollte ich etwas über Blumen sagen. Der Bruder hat seine Schuldigkeit getan.

Nach dem Mord bekam er von seinem Vater eine goldene Uhr geschenkt. Was traditionell als Zeichen der Anerkennung gelte, stand in der Zeitung. Es obliegt den kleinen Brüdern, die Drecksarbeit in der Familie zu übernehmen. Drei Schüsse in den Hurenschädel. Außerdem war er jung genug, um nach dem Jugendgesetz verurteilt zu werden. Neun Jahre. Die Älteren hätten lebenslänglich gekriegt. Die Jugendstrafanstalt ist voll von Ausländern. Was ja nicht anders zu erwarten war. JVA-Bereich Kieferngrund.

Die maximale Belegungsfähigkeit liegt bei 80 Haftplätzen, Insassen zurzeit 88. Diese sind in vier Wohngruppen mit jeweils 20 Insassen unterteilt. Mit der Betreuung und Unterbringung der Gefangenen sind 35 Vollzugsbedienstete befasst.

Drei Sozialpädagoginnen sind für die inhaltliche Ausgestaltung des Vollzuges verantwortlich. 6 Uhr Wecken, 7 bis 11 Uhr Schul- bzw. Arbeitszeit, 11 bis 12 Uhr Aufenthalt im Freien, 12 bis 14 Uhr 30, Fortsetzung der Schul- und Arbeitszeit, 15 bis 16 Uhr Essensausgabe,

16 bis 20 Uhr soziale Trainings- bzw. Sportaktivitäten für die einzelnen Wohngruppen gemäß der sozialpädagogischen Konzeption. Die Freizeit wird nach einem Stufenplan bemessen. Ordentliches Verhalten bringt einen zu Maximum von drei Stunden Sport in der Woche und relativ lange Zeiten außerhalb der eigenen Zelle.

Der Leiter und seine Mitarbeiter sprechen wöchentlich mit den Häftlingen über ihr Verhalten und ihre Einstufung in der Skala der Vergünstigung. Die meisten Insassen sind Gewalttäter. Das Anti-Gewalt-Trainingsprogramm beruht auf freiwilliger Basis, da die Motivation des Einzelnen der Garant für eine erfolgreiche Teilnahme ist.

Die Brutalität in der Anstalt hat sich erheblich gesteigert. Auf festgestellten Bedarf wird nach Verfügbarkeit der Fachkräfte kurzfristig reagiert. Bei uns gehört die Brutalität zur Kultur, sagt Rachmann, der vom eigenen Vater verstümmelt wurde und einen deutschen Zimmermann niederstach, um die Ehre seiner Schwester zu verteidigen.

Also ich finde die Türken viel männlicher, äußerte Jennifer Schmidt, 13, Kreuzbergerin, deren Vater ein schlaffer deutscher Trinker ist, bevor ihr Freund Ibo, 17, ihr die Fresse polierte. Und nachdem ihr Freund Ibo, 17, ihr die Fresse polierte? Jetzt sitzt Ibo, 20, auch im Kieferngrund, Partys, Autos, Drogen, Blut. Wie komme ich bloß hierher?

Das fragt Claudia Küfte sich auch, aus ihrem Grab raus, in das ihr Mann Cengiz Küfte sie gebracht hat, aus verletztem Ehrgefühl. Sag ich doch, lass dich nicht mit Ausländern ein. Morsal Obeidi, ein paar Friedhöfe weiter, weiß gut, wie sie herkam. Von Mama und Papa ins Heim, da kannte sie keinen, wieder zu Mama und Papa. In die erste Hilfestation, Fresse poliert. Mama? Papa. Ins Frauenhaus, da kannte sie keinen, wieder nach Hause. Mama?

Zur Polizeistation, blaue Flecke und Morddrohung. Zu Freunden, zur Notfallaufnahme, ins Grab. Der Bruder hat seine Schuldigkeit getan. Mit 23 Messerstichen auf einem Parkplatz. Lass dich nicht mit Ausländern ein, sagte er noch. Kleine Nutte war 17. Yilmaz, vollweise, Sultansnase. Schöne Locken, lange Finger. Fensterputzer, hat manchmal geklaut, ein bisschen gedealt. Wie komme ich nur hierher?

Yilmaz heult.

Die Ausländer in der JVA-Bereich Kieferngrund hätten den Mörder als Märtyrer gefeiert. Stand in der Zeitung, haben wir alle gelesen. X.000 Normale fallen einem Irren zum Opfer, einem Loser mit Wortauftrag.

Verloren Sohn mit goldener Uhr, wie immer. Oder einfacher.

Der junge deutsche Moslem hat die Option, Märtyrer im deutschen Knast zu werden. Jenseits des Gottesgartens ist alles jammertal. Daran beißen die Sozialarbeiter sich die Zähne aus. Denn was sind die Perspektiven, die sie bieten können? Reintegration durch Halbtagsstelle in Kfz-Werkstatt? Befristet? Scherben im Park aufsammeln?

Ein Eurojob. Im Vergleich zum Lohn der Ewigkeit im Paradies. Ist eh alles vorherbestimmt. Erhobenen Hauptes trägt der junge Mörder die goldene Armbanduhr. 333er Sonderangebot. Held im Kreise des Abschaums einer Gesellschaft, die ihrem Nachwuchs die Perspektive Abspecken vererbt. Die Familie besucht ihn häufig.

Die großen Brüder, denen man nichts nachweisen konnte, fliehen in die Türkei. Und wir bleiben in der deutschen Leitkultur sitzen. Wünschten wir oder wünschten wir nicht, es gäbe sie? Billig, billig, billig, billig, billig, billig, billig. Zwischen unseren Scheinen der Verbrauchsgüter. Made in China.

Billigmann. Billig, billig, billig, billig, billig. Gefertigt von unserem minderjährigen Sklavenheer in Fernost. Wenigstens bleiben sie, wo sie sind, die Schlitzis. Zwischen Verbrauchskörpern, Verbrauchsgeistern. Die Stadt plakatiert mit dem letzten Schrei. Billig, billig, billig, billig, billig. Jetzt zugreifen. Verbrauchen. Denn, aber das ist ein offenes Geheimnis. Der Wohlstand ist verbraucht. Und das ist Psst.

Ein billiges Geheimnis, wir sind auch ziemlich runter. Wir Kinder, wir schmecken der Freuden recht viel. Wir schäkern und necken, versteht sich im Spiel. Wir lärmen und singen und rennen uns um. Und hüpfen und springen im Grase herum. Zwischen zwölf und 32, das ist immerhin der größere Teil meines bisherigen Lebens,

habe ich mich nicht im geringsten für Blumen interessiert. Es gab so viele andere Dinge, vor allem solche, die weit weg waren. Antike Steinbrocken, ewiges Eis, Diktaturen und Kriege und Hungersnot. Ich wollte in die Welt hinaus, nicht gerade, weil ich davon ausging, es sei eine gute Welt, im Gegenteil.

Aber auf der Flucht vor unserer leise vor sich hin rottenden Gutbürgerlichkeit schien alles grandiose, egal wie grauenhaft, ein Schritt in die richtige Richtung. Dann, sehr plötzlich, ich weiß nicht recht warum, ist es umgeschlagen. Vielleicht war es auch nicht plötzlich, nur ich habe die Anfänge nicht bemerkt.

Jetzt jedenfalls fliehe ich in die entgegengesetzte Richtung, Richtung Frohsinn also. Ich verschreibe mir Gartenblumen als Kur, ich höre sogar Mozart.

Warum nicht zum Murren? Ist Zeit noch genug? Wer wollte wohl knurren? Der wär ja nicht klug. Wie lustig stehen dort die Saat und das Gras. Beschreiben mit Worten kann keiner wohl das.

Dabei muss ich weinen. Denn was ist Lebensfreude, wenn 90% der Bevölkerung fernsehsüchtig sind? Dazu gibt es kaum einen tragischeren Soundcheck.

Vielleicht sollten wir wirklich endlich untergehen, diese Zivilisation meine ich. Und gegen diesen Gedanken hilft nichts, nichts als ganz schnell etwas anderes zu denken. Einen starken Kaffee zu trinken, das Spielzeug aufzuräumen, das die Kinder überall herumliegen lassen. Meine Kinder mit ihrer rätselhaften Zukunft auf dem absteigenden Ast unserer Zivilisation. Die Sonne strahlt hell durchs Fenster. Ein herrlicher Tag.

Auch das Verrottende hat seinen Glanz. Immer noch Glanz. Und ich finde das alles so schade. Diesen Untergang unserer glanzvollen Kultur. Dass ich weinen möchte. Ein bisschen nur. Vor wem und wem.

Aber die Tränen wollen trotz vorhandensein der Regung nicht kommen. Auch nach einer Minute und 53 Sekunden nicht. Und die Wehmut geht auch nicht weg. Kennen Sie diese Momente? Jeder Gedanke ein Messerstich, da bleibt nur die Flucht. Ich renne also, was das Zeug hält, um etwas anderes zu finden. Frieden zum Beispiel. Oder eine Atempause. Renne bis zum Umfallen. Vielleicht findet man so den Frieden ja nicht.

Aber meine Liebe zu Blumen habe ich dabei komischerweise wiedergefunden. Nach dem Umfallen wahrscheinlich. Deutschland, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wildwest, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild west, Wild

Sie enge Jeans, Turnschuhe, lange Haare, er weite Jeans, Turnschuhe, Bössenschnitt. Beide aschblond. Unglaublich normal, dachte ich noch und wählte einen Platz in einiger Entfernung. Eine Station später gab es einen Aufruhr. Eine Frau, Mitte 40, verließ aufgebracht den Bus. "Deutschland wählt West." Offenbar hat es im Gang Streit gegeben. Der junge Mann setzte sich wieder neben seine Freundin und fing an, sehr laut zu sprechen.

Er sagte in etwa: "Die olle Kuh, der müsste es mal einer zeigen. Arschficken, kreuzweise, tief rein schieben, dann die Fette saufen, richtig durchbohren, 20 Mann, einer nach dem anderen, immer schön rein, dann wäre sie still." Der Bus war nicht rappelvoll, aber auch nicht leer. Die laute Stimme des jungen Mannes war vom ersten bis zum letzten Platz zu hören. Keiner der Fahrgäste wandte den Kopf. Die Freundin guckte aus dem Fenster.

Aber wer will schon so eine alte Punze vögeln? Das wäre doch echt zu viel verlangt. Dann schon eher mit dem Messer. Geht ja auch. Brotmesser. Ich sag dir, 30 Zentimeter. Rein und raus. Rein und raus. Vollkaracho. Das bringt Scheißnutter. Anderswo. Weißt du, was die anderswo mit solchen machen? Handgranate. Tief reinschieben in die dreckigen Eier. Und dann, bumm, Schluss. Ruhe. Ja, bumm, Schluss. Ruhe. Keiner der Fahrgäste. Bumm, Schluss.

Schluss! Ruhe! Wie in der Kindheit.

betrachte ich die Blüten und Blätter und die dicken Hummeln und all die zahllosen abenteuerlichen geflügelten und ungeflügelten Krabbelwesen, deren Namen ich nicht kenne. Ein schlanker, länglicher Käfer verliert in einer frisch aufgeblühten Rose den Kopf. Hektisch sich drehend, fast sich überschlagend, tastet er mit seinem Rüssel alles ab, fällt beinahe herunter.

Kein Wunder, ein Wesen, das sich hauptsächlich mit dem Geruchssinn orientiert, mitten in einem frisch aufgeblühten Rosenkopf. Unbegreiflicherweise interessiert sich in meiner Umgebung niemand für sowas. Ein staxiges Tier mit durchsichtigen Flügeln. Sieht aus wie eine Mischung aus Heuschrecke und Schmetterling. Marschiert zielbewusst und unbeirrt den langen Stiel einer weißen Lilie hinauf.

deren Blüte oben thront wie der unberührte Schnee des Mount Everest. Mein Herz hüpft. Mich streift die arglose, achtlose Vollkommenheit der Natur. Das lässt einen doch erzittern. Vor allem innerlich. Instinktiv blicke ich nach Abflauen des Erzitterns auf die Uhr und stelle fest, dass eine Minute und 53 Sekunden vergangen sind.

Dann, ich habe irgendwann mal Platon gelesen und noch andere Sachen, denke ich, dass das doch ein Spiegel sein muss, dass es das doch auch in uns geben muss irgendwo. Das Schöne, die Reinheit, auch wenn das Schöne und die Reinheit natürlich auf jeder Kitsch-Postkarte zu haben sind. Wobei ich als eingefleischter Kitsch-Hasser mit zunehmendem Alter vermute, dass der Kitsch die eigentliche höhere Wahrheit ist, der ich mich nur allzu schmerzlich entfremdet habe.

Vor 30 Jahren vergoss ich Tränen um einen erfundenen blauen Esel. Ein Geschöpf aus einer Erzählung, das in der Erzählung starb. Das ist nur seitdem mit mir passiert. Alles Schutz und Abwehr. Der Esel jedenfalls war ein so perfektes Geschöpf, wie ich danach nie mehr eines angetroffen habe. Vereinte alle Schönheit und Tugend in sich. Und auch das allerreinste Blau. Kurzum...

Er musste jeden Menschen überziehen, tödlich langweil. Ich gäbe viel darum, Frau Syritsch zu fragen, was sie von der weiblichen Schönheit hält, die darin besteht, größtmögliche Ähnlichkeit mit aktuellen Unterwäschereklamen zu erzielen.

Deine Mutter, Hatun. Ich suche das Gesicht deiner Mutter. Das erste Gesicht, das du gesehen hast. Das Gesicht, aus dem du geworden bist. Was geht vor in der Frau beim Begräbnis ihres Kindes, während die Männer den Sarg forttragen?

Während sie eingeklemmt zwischen weibliche Verwandte zurückbleibt bei den anderen Frauen, wie die Sitte es verlangt, während die Männer das Grab zuschaufeln. Während die drei Mörder, die ihre Söhne sind, sich in Untersuchungshaft befinden. Sie wurde nicht auffällig, die Mutter, eingeklemmt zwischen weibliche Verwandte in der schweren Stunde, gestützt auf ihre Tradition, auf Jahrhunderte von Brauch und Ordnung. Sie hat dich immer empfangen, wenn du nach Hause kamst. Heimlich.

Obwohl dein Vater dich verstoßen hatte. So wie alle Mütter rund um die Welt heimlich ihre Kinder empfangen, besuchen, ihnen Geld zustecken. Heimlich. Nachrichten weiterleiten. Hosen bügeln. Essen bringen. Ja, ja, das Seinetun im Verborgenen.

Im Grenzen, stur, schweigend, unbeirrt. Innerhalb der vorgegebenen Grenzen der Väter. Der Staatsgewalt. Der eigenen Schwäche. Deine Mutter, die dich mit Tee und Kuchen und Tränen in den Augen empfing, wenn du nach Hause kamst. Trotz Hausverbot.

Deine Mutter, die keinen Finger krumm gemacht hat, um dich zu retten, weil das nicht ihre Aufgabe war. Die stramm zu Mann und Familie gestanden hat, in ihren Grenzen, mit versteinertem Gesicht durch alle Pressekonferenzen hindurch. Deine Mutter, die gelacht hat mit den anderen, als die älteren Brüder... Ihre Kinder. ...freigesprochen wurden. Deine Mutter, deren Nähe und Liebe du immer wieder gesucht hast. Ich suche ihr Gesicht.

Ach, meine Mutter hat mich im Stich gelassen. Missverstanden. Verraten. Meine Mutter war nie da, wenn ich sie brauchte. Denn wenn ich sie brauchte und sie war für mich da, fiel es mir nicht auf.

Deine Mutter, Hatun, besucht ihren Sohn im Kieferngrund, bringt ihm Essen, schlägt ihm nicht ins Gesicht, zertrümmert nicht seine goldene Uhr und sie bringt dir Blumen ans Grab. Man muss sich zusammenreißen, pflegte meine Großmutter zu sagen. Meine Mutter sagte das auch. Ach, wir Armen.

Während ich denke, fliegt vor meinem Fenster ein Schmetterling. Immer wieder. Wahrscheinlich ist es jedes Mal ein anderer. Aber immer ist er weiß und fliegt von links nach rechts. Das sehe ich aus dem Augenwinkel. Möglich, dass ich die, die von rechts nach links fliegen, einfach nicht sehe. Weil mein eines Auge schlechter ist oder mein Gehirn einseitig strukturiert.

Ich gehe davon aus, beschränkt zu sein. Diese Annahme beruhigt mich ungemein. Genau genommen ist sie sogar das Einzige, was mich aufrecht hält. Neben den Blumen. Ich irre mich. Wunderbar. Möglicherweise sehe ich die Dinge falsch. Das tröstet mich mehr als alles andere. Vielleicht gibt es Hoffnung. Vielleicht gibt es Hoffnung.

Allerdings hält dieses esoterische Amüsement nicht viel länger vor, als der Schmetterling braucht einmal an den Blumen zwischen meinen Unkräutern zu nippen und dann hinter den Koniferen des Nachbarn zu verschwinden. Der Blick auf die Uhr informiert mich, dass seine Dauer auf eine Minute und 53 Sekunden beschränkt ist. Ich muss mir die Beine vertreten. Ich trete auf eine Schnecke. Zwischen den Blumen meines Gartens gibt es nämlich Häuserschnecken.

Unglaublich delikate Wesen mit noch delikateren Fühlern. Sie sind vor allem bei feuchtem Wetter überall. Unter Blättern, zwischen Halmen, an Steinen. Man kann unmöglich alle sehen. Also durch die simple Notwendigkeit, mich fortzubewegen, trete ich drauf. Das gibt ein krachendes Geräusch und falls ich wage hinzublicken, auf den Boden zurückbleibenden Matsch mit Kalksplittern, wo vorher...

Ein zartes Wesen mit noch zarteren Fühlern war. Das ist etwas anderes, als eine junge Frau auf offener Straße drei Kugeln in den Kopf zu jagen. Das ist etwas anderes, als seine eigene Schwester umzubringen. Ja, gewiss, etwas ganz, ganz anderes. Doch das Krachen im Ohr und der Matsch auf der Netzhaut bleiben zurück. Körperlos.

Ey, Melek heißt Engel. Wusstest du das? Es ist zu sprechen von Melek A. Melek A., die sich gegen das Schweigen entschied. Natürlich ist ihr richtiger Name nicht Melek A. Ich kenne ihren richtigen Namen nicht und, kannte ich ihn, täte ich alles lieber, als ihn auszusprechen. Denn sie, die sich entschloss, die Wahrheit zu sagen, ist ihres Lebens nicht sicher. Melek A., Schülerin, zur Zeit des Mordes kaum volljährig und Freundin des Mörders,

hat als Einziger ausgesagt gegen ihn und gegen die Brüder. Nicht Hatuns Schwester, nicht Hatuns Freundin. Ich habe Angst. Ich habe selbst ein Kind, sagte Gülsan Es. Sondern sie, die Hatun kaum kannte und vielleicht nicht einmal mochte. Nicht aus Liebe zu Hatun und trotz ihrer Liebe zum Mörder hat sie sich gegen das Schweigen entschieden. Melek A. im Zeugenschutzprogramm, unter Polizeischutz.

Schon lange heißt sie nicht mehr Melek A. Lebt unter unbekanntem Namen an unbekanntem Ort unter ihr Unbekannten mit falschem neuen Pass und falscher neuer Geschichte in den brandenburgischen Wäldern. Und jeder Ort, an dem sie sich aufhalten mag, ist hundertmal gefährlicher als Kieferngrund, wo der Mann, den sie heiraten wollte, stolz seine goldene Uhr herum zeigt.

Melek, Kronzeugin, ohne die es keinen Prozess und keine Verurteilung gegeben hätte. Blasses Bündel im Gerichtssaal, unter der Bluse die schutzsichere Weste, die Leibwächter dennoch doppelt so breit wie sie. Melek A. hat unsere Freiheit verteidigt. Ein Produkt geglückter Integration. Melek namenlos, die keiner kennt und keiner feiert. Allein im Inkognito, das ihre Heldentat längst geschluckt hat.

Und nach dem Heldentum kommt, wenn man das Leben noch nicht hinter sich hat, wie Harton, die Angst. Kann man verlangen? Kann man wagen zu hoffen, dass sie es nicht bereute? Ich verspreche, ich reiße mich jetzt zusammen. Das, was mir als eine Art Trost, falls es das gibt, Trost, einfällt, ist ein Gedicht von William Blake. Nicht über Blumen, sondern über eine totgeklatschte Fliege.

Darin stellt Blake, ein wenig verkürzt, die Behauptung auf, wenn Denken Leben und Mangel an Denken Tod bedeutet. Tod oder lebendig, in etwa das Äquivalent einer glücklichen Fliege zu sein. Little Fly, World's Summer's Play

Meine leidenschaftliche Hand hat weggebrannt. Bin ich nicht ein Flieger, der wie ich fliegt? Oder bin ich nicht ein Mann, der wie ich fliegt? Ich tanze und trinke und singe, bis eine blinde Hand meine Winge bricht. Ich tanze und trinke und singe,

Wenn ich eine glückliche Fliege, ob ich lebe oder sterbe, das wünsche ich mir auf meinem Grabstein. So wie im Übrigen auch einen Birnbaum und ein Blumenbaum.

Vergissmeinnicht. So viel zum Kitsch. Und damit wären wir wieder bei den Blumen. Diesmal durch schicksalhafte, wenn nicht göttlich zu nennende Fügung in Zusammenhang mit Blake William, gestorben 1827, der in einem blau blühenden Unkraut am Wegesrand nur eines sieht, das einzig Wahre, meine ich, und eben das, was ich auch sehe, vielmehr eben nicht sehe,

Sehe wie durch eine Wand, ahnend, aber abgetrennt. Etwa so wie, nimm ihn doch, gib ihn mir her. Den vollen Mond, weinte das Kind. Aber das ist nicht Blake, sondern ein Gedicht von Issa Kobayashi, gestorben 1827.

Ich bin sicher, die beiden hätten sich gut verstanden. Idiot. Auf jeden Fall hätte es Issa nicht gestört, dass Blake vielen als geisteskrank galt oder wenigstens als Idiot. Idiot. Idiot. Müsste man heutzutage nicht solche Angst haben, schon bei kleinen Anlässen unter Psychopharmaka gesetzt zu werden, würde ich zugeben, dass ich die beiden Dichter vor mir sehe. Im Jahre 1827.

Wie sie auf einer Wolke gemeinsam in den Himmel schweben. Händchen haltend. Geistesbrüder. Vereint. Jenseits dieser obskuren Barrieren der Kontinente und Kulturen. Endlich nicht mehr einsam. Das ist bestimmt wieder der Strom, unter dem ich stehe. Nun gut, was Blake sah jedenfalls...

In der zufälligen Feldblume, eine Art Unkraut, möglicherweise einem Vergissmeinnicht, war einfach Himmel, nichts Galt, sondern Heaven. Das reicht, um stundenlang zu weinen vor Ergriffenheit. Dann jedoch ist auch diese Regung schnell wieder vorbei, schneller als man dachte.

Der Blick auf die Uhr zeigt, dass sie sich auf eine Minute und 53 Sekunden belief. "Sterben muss ich sowieso", sagte Hatun. "Mir steht das halbe Leben bevor, immer noch. Der Himmel gebe, dass die Zeit vergeht. Kardinalsünde, das zu denken. Darüber muss man doch stundenlang weinen. Vor Scham natürlich." Aber dann geht auch das vorüber,

Schneller als man dachte. An der Bushaltestelle liegen ein paar Vergissmeinnicht auf dem Pflaster. Leise welken sie vor sich hin im fahlen Licht eines blassen Halbmonds. Zur rechten Prank der Hintern des Schaumlippenmodels. Zur linken die Flatrate unserer Freiheit. Dahinter die hochragende Wand der renovierten Plattenbauten. Gesicht verloren. Hörspiel von Barbara Kenneweg. Mit Katrin Angerer.

Als Gast Helga Bayertz. Eine Produktion des Rundfunk Berlin Brandenburg 2011.