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Mein fremdes Land

2024/12/16
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Das Berlin Hörspiel

AI Chapters Transcript
Chapters
Eine französisch-syrische Frau reflektiert über ihre syrischen Wurzeln, die Erinnerungen ihres Vaters und ihre Kindheitserfahrungen, die eine strikte Trennung zwischen ihrer französischen und syrischen Herkunft aufzeigen.
  • Der Vater der Erzählerin hatte prophetische Träume.
  • Die Erzählerin wurde in Frankreich geboren, sprach aber nie die Sprache ihres syrischen Vaters.
  • Der Aufstand 2011 in Syrien weckte ein neues Bewusstsein für die syrische Identität der Erzählerin.
  • Die Kindheit war geprägt von einer strengen Trennung zwischen der französischen und syrischen Kultur.

Shownotes Transcript

ARD Mein Vater erzählt, dass er im Winter vor meiner Geburt zwei Träume hatte. Eines Nachts träumte er, das Auto auf dem Parkplatz vor unserem Haus wäre demoliert worden. Und tatsächlich stellten meine Eltern fest am nächsten Morgen, dass der Wagen beschädigt war. Auch den Tod seiner Mutter ahnte mein Vater im Traum voraus. Oder schien zumindest gespürt zu haben, dass sie im Sterben lag.

Meine syrischen Familienangehörigen pflegten zu sagen: "Sie ist gestorben, als du geboren wurdest." Angeblich hatte sie sich auf ihrem Sterbebett aufgesetzt und ausgerufen: "Mohammad kriegt eine Tochter!" Mein Vater erzählt, dass er erst mehrere Monate später auf einer Reise nach Syrien vom Tod seiner Mutter erfahren habe. Also nein, meine Mutter hat eine ganz andere Version der Geschichte. Sie erzählt,

Meine Eltern hätten den Tod der Großmutter direkt nach meiner Geburt erfahren, weil ein Cousin sie besucht hatte und das erzählt hatte. Und sie ist sich sicher. Sie hat noch ganz klar im Kopf das Bild: Mein Vater, gebeugt über meine Wiege, weint und bedauert, dass seine Mutter seine Kinder nicht kennenlernen wird. Mein fremdes Land. Ein Hörspiel mit Texten von Leila Rabi und Mohammad Al Attar. Ich bin in Frankreich geboren.

von einem syrischen Vater und einer französischen Mutter. Ich habe nie in Syrien gelebt, ich habe die Sprache meines Vaters nie wirklich gesprochen. Zuhause kochte er zwar syrisch und sprach mit uns auf arabisch, aber als Kind war ich mir nicht darüber bewusst, dass das ein Teil meiner Geschichte oder meiner Identität war. Und in der Schule habe ich schnell begriffen, dass es besser war, Französin zu sein als Araber.

Als Kind hatte ich auch sehr wenig Kontakte mit der Familie meines Vaters in Syrien. Ich empfand sie als fremd und nicht von meiner Welt. Das Gefühl, dazu zu gehören, entstand nur, wenn dort etwas passierte, zum Beispiel wenn jemand starb. Vorwiegend war da die widersprüchliche Wahrnehmung des Lebens unter einer schrecklichen Diktatur.

Und dann, mit dem Aufstand 2011, wurde mir plötzlich bewusst, dass es viele Syrer gab, die mir ähnlich waren und ähnliche Beschäftigungen hatten und ähnliche politische Überzeugungen hatten. Als Kind erschien mir Syren als etwas Beunruhigendes und Düsteres. Es war die Beunruhigung meines Vaters. Sein Gesicht war ernst und verschlossen.

Wenn er mehrmals am Tag über Kurzwelle die Radionachrichten auf Arabisch hörte. Diese Radiosendungen hörte mein Vater immer. Und sie haben Sprachspuren hinterlassen, wie auch die Gespräche der Erwachsenen. Jahre später, als ich in Berlin zu iranischen Veranstaltungen ging,

musste ich bemerken, dass ich bestimmte Dinge verstand. Alles Worte aus der Welt der Politik. Mein Gehirn hatte sie über all die Jahre gespeichert. Als ich vier Jahre alt war, fuhren wir mit dem Auto nach Syrien, Jugoslawien, Bulgarien, die Türkei, bevor wir schließlich vom Norden her nach Syrien kamen. Also die erste Erinnerung, die ich an Syrien habe, ist in einem Innenhof. Es ist sehr heiß.

Und es gibt ein Wasserbecken aus Stein und wir Kinder baden da drin. Und dann das Riechen. Die Gerüche waren sehr fremd und sehr intensiv. Also auf den Dachterrassen hat man ganz viele Sachen trocken lassen, Minze, Tomaten. Tomaten war sehr stark und da ist mir fast davon schlecht geworden. Und der Geruch von Süßholz.

Das hat man im Wasser einweichen lassen, um daraus ein Getränk zu machen. Und im Bad hat man das Wasser erhitzt mit so einem Badeofen. Eine Mischung aus Heizöl für den Badeofen und Aleppo-Seife. Olivenöl und Lorbeeröl. Und diese Mischung von duftend und stinkend, das war für mich Syrien.

Ich erinnere mich an die vielen Kinder, an Cousins und Cousinen, an die Schwierigkeiten, die ich mit der Sprache hatte und auch daran, dass wir draußen auf den Balkons oder auf den Dachterrassen geschlafen haben. Und das war extrem exotisch, draußen zu schlafen, mitten in der Stadt. Es war auch sehr laut. Ich weiß noch, dass irgendwann habe ich meine kleine Farm auf Französisch da gelesen.

Und ich weiß noch, wie ich versucht habe, mitten in Aleppo auf dem Balkon in dieser Hitze das Gebet der Laura Ingalls in Minnesota nachzumachen. Total absurd. Während meiner Kindheit herrschte für mich eine strenge Trennung zwischen Frankreich, dem Land, wo wir lebten, und Syrien, dem Land meines Vaters. Mein Vater war in Frankreich mehr oder weniger im politischen Exil.

Und nach 1982 konnte er nicht mehr ohne Risiko in seine Heimat zurückkehren. Also fuhr er nicht hin. Also sprachen wir nicht darüber. 3. September 2013 Hey Huda, ich habe jetzt erst Internet. Und als allererstes schreibe ich dir. Hierher zu kommen war viel leichter als ich dachte. Es war ein eigenartiges Gefühl, über die Grenze zu fahren. Ich fühle mich immer noch, als wäre ich auf einer Art Ausflug. Tagsüber war es ein bisschen zu heiß.

Aber nachts geht es. Das Haus, in dem ich übernachte, liegt am Rand von Kafranbe. So weit das Auge reicht, Olivenbäume und duftende Erde. Und der Himmel ist klar und schön. Das liegt natürlich auch daran, dass in der gesamten Gegend der Strom gekappt ist. 20 Stunden am Tag kein Strom. Und wenn er dann kommt, muss man es sofort ausnutzen und Handy und Laptop aufladen. Ich habe ihn zum ersten Mal getroffen.

Vor einer Weile hörte ich in der Ferne Granatfeuer. Am Himmel waren rote Lichter zu sehen, wie Sternschnuppen. Nur dass es Raketenwerfer waren. Trotzdem konnte ich nicht anders, als den Anblick zu genießen. Natürlich ist es nicht in Ordnung, so etwas schön zu finden. Ich muss mich die ganze Zeit daran erinnern, dass da Menschen sind, auf die diese Bomben dann ja auch fallen.

Bevor du dir jetzt Sorgen machst. Die Bombardements sind weit weg. Die Jungs, bei denen ich untergekommen bin, sagen, hier im Dorf herrscht schon eine ganze Weile Ruhe. Nur manchmal wird drumherum bombardiert. Vor allem die Militärlager, die von den Rebellen eingekesselt wurden. Das seltsamste ist...

dass ich jetzt auf derselben Matratze schlafe, auf der auch Yusuf geschlafen hat. Ich habe das starke Gefühl, dass ich ihn bald sehen werde. Mein Laptop geht gleich aus. Viele Küsse. Wunderschön, das Haus deines Großvaters. Es erinnert an die Häuser in der Altstadt von Damaskus. Es ist über 200 Jahre alt. Mein Urgroßvater war der Mufti hier. Reiner Zufall, dass es noch steht. Die Zerstörung in Marat ist wirklich unfassbar. Ja,

Mehr als die Hälfte der Stadt. Und die Menschen? Kommen nach und nach wieder zurück, obwohl die Bombardements anhalten. Jedes Mal, wenn die Rebellen das Militärlager des Regimes angreifen, wird die Zivilbevölkerung bombardiert. Als Vergeltung. War Youssef eigentlich noch hier, als ihr mit der Arbeit im neuen Krankenhaus angefangen habt? Ja, der war noch hier. Ich kenne niemanden, der so viel Leidenschaft in die Arbeit steckt wie Youssef. Wir hatten zwar immer wieder Meinungsverschiedenheiten, aber...

Für ihn würde ich meine Hand ins Feuer legen. Meinungsverschiedenheiten? Ach, Kleinigkeiten. Ich bin der Meinung, dass wir das Politische später entscheiden können. Aber Youssef war genau an dem Punkt eben anderer Meinung. Er wollte, dass wir alles jetzt sofort klären. Dickschädel. Hat er sich eigentlich nochmal bei dir gemeldet? Nein, nein. Ich habe überhaupt erst relativ spät erfahren, dass er verschwunden ist. Dann hieß es plötzlich...

Er sei gar nicht vom IS gefangen genommen worden. Es seien kurdische Kämpfer von der JPG gewesen, die ihn gekidnappt und dem Regime ausgeliefert hätten. Und dass er jetzt in Aleppo sei. Das wäre eine Katastrophe. Was hältst denn du für das Wahrscheinlichste? Zuerst hieß es, dass der IS ihn entführt hat, als er aus Mambich abgereist war. Die einen sagten, er sei in der Nähe von Mambich. Andere, man habe ihn zum Dammgefängnis bei Al-Raqqa gebracht.

Das Problem ist, als Yusef aus Manbij abreiste, wollte er sich von niemandem begleiten lassen. Das war das letzte Mal, dass ihn jemand gesehen hat. Es gibt einen IS-Checkpoint, kurz vor Jarabulus. Doch die vom IS dort behaupten, sie hätten ihn nie gesehen. Stimmt. Unsere Jungs bei den Ahrar haben den IS-Emir in Dana gefragt. Welche Ahrar? Ahrar Ascham. Die freien Männer der Levante. Noch nie davon gehört? Arbeitest du mit denen zusammen? Ich bin bei Ahrar Ascham. Aber ich kämpfe nicht.

Ich bin einfach nur Arzt. Dann ist mir allerdings klar, warum du Meinungsverschiedenheiten mit Youssef hattest. Was weißt denn du über Ahrar, Ascham? Dass die Ahrar einen islamischen Staat wollen. Und ich glaube nicht, dass es das ist, wofür wir eine Revolution gemacht haben. Und wen meinst du mit "wir"? Wie kann man wissen, was die Leute wollen? Gehören "wir" etwa nicht dazu? Ja, so lange ist die Revolution noch nicht her, dass wir vergessen haben könnten, warum die Leute auf die Straße gegangen sind. Sie waren frustriert. Sie wollten ein besseres Leben in Würde und Freiheit.

Es war nie die Rede von einem islamischen Staat. Siehst du dieses Minarett dort drüben? Vor dieser Moschee hatten wir uns zu unserem allerersten Protest versammelt. Gleich daneben haben sie mich und ein paar von den Jungs dann festgenommen. Einige Tage hielten sie uns im Militärlager fest, dann haben sie uns zur militärischen Staatssicherheit in Hamar überführt. Was man dort mit mir gemacht hat, erspare ich dir. Nach der Befreiung von Maherat kam mein Bruder Hassan nach Hause.

Er war vier Jahre jünger als ich, Zivilist, hat nie in seinem Leben eine Waffe in der Hand gehabt. Er brachte einen Jungen mit, der gerade von Assads Armee desertiert war. Alles, was er wollte, war, seine Eltern in Samalka anrufen. Hassan brachte ihn zu unserem Haus und in dem Augenblick kam ein Mig-Jet und bombardierte das Haus. Weißt du, was wir von den beiden gefunden haben? Knochensplitter und ein bisschen Fleisch.

Glaubst du etwa, die Menschen hätten ohne die Fahne mit dem Spruch "Es gibt keinen Gott außer Gott" bis jetzt durchgehalten? Und das sind genau die Leute, die nichts als das Ende des Unrechts und etwas Würde wollen. Das sind die Einwohner. Das Urgestein dieses Landes. Vor denen muss man doch keine Angst haben. Vielleicht habe ich von vielen Dingen keine Ahnung. Aber ab dem Moment, als ich die syrisch-türkische Grenze überquert habe, habe ich fast nur diese schwarz-weißen IS-Fahnen gesehen.

Meine Augen suchen ständig nach der grün-roten Revolutionsfahne. Und wenn ich mal eine sehe, dann freue ich mich wie ein kleines Kind. Das ist doch die Fahne, für die die Menschen ihr Leben gelassen haben. Wo ist sie hin? Ich fühle mich hier immer völlig fehl am Platz. Aber es sind doch nicht die Fahnen, die dich zum Fremden machen. Das hier ist dein Land. Gut, dass es immer noch Tauben gibt, die nicht vor den Bomben und den Granaten geflohen sind. Die sind geblieben. Haben sich daran gewöhnt. Die fliegen jetzt sogar mit den Migjets.

1982, dem Zeitpunkt der Massaker von Hamar, war ich zehn. In diesem Februar ereigneten sich schreckliche Dinge. Genaueres erfuhr man nicht. Ein bleierndes Schweigen lag über den Ereignissen. Erst einen Monat später schrieb eine französische Zeitung auf ihre Titelseite Hamar, 10.000 Tote. Das Regime von Hafez al-Assad war seit 1970 an der Macht.

Eine der wenigen Oppositionsbewegungen war die Muslimbrüderschaft, die seit 1976 einen Guerillakrieg gegen das Regime führte. Hauptsitz der Bewegung war Hama. Seit Januar 1982 war diese konservative Stadt einer systematischen Repressionskampagne unterworfen. Plünderungen, willkürliche Verhaftungen, Vergewaltigungen, Demütigungen und organisierte Massaker.

Am 3. Februar 1982 kam es in der Stadt zu einem Aufstand. Es folgten noch grausamere, noch umfassendere Repressionen. Diesmal gegen die gesamte Bevölkerung. Menschen wurden systematisch vor ihren Häusern erschossen, Familien lebendig verbrannt, Verwundete in den Krankenhäusern ermordet, Moscheen und Kirchen gesprengt.

Als die Panzer nicht in die Altstadt vordringen konnten, warnten ihnen Bulldozer den Weg. Schätzungen zufolge fielen den Massakern zwischen 10 und 30.000 Menschen zum Opfer. Dieses Ereignis schreibt sich in das kollektive Gedächtnis ein. Noch heute genügt es zu sagen: Ich stamme aus Hammau und jeder Syrer weiß Bescheid. Ja, als ich das erste Mal nach Berlin kam, stand die Mauer noch.

Und die Stadt war voll von den Spuren des Krieges. Zwischen den Gebäuden, wo Häuser bombardiert worden waren und noch Lücken waren. An den Fassaden, wo Einschusslöcher den Verlauf der Kämpfe sichtbar machten. Jahrelang bin ich in den deutschen Städten spazieren gegangen. Auf der Suche nach dem, wie es vorher gewesen war. Vor dem Mauerfall, vor dem Mauerbau, vor dem Krieg. Die Zerstörung der deutschen Städte erschien mir massiv.

Aber es waren die anderen, die das getan hatten. Die Russen, die Berlin erobert hatten, die Engländer, die Hamburg bombardiert hatten. Und ich fragte mich immer wieder: Wie kann man sowas überleben? Wie kann man wieder aufbauen? Erst 20 Jahre später, als ich in Hammar war und in den Ruinen der Altstadt spazieren gegangen bin, auf der Suche nach den Spuren des Massakers von '82, habe ich nach und nach verstanden.

Wonach ich in der deutschen Geschichte gesucht habe, war hier in Hammar. Als ob diese Bilder der Zerstörung der deutschen Städte für mich die Bilder der Zerstörung Hammars ersetzt hätten. Und auch hier die Frage, wie kann man das überleben? Wie kann man wieder aufbauen? Die Frage war umso dringlicher, als es in Syrien nicht die anderen waren, die das getan hatten. Hier war es der Staat, die Staatsmacht.

Alle hatten in diesem Stadt gelebt und gearbeitet. Und der war jetzt bereit, eine solche Barbarei auszuüben gegen die eigene Bevölkerung. Wie überlebt man sowas? Im Juni 1994 reise ich zum ersten Mal alleine nach Damaskus. Auch mein Vater darf wieder einreisen und erwartet mich am Flughafen. Ich lande mitten in der Nacht. Vor der Einreisekontrolle am Flughafen erfüllt mich eine dumpfe Unruhe.

Ich spreche die Sprache nicht und fürchte gleichzeitig von vornherein verdächtig zu sein. Als sei das Bewusstsein der möglichen Gefahr eine Art Familienerbe. Ich kam nachts in Damaskus an und natürlich musste ich dann direkt zur Passkontrolle. Ich musste meinen französischen Pass vorzeigen mit dem Visum für Syrien. Und auf dem Visum stand wahrscheinlich syrische Herkunft auf Arabisch. Aber ich konnte das nicht lesen.

Ich habe den Namen meines Vaters gestottert, glaube noch verstanden zu haben, dass der Polizist mich gefragt hat, ob ich algerischer Herkunft sei. Und dann habe ich heftig geantwortet: "Non, non, Française!" Und dann bin ich so natürlich wie möglich weitergegangen. Es ist drei Uhr früh. Die Hitze trifft mich wie ein Schlag. Die Leute auf der anderen Seite der Absperrung, Männer, verschleierte Frauen, Kinder, alle drängen, rufen, winken.

In der Menge erkenne ich das Gesicht meines Vaters, eine vertraute Insel in diesem Ozean von Fremdheit. Wir nehmen einen Reisebus durch die Wüste nach Aleppo, Rastplätze an der Autobahn, kleine Baracken neben den Tankstellen, hell erleuchtet von bunten Glühbirnen bis zum Anschlag auf gedrehte Musik, ohrenbetäubend lauten Stimmen von Feroz oder Umkulsoom.

Als die Sonne gegen 4 Uhr aufgeht, ist das Licht sanft und farbig und unglaublich leuchtend. Der Kontrast zwischen meiner inneren Spannung und der Schönheit ringsumher bewältigt mich. In den Morgenstunden erreichen wir Aleppo und das Haus meines Onkels. Ich steige die Treppe hinauf, erkenne die Gerüche wieder, die Wohnung.

Anlässlich meiner Ankunft hat sich die ganze Familie versammelt. Man hat sogar die halbwüchsigen Söhne geweckt, die maulend in der Sofaecke lümmeln. Und dann ein Schar von Cousinen. Teenager oder junge Frauen wie ich selbst. Mädchen in Nachthemden, die unaufhörlich plappern, die in ununterbrochen Fragen stellen, Kommentare abgeben und mir verschmitzte Blicke zuwerfen. Sie sind wie junge Pferde, die mit den Hufen scharren.

Dabei werden sie ständig ermahnt, ruhig zu bleiben und sich gut zu benehmen. Man befiehlt ihnen, sich sorgfältig zu verschleiern, bevor sie einen Fuß vor die Tür setzen. Und sogar hier im Haus, wenn ein Mann empfangen wird, der weder Vater noch Bruder noch direkter Onkel ist. Bei diesen mir eigentlich fremden Menschen konnte ich überraschenderweise entdecken, dass es Gesichter gab, die meinem ähnlich waren. Oder...

Es gab da eine Handbewegung oder bestimmte Geste, die ich von mir oder meiner Schwester kannte. Februar 2011. In Tunesien und Ägypten hat bereits der arabische Frühling begonnen. Auch in Syrien hat es angefangen zu brodeln. Und ausgerechnet in diesem Augenblick gestattete das Regime, das sonst alles zensierte, Facebook den Zugang zum syrischen Internet.

Und kurz darauf schickten mir Tanten und Cousinen ganz viele Freundschaftsanfragen. Zwischen März und April 2011 fanden in Syrien die ersten Demonstrationen statt und wurden sofort gewaltsam niedergeschlagen. Und während dieser ersten Wochen unternahm mein Vater eine Reise nach Syrien.

Normalerweise fuhr er vier Wochen lang, ließ nichts von sich hören, kehrte hochzufrieden zurück und gönnte sich, nachdem er in Anwesenheit seiner muslimischen Familie abstinent geblieben war, auf den Rückflug ein Glas Weißwein. Diesmal aber schickte er mir wenige Tage nach seiner Abreise eine E-Mail.

Liebe Leila, hier ist alles in Ordnung. Ich bin gut angekommen. Allen geht's gut. Alle grüßen dich. Bitte poste im Moment keine Informationen über Syrien auf Facebook. Küsse von uns allen. Bis bald. Das war erstaunlich, aber die Botschaft war eindeutig. Die Artikel, die ich auf Facebook teilte, die die Standpunkte von Regimegegner oder politischen Exilanten wiedergaben, konnten meine Cousinen, die zu meinen Freunden gehörten, in Gefahr bringen. Was tun?

Die einzige Lösung, um zu vermeiden, meine eigene Familie in Gefahr zu bringen, ohne darauf zu verzichten, mich selbst zu informieren und Informationen zu teilen, war es, mich von den Mitgliedern meiner Familie wieder zu entfreunden. Ich war total erstaunt, als ich gesehen habe, wie viel hier auf dem Markt los ist. Dieser Markt ernährt jetzt über die Hälfte der Bewohner Aleppos.

Vom befreiten und vom besetzten Teil der Stadt. Vor der Befreiung war es nur ein kleiner Markt, vielleicht ein Viertel so groß wie der, den du jetzt siehst. Bist du zum ersten Mal hier? Jaja, und erst jetzt fällt mir auf, wie wenig ich das Land eigentlich kenne und dass Syrien gar nicht nur Damaskus ist. Tja. Dafür hat es erst die Revolution gebraucht. Ohne die Revolution wären wir beide uns wohl kaum hier begegnet. Jenseits von Aleppos Bazaars und Restaurants, mitten im armen Teil der Stadt, 200 Meter von der Frontlinie.

Oder Yusuf. Wie hätte ich den sonst kennengelernt? Vermutlich gar nicht. Sag mal, hat Yusuf eigentlich seine letzte Nacht in Aleppo bei dir übernachtet? Er hat exakt da geschlafen, wo du gerade sitzt. Ja, wir hatten die Bude voll. Er hat hier übernachtet und ist am nächsten Morgen früh aufgebrochen, ohne dass ihn irgendeiner gesehen hätte. Und seitdem hattet ihr gar keinen Kontakt mehr?

Ich habe ihm einmal eine Nachricht auf Facebook geschrieben und er hat mir zurückgeschrieben, ein oder zwei Tage bevor er aus Raqqa abgereist ist, um von dort in die Türkei zu fahren. Was hältst du eigentlich von der Theorie, die kurdischen YPG-Truppen hätten ihn mitgenommen und hier in Aleppo dem Geheimdienst ausgeliefert? Glaube ich nicht. In der Gegend, wo er verschwunden ist, gibt es eigentlich gar keine YPG-Kämpfer. Aber wenn das wahr wäre, dann wäre es eine Katastrophe. Aleppos Geheimdienst ist das Schlimmste überhaupt. Die reinsten Schlachthäuser.

Du meinst, beim IS wäre er letztendlich besser aufgehoben? Oder vielleicht bei den Straßenräubern? Dann wäre es nur eine Frage von Geld. Aber warum haben die dann noch kein Lösegeld gefordert? Er ist mittlerweile fast 20 Tage weg. Bleib ruhig. Das war eine Mörsergranate. Ist irgendwo in der Nähe runtergekommen. Da musst du dich dran gewöhnen. Wird hier viel bombardiert? Naja, es gibt Tage, da passiert gar nichts. Und an anderen ist die Hölle los. Warum versteckst du dich hier?

Ich war aktives Mitglied bei der Baath-Partei, sogar Sekretär des Baath-Verbandes und Vorstand des Informatikzentrums der Baath-Jugend. Nach den ersten Demos in der RAH wurde es ernst in Aleppo. Dann schaute jemand von der Partei bei mir vorbei. Wir quatschten ein bisschen. Und dann sagte er mir, wir sollen uns schon einmal darauf einstellen, dass wir vom Baath-Verband demnächst Streifzüge machen würden. In der Nacht. Und dass wir jeden, der auch nur daran denkt, Unruhe zu stiften, gnadenlos platt machen würden.

Ich solle schon einmal eine Liste erstellen, mit den Namen jedes Einzelnen, von dem ich glaube, er könne sowas wie subversive Tendenzen haben. Ich habe versucht, mich herauszureden, habe gesagt, mir falle da beim besten Willen niemand ein. Aber er bestand darauf. Selbst wenn es pure Spekulation sei. In zwei Tagen würde er die Liste holen. Du kannst dir ja vorstellen, die nächsten zwei Nächte habe ich kein Auge zugetan. Ich wusste keinen Rat. Ich erzählte meiner Mutter das Ganze. Sie fragte, kannst du die Liste machen? Ausgeschlossen.

Sie sagte: "Weißt du, was passieren kann, wenn du die Liste nicht machst?" Mittags kam der Typ. Ich sagte ihm, ich würde zwar niemanden verdächtigen, aber sollte ich irgendetwas mitbekommen, würde ich es ihm mündlich melden. Aber er bestand weiter auf die Liste. Ich sagte: "Entweder du hältst jetzt deinen Mund, trinkst deinen Kaffee aus und gehst dann, oder ich werfe dich auf der Stelle raus." Er lächelte und ging. Und ich packte meine Sachen und zog los. Das war jetzt wieder ein Mörser. Aber diesmal kam er von unseren Leuten.

Das kannst du auch bald unterscheiden. Da bin ich aber beruhigt. Während unserer Reise 1994 fuhren wir auch nach Hamar. Eine Schwester meines Vaters war kurz zuvor verstorben und wir waren bei einer ihrer Töchter eingeladen. Es waren zahlreiche Brüder und Schwestern und in dieser Familie waren die Verheerungen der Repression von 82 furchtbar gewesen.

Ein Bruder war getötet worden, einer war verschwunden oder verhaftet und ein dritter Bruder lebte als politischer Flüchtling im Griechenland. An diesem Morgen herrschte eine merkwürdige Stimmung. Es war das erste Mal, dass mein Vater nach dem Tod seiner Schwester die Familien besuchte und auch der im Exil lebende Bruder sollte kommen. Doch er wurde gerade bei seiner Ankunft am Flughafen verhaftet. Meine Cousinen waren zugleich krank vor Sorge

überglücklich uns zu sehen und noch voller Schmerz und Trauer über den Verlust der Mutter. Alle redeten, nein, brüllten durcheinander, lachten, weinten, brachten Speisen über Speisen herein, freuten sich endlich die Cousine aus Frankreich zu treffen, beweinten die Tote, neckten die Kinder, machten sich Sorgen über den Bruder und überlegten gleichzeitig, was sie tun konnten.

Die einzige Lösung schien, einen Onkel, der einen einflussreichen Posten in der Armee bekleidete, mit Gebäck und Süßigkeiten bewaffnet loszuschicken, um irgendeinen Zollbeamten, irgendeinen Geheimdienstmitarbeiter zu bestechen und zu versuchen herauszufinden, wo und warum der Bruder festgehalten wurde und ob noch Hoffnung bestand, ihn wiederzusehen. Nach diesem Frühstück gingen alle zur Arbeit.

Sie waren Lehrerinnen oder Beamte im Justizministerium. Alle dienten einem Staat, der sie unterdrückte. Wer nicht wahnsinnig werden wollte, musste schizophren werden. 9. September 2013. Huda, du fehlst mir sehr. Heute hätte ich dich besonders gern bei mir gehabt.

Selbst wenn es nur für eine halbe Stunde wäre. Einfach hier bei mir. Die meiste Zeit habe ich am Übergang verbracht. Keine Ahnung, wie ich dir diesen Ort beschreiben soll, aber tausende Menschen, die vom besetzten Teil der Stadt in den befreiten strömen und umgekehrt. Die meisten kommen, kaufen auf dem Markt von Bustan al-Kasr ein und gehen wieder zurück.

Hier gibt es alles billiger. So manch einer verkauft dann die Waren natürlich im besetzten Teil zu einem teureren Preis weiter. Wer diesen Übergang kontrolliert, hat es nicht schwer zu stehlen. Abgesehen davon, dass die Wachleute bewaffnet sind,

und eigentlich dafür sorgen sollten, dass niemand mit Riesenmengen an Gemüse, Fleisch oder sonstigem durchkommt. Nur wer zahlt, kommt durch. Es gibt eben Leute, die aus jeder Lage ein Geschäft machen. Und andere, die einfach ihren Kindern etwas Essbares nach Hause bringen wollen. Es gibt Gegenden in der Nähe des Übergangs, die komplett zu Schlachtfeldern geworden sind.

Alles liegt dort in Trümmern. An einer Stelle sieht man überall Katzen- und Hundeleichen. Die Scharfschützen lassen sich an allem aus, was vorbeikommt. Aber das Seltsamste sind die bunt angestrichenen, übereinandergestapelten Busse, die entlang der Frontlinien stehen, um die Grenzen des Niemandslands zu markieren. Auf den Bussen sind inzwischen Hinweisschilder angebracht von Geschäften, die umgezogen sind.

Hier und da stehen ein paar Slogans, ja sogar Liebespaare haben sich verewigt. Der Übergang ist wie ein Kondensat der Gesamtsituation in Aleppo. Als ich dort war, überwältigte mich auf einmal ein eigentümliches Gefühl von Erschöpfung und Sinnlosigkeit. Was mache ich hier eigentlich?

Ich fühlte die ganze Banalität meines Hierseins. Das war vielleicht der Moment, in dem ich am stärksten gefühlt habe, dass alles, was passiert war, zu viel für das Land gewesen ist. Wie sollen die Leute das alles wieder aufbauen?

Und wieder ein normales Leben leben. Ich fühlte mich plötzlich außerstande, ein Teil davon zu sein. Und dass es vielleicht das Beste wäre, allem den Rücken zu kehren und zu gehen. Wenn du doch nur hier wärst. Also ich war in Jürgen das letzte Mal 2009. Und während dieser Reise haben wir einen Ausflug gemacht, den Euphrat entlang, Richtung Raqqa.

Also natürlich, damals wussten wir gar nicht, was aus der Stadt später werden sollte. Wir sind mit dem Auto gefahren von Aleppo für einen Tag. Da war mein Vater da und ein paar Cousinen. Ich war sehr froh, weil das war das erste Mal, dass ich so tief in die Wüste gefahren bin, so Richtung Irak. Aber wenn ich jetzt die Foto wieder anschaue, war es eine Reise durch eine Kriegspropagandalandschaft. Also hier, da sieht man sofort, da sind wir an der Autobahn.

Auf der Autobahnseite sind zwei Raketen. Natürlich sind das nur Modellen, aber sie sind so groß wie echte und mit Tarnanstrich und mit ganz vielen Tafeln drumherum. Hier sieht man den Staudamm. Das ist ein riesiger Bau über den Euphrat. Das wurde in den 70er gebaut von den Russen. Auf der einen Seite sieht man den ganzen See, also blau bis zum Horizont.

Und auf der anderen Seite sieht man grüne Agrarflächen. Also da habe ich zum ersten Mal Baumwollfelder gesehen. Und hier ist die Tankstelle. Wir haben Benzin gesucht und die einzige Tankstelle in der Gegend war leer. Das war absurd, so nah an den Ölquellen zu sein und kein Benzin kaufen zu können. Dann sind wir weitergefahren bis zu einem kleinen Ort und da haben wir den Dorfleuten nach Benzin gefragt.

Das war lustig, weil die Leute konnten uns nicht richtig einordnen. Wir waren da mit ein paar verschleierten Cousinen und es war klar, wir waren weder Touristen noch Leute von dort. Und als die Dorfmänner begriffen haben, dass mein Vater von dort stammte und es in Ausland geschafft hatte, haben sie einfach gefragt, aber wenn du weggehen konntest, warum kommst du überhaupt zurück? Moment, ich bin gleich da. Ah ja, am Fuß...

Der Zitadelle. Da war ein kleines Restaurant direkt am Wasser. Total schön und schattig und frisch. Es war wirklich schön. Und da in der Ecke zur Toilette und direkt über dem Waschbecken eine riesige Tafel mit drei riesigen Porträts. In der Mitte der netto syrischen Präsident und links und rechts seine liebsten Freunden und Verbundeten. Auf der einen Seite Nasrallah, der Chef der libanesischen Hezbollah und auf der anderen Seite der iranische Präsident Ahmadinejad.

Das ist das allererste Mal, dass ich ein halbwegs moderat gezuckertes Glas Tee trinke, seit ich syrischen Boden betreten habe. Lass es dir schmecken. Danke. Mein Kleiner guckt sich so gern dieses Foto hier von sich und seinem Papa an. Ich habe es eine Stunde bevor Ibrahim gekidnappt wurde gemacht. Wenn du hier ein bisschen weiter klickst. Schau mal hier, da kommen noch Fotos von Ibrahim mit Yusuf. Könnte ich die Fotos von Yusuf vielleicht haben? Ja, natürlich. Gibt es denn was Neues von Yusuf?

Leider gar nichts. Eigentlich hatte ich gehofft, hier in Raqqa mehr zu erfahren. Die meisten Gerüchte laufen darauf hinaus, dass man ihn hierher gebracht hat oder zumindest in die Nähe. Aber nein, Neues gibt es nicht. Und was willst du tun? Wahrscheinlich werde ich einfach wieder zurückgehen, so wie ich gekommen bin. Ohne auch nur eine brauchbare Information über Yusuf. Wenn du mich fragst, je früher du Syrien verlässt, desto besser. Deine Anwesenheit hier bringt niemandem etwas zurück.

Es ist das Beste, wenn du gehst. Du bist aber pessimistisch. Ja? Wenn Ibrahim unversehrt freikommt, werde ich ihn gleich am nächsten Tag an die Hand nehmen und mit ihm dieses Land hier verlassen. Wofür nehmen wir all das auf uns? Schon vor der Revolution war Ibrahim in politischer Haft. Während der Revolution hat ihn die Staatssicherheit für drei Monate eingesperrt und jetzt hat ihn der IS gekidnappt. Seit zwei Jahren leben wir hier schon kein Leben mehr. Entweder sind wir in ständiger Angst oder wir müssen uns verstecken oder wir werden vertrieben.

Und mein Sohn wächst ohne seinen Vater auf. Was denn noch? Und du kommst einfach hierher, reist wieder aus und bist vielleicht ein bisschen traurig, vielleicht gerührt mit ein paar Geschichten im Gepäck. Und dann lebst du doch dein Leben weiter. Und Yusef, der Herr, der war auch hier. Ja, saß mit Ibrahim zusammen. Sie haben geredet und Pläne geschmiedet und diskutiert und Tee getrunken. Aber geblieben ist er nicht. Er ist weitergezogen. Verzeih mir, wenn ich zu hart war. Nein, nein, nein. Im Gegenteil.

An jedem Ort, an dem ich bis jetzt war, habe ich Leute kennengelernt, die unter unvorstellbaren Umständen leben. Aber alle waren sie stärker als ich und wussten viel eher, was zu tun ist. Und ich? Meine Schritte sind zu leicht, um meine Spur zu unterlassen. Ich war so lange nicht in Syrien. Nun bin ich zurückgekehrt und muss feststellen, dass ich über mein Land nichts weiß. Beziehungsweise, dass es in Syrien viele Syriens gibt. Nicht allen fühle ich mich nahe. Ich könnte womöglich nicht einmal in ihnen leben.

Vielleicht hilft mir das, was du gesagt hast, ein bisschen ehrlicher mit mir selber zu sein. Ich muss los. Wolltest du nicht noch die Fotos haben? Ich komme wieder und hole sie mir, wenn Ibrahim und Youssef wieder bei uns sind. 13. September 2013 Hallo Huda. Was soll ich dir von Raqqa erzählen?

Die Stadt wirkt im Vergleich zu Aleppo und allen anderen Orten, in denen ich war, fast schon ruhig. So ruhig, dass ich gestern vor lauter Stille gar nicht einschlafen konnte. Aber heute Morgen bin ich vom Bombardement eines MiG-Jets aufgewacht.

Es ist besser, ein Bombardement mitzukriegen, wenn man wach ist. Denn wenn man davon aufwacht, vergehen ein paar Sekunden, bei denen du nicht weißt, ob du noch lebst oder bereits ins Jenseits befördert wurdest. Mittags war dann Fassbombenzeit. Das ist hier in Raqqa Routine.

Der Wind beeinflusst die Fallrichtung der Fassbomben und es braucht an die 10 Sekunden, bis sie auf dem Boden aufprallen. Sie sind die Krone absurder Todesarten. Ich meine, der Typ, der das Ding aus dem Helikopter wirft, weiß doch im Voraus, dass es einfach vollkommen zufällig irgendwo aufschlagen wird, weil es sich unmöglich lenken lässt. Deshalb haben die Menschen hier viel mehr Respekt vor den MiGs,

weil sie bei den MiGs wenigstens nicht dabei zuschauen müssen, wie der Tod so dämlich vom Himmel auf sie herabfällt. Da war dieser Typ in Raqqa, den ich am Tag, an dem ich angekommen bin, getroffen habe. Er war 28 und ganz frisch verheiratet. Heute wurde er von einer Fassbombe getötet. Das ist jetzt schon die dritte Person, die ich kennengelernt habe und von der ich dann erfahre, dass sie bei einem Bombenangriff umgekommen ist.

Für mich hat der Tod eine konkrete Form angenommen. Leute, mit denen ich gesessen und mich unterhalten habe, sind plötzlich nicht mehr da. Halb Rakka kennt Youssef und alle sind super nett zu mir, sobald sie erfahren, dass ich mit ihm befreundet bin. Liebe Menschen, die man völlig ihrem Schicksal überlassen hat.

Keiner kommt hierher. Ein Typ hat mir heute gesagt, die erste Revolution ist jetzt vorbei. Aber wir haben noch an die zehn weiteren Revolutionen vor uns. Die Landschaft ist der Wahnsinn. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Städte an Flüssen die schönsten sind. Und am Euphrat sowieso. Das ist regelrecht magisch. Ich wünschte, du wärst bei mir.

Die Kommunikation mit der Familie meines Vaters ist seit dem Ausbruch des Krieges nicht intensiver geworden. Wenn es mir selten genug gelang, meine Tante Maha zu erreichen, sagte sie zu Anfang, «Sava, sava, denkt an uns». Und dann, als die Situation sich nach und nach verschlimmerte und das Regime begann, Aleppo zu bombardieren,

Savar, Savar, betet für uns. Ich wusste, dass einige meiner Cousins mittlerweile in die Tokaj oder nach Saudi-Arabien geflohen waren. Man vergisst häufig zu erwähnen, dass diejenigen, die bleiben, meist diejenigen sind, die es sich nicht leisten können, wegzugehen. Ja.

Wie der Zufall es will, befindet sich die Wohnung meiner Tante Maha im Westteil von Aleppo, dem Teil, der unter der Kontrolle des Regimes stand und deshalb weder russischen Bombenangriffen noch den Fassbomben des Regimes ausgesetzt war. Meine Tante lebt also im mehr oder weniger unversehrten Teil der Stadt, allerdings mit dem Bewusstsein, dass andere Stadtteile zu 80 Prozent zerstört sind.

Auf Berlin übertragen, das wäre so, als würde man friedlich in Charlottenburg leben und der Prenzlauer Berg wäre ein Trümmerfeld. Seit dem Fall Aleppos im Dezember 2016 hat das Regime erneut die gesamte Stadt unter Kontrolle. Noch ist nichts über die Repressalien bekannt, die mit Sicherheit stattgefunden haben. Meine Tante beschränkt sich darauf, per WhatsApp Fotos der jungen Mädchen der Familie zu schicken.

die das Ende des Krieges heraufbeschwören und auf denen sich nichts Verdächtiges wahrnehmen lässt, nur dass nun im Hintergrund bisweilen kyrillische Schriftzeichen zu erkennen sind. Das Einzige, was sich meine Tante zu erwähnen erlaubt, ist, wie lange sie ohne Wasser waren, an 44 Tagen in diesem Sommer. Regelmäßig schickt sie mir Einladungen auf WhatsApp. Du bist in deinem Land willkommen.

Gefolgt von der ernst gemeinten Ermahnung: "Halte dich von der Politik fern." "Wer überleben will, muss schizophren werden." Hast du den Checkpoint gesehen, durch den wir eben durchgefahren sind? Es heißt, es gibt dort auch ein Gefängnis, was dazugehört. Das ist das Dammgebäude von der Tabkartalsperre. Die vom IS haben es zum Gefängnis umfunktioniert. Der, der uns kontrolliert hat, war ein Syrer, oder? Ja. Vom Akzent her kommt er hier aus der Region.

Ich habe einen Freund, der vielleicht in diesem Gefängnis ist. Bist du dir sicher? Nein. Tun kannst du eh nichts. Er ist fast seit einem ganzen Monat verschwunden. Vielleicht stehe ich hier gerade ganz in seiner Nähe und weiß es nicht einmal. Selbst wenn du hingehst und dich nach ihm erkundigst, glaubst du ernsthaft, dass der Typ am Checkpoint dir irgendetwas sagen würde? Ey Scheich, ich würde gerne mal euer Gefängnis besichtigen. Ich habe eine halbe Weltreise unternommen, um Yusuf zu finden.

Ich meine, das ist doch absurd, dass ich jetzt vielleicht nur ein paar Meter von ihm entfernt bin, aber nicht zu ihm kann. Was ist heutzutage nicht absurd? Es sieht wahnsinnig schön aus hier. Ich habe mein ganzes Leben lang hier gelebt. Also langweilt dich diese Aussicht hier? Ganz im Gegenteil. Ich habe jetzt schon Angst vor der Sehnsucht. Willst du ausreisen? Ja. In die Türkei. Und von dort aus irgendwo hin in die Welt. Sie wollen weiter. Okay. Ich komme gleich.

Nach dem Ersten Weltkrieg haben sich die Sieger die Reste des Osmanischen Reichs aufgeteilt. Die Briten übernahmen die Kontrolle über Palästina und Irak und die Franzosen über Libanon und Syrien. Unter dem französischen Protektorat wurde in Syrien jeglicher Protest und Aufstand niedergemacht. Und zu der Zeit hatte mein Großvater, also der Vater meines Vaters, vier Brüder, die alle Konditoren waren.

Und sie hatten in Hama eine kleine Konditorei, die sie natürlich schließen mussten, als die französische Armee die Stadt bombardierte, um diese Protest niederzuschlagen. Dann sind die Brüder nach Ägypten ausgewandert, nach Alexandria, und haben dort ihre Konditorei wieder aufgemacht, bis die Stadt auch bombardiert wurde. Ich weiß nicht genau, ob es nach einem Aufstand 1936 war oder später im Krieg 1942.

Die Brüder sind also weitergezogen nach Haifa. Palästina war damals unter englischem Mandat. Und dort haben sie wieder Konditoreien aufgemacht bis zur Gründung Israels '48. Und dann mussten sie natürlich wieder weg. Sie sind zurück nach Syrien, haben mit den Entschädigungsgeldern eine Tabakplantage gekauft, bis sie im Zuge der Agrarreform in den 50er Jahren alles verloren haben. Ich habe den Eindruck, dass die kleinen Leute immer auf der Seite der Besiegten leben.

Seit 2015 sieht man auch hier ganz viele syrische Konditoreien aufmachen. Geht es da um einen Nationalstolz oder ist es einfach eine Überlebensstrategie? Mein fremdes Land. Hörspiel mit Texten von Leila Rabbi und Szenen aus dem Stück Yusuf Wahir von Mohammad Al-Attar.

Übersetzung aus dem Französischen von Frank Weigand und aus dem Arabischen von Sandra Hetzel. Mit Leila Rabbi und Mehmet Atisci, Thilo Nest, Urs Fabian Winiger, Sese de Tarzian, Arthur Adel und Kimda Hameidan. Ton Peter Awa und Wenke Decker. Regieassistenz Oliver Martin. Regie Anoushka Troka. Eine Produktion des Rundfunk Berlin Brandenburg 2018.

Dramaturgie und Redaktion Juliane Schmidt