Und dann saß ich da mit meinen sieben Unterhosen in der Hand. Was übrig blieb vom Krieg in zehn Kapiteln. Hörspiel von Sabine Ludwig. Eins. Großmutter, warum bist du so blass? Der Mond schien gerade auf das Grab herab,
Aber die Tote ließ sich nicht blicken. Jedes Kind konnte des Nachts ruhig hingehen und sich dort an der Kirchhofmauer eine Rose pflücken. Ein Toter weiß mehr, als wir Lebenden wissen. Der Tote kennt die Angst, die uns sein Wiedererscheinen einflößen würde. Die Toten sind besser als wir alle und deshalb kommen sie nicht. Es liegt Erde über dem Sarge und Erde darin. Andersen Großmütterchen. Vor mir liegen vergilbte Zeitungsartikel.
Getippte Gedichte auf hauchdünnem Durchschlagpapier. Briefe in einer kräftigen Handschrift. Fotos, die eine schöne, dunkelhaarige Frau zeigen. Zeugnisse aus dem Leben meiner Mutter, die ich erst jetzt, über 30 Jahre nach ihrem Tod, in die Hand nehme. Wie ist es möglich, dass die Toten nicht sterben? Sie sind tot, doch leben sie. Sie leben und bewegen sich vor meinen Augen. Ich sehe sie lebend, aber ich weiß, dass sie sterben müssen.
weil ich weiß, dass sie tot sind. Meine Mutter starb, als ich wenige Wochen schwanger war. Meine Tochter trägt als zweiten Vornamen den Namen ihrer Großmutter und als dritten den meiner Großmutter, die ich wiederum nie kennengelernt habe. Die wenigen Fotos, die meine Mutter von ihrer Mutter besaß, zeigen eine kränkliche, blonde Frau mit blassem Gesicht. Das Gegenteil meiner Mutter.
Die ist aber nicht so hübsch wie du, Mama. Du bist ihr sehr ähnlich. Ich wollte dieser fremden Frau nicht ähnlich sein. Ich war eifersüchtig, weil ich spürte, welchen Platz sie im Herzen meiner Mutter einnahm. Dass die Trauer um ihren frühen Tod noch lebendig war. War ich ihr etwa nicht genug? Rotkäppchen aber war nach den Blumen herumgelaufen. Und als es so viel zusammen hatte, dass es keine mehr tragen konnte, fiel ihm die Großmutter wieder ein. Und es machte sich auf den Weg zu ihr.
Es wunderte sich, dass die Tür aufstand, und wie es in die Stube trat, so kam es ihm so seltsam darin vor, dass es dachte: "Ei, du mein Gott, wie ängstlich wird mir's heute zumut und bin sonst so gerne bei der Großmutter." Es rief: "Guten Morgen", bekam aber keine Antwort. Darauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück. Da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah so wunderlich aus.
Gebrüder Grimm, Rotkäppchen. Ich schlage ein in brüchiges Leder gebundenes Buch auf, das Tagebuch meiner Großmutter. Auf der ersten Seite klebt ein Foto von ihr und ihrer Tochter. Meine Mutter ist da 13 und trägt lange dunkle Zöpfe, genau wie meine Tochter in dem Alter. Du musst die schlechte Schrift und das häufige Verschreiben entschuldigen. Aber du weißt ja, dass ich dieses Büchlein im Bett...
in sehr ungeschickter Lage, mit täglich hohem Fieber und mit sehr schwachen Händen schreibe. Im Bewusstsein bald zu sterben, hat meine Großmutter die Kindheitserlebnisse ihrer Tochter aufgeschrieben. Die Sütterlin-Schrift ist kaum zu entziffern. Die Aufzeichnungen beginnen kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der liebe Papi hat mich heute auf ein Stündchen im Krankenhaus besucht. Er hat sich in seiner neuen Uniform vorgestellt. Ach, wie nett und vornehm sah der Papi aus.
Es ist aber ein zu trauriger Anlass, weshalb Papi die Uniform tragen muss. So ganz im Stillen hoffe ich, dass Papi nach Kriegsende, das so Gott will recht, recht bald sein wird, ganz und gar bei der Wehrmacht bleiben wird. Es hat doch viele Vorteile. Und vor allen Dingen einmal seine Pension. Meine Großmutter stirbt Anfang November 1939 und lässt ihre Tochter 14-jährig, allein und völlig auf sich gestellt zurück.
Wo mein Vater war, wusste ich nicht. Aber eines Nachts klingelte es, er stand vor der Tür. Ich musste schnell Hemden bügeln, seinen Wehrmachtsmantel ausbessern und das Portepee annähen, einen kleinen Riemen mit silberner Quaste, den Offiziere an der Seite ihres Mantels trugen. Ich nähte und bügelte die ganze Nacht. Im Morgengrauen war mein Vater fort. »Ich will in den Krieg, ich will in den Krieg«, rief der Zinnsoldat so laut er konnte. Und dann stürzte er sich hinunter auf den Boden.
Andersen, der standhafte Zinnsoldat. Zwei. Ein Klaps hat noch keinem geschadet. Kriegsspielen ist doof. Ich will ein Indianer sein. Mit Pfeil und Bogen. Oder ein Cowboy. Mit Pistole. Nein, mit zwei Pistolen. Und du bist tot. Du musst jetzt umfallen. Du bist tot. Hörst du? Tot. Tot.
Jeden Morgen pünktlich um sieben donnert die Panzerkolonne der amerikanischen Streitkräfte an unserem Haus vorbei. Sie hinterlässt tiefe Spuren im Asphalt. Oh Mann, jetzt kann ich nicht mehr Rollschuh laufen. Blöde Ami. Ende der 50er Jahre ist der Krieg vorbei und doch gegenwärtig in dem südlichen Vorort von Berlin. Einschusslöcher in den Fassaden, Bombenkrater, Ruinen, Kriegsversehrte auf den Straßen. Ich versuche mit einem Bein Rad zu fahren.
mit einem Arm die Jacke zuzuknüpfen und lerne ein neues Wort. Eierhandgranate, Eierhandgranate. Ich habe sie gefunden und darf nicht damit spielen. Einstmals hat ein Hausvater ein Schwein geschlachtet. Das haben seine Kinder gesehen. Als sie nun Nachmittag miteinander spielen wollen, hat das eine Kind zum anderen gesagt, du sollst das Schweinchen und ich der Metzger sein.
hat darauf ein bloß Messer genommen und es seinem Brüderchen in den Hals gestoßen. Gebrüder Grimm, wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben. An die Hauswand hat jemand mit Kreide ein Hakenkreuz geschmiert. Ich versuche es nachzuzeichnen. Es gibt Prügel. Geprügelt wird ständig. Die Erwachsenen schlagen die Kinder, die großen Kinder schlagen die kleinen.
Die kleinen, reißenden Fliegen die Flügel aus. Und dann kamen die Fliegen heran. Die krochen über ihre Augen hin, hinüber und herüber. Sie blinzelte mit den Augen, aber die Fliegen flogen nicht davon. Denn fliegen konnten sie nicht. Die Flügel waren ihnen ausgezupft. Sie waren in Kriechtiere verwandelt worden. Andersen, das Mädchen, das auf Brot trat. Ich komme mit blutiger Nase nach Hause. Der Nachbarsjunge pinkelt mir ans Bein.
Wenn du das nochmal machst, sag ich es meinem Vater, dann kriegst du Dresche. Dresche hat meine Mutter auch gekriegt. Und richtig. Oben hast du mit dem großen Kochlöffel fürchterliche Kloppe bekommen. Ich kann wirklich sagen, ganz fürchterlich. Denn ich war für den Rest des Tages hin. Du warst ein großer Jähzorn, so klein wie du warst. Aber den mussten wir dir austreiben. Es war oft bitter für mich, wenn ich so hart zu dir sein musste.
Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe. Und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht. Und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da musste die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen. Und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.
Gebrüder Grimm, das eigensinnige Kind. Auch ich werde von meinen Eltern geschlagen. Mein Vater versohlt mir den Hintern. Meine Mutter haut mir eine runter. Zum Geburtstag wünsche ich mir, dass du mir nie mehr eine Scheuer hast. Habe ich mein Kind jemals geschlagen? Ja, das habe ich. Einmal, als es mit vier oder fünf einfach auf die Straße gelaufen ist. Das Auto konnte in letzter Sekunde bremsen. Es gab einen Klaps auf dem Po. Am Ende weinten wir beide.
Was hat eine Mutter lieber als ihr Kind? Aber ich durfte es dir nie so recht zeigen. Denn erstens, ein Sprichwort heißt: Wer sein Kind lieb hat, der züchtigt es. Und zweitens, ich bin seit Jahren krank. Ich hätte dich so gern, ach, so gern manchmal geknuddelt. Aber das musste ich lassen aus Liebe zu dir. Und drittens, und das war der härteste Grund für mich: Mutti weiß seit Jahren, dass sie wohl höchstens deine Konfirmation erleben wird.
Vielleicht auch diese nicht einmal. Schau, das sagte ich mir immer, wenn ich mein Kind verweichliche, dann ist der Schmerz der Trennung für das Kind zu groß. Siehst du, alle Härte geschah nur aus reinster, tiefster Liebe zu dir. Meine Mutter leidet darunter, dass ihre Mutter sie nie in den Arm nimmt und fügt mir jedoch den gleichen Schmerz zu. Schläge sind in meiner Kindheit fast der einzige Körperkontakt, den ich mit meinen Eltern habe.
Einmal bist du zu mir ins Bett gekommen, da hast du geweint. Und ich wusste nicht warum. 3. Unser täglich Brot. Das Haus, in dem ich aufwachse, ist über 100 Jahre alt. Es hat zwei Kriege überstanden. Wir bewohnen dort zwei Zimmer zur Untermiete. Es gibt einen Wandschrank, den Russenschrank. Gedacht für Vorräte, wenn der Russe kommt. Aber viel ist nicht drin im Schrank. Senf aus der Senatsreserve.
Ein Huhn in der Büchse. Sei froh, dass du überhaupt was zu essen bekommst. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns beschert hast. Eine schöne Bescherung. Gekochte Nieren, Leber, Schweinebauch und Speck. Fetter Speck, der macht lange satt. Meine Mutter schneidet Speck, schneidet sich den Finger weg. Meine Mutter schneidet Speck, schneidet sich...
Den Finger weg! Meine Mutter schneidet ein Herz. Ein Rinderherz, das eigentlich für den Hund meiner Tante gedacht ist. Das ist doch viel zu schade für einen Hund. Sie steckt sich das rohe Fleisch in den Mund. Sie isst auch die Leber roh. Die Leber, die beim Kauen im Mund aufquillt und die ich schließlich erbreche. Den Schaf auf meinen Knien esse ich, aber keine Blutwurst. Das ist fremdes Blut. Weißt du nicht, wie gut du's hast?
Wie dankbar wäre ich gewesen, wenn ich mich einmal hätte satt essen können. Zwei Scheiben Brot hatte ich am Tag. ZWEI SCHEIBEN! Das Schlimmste von allem war jedoch der grässliche Hunger, den sie verspürte. Konnte sie sich denn nicht bücken und ein Stück von dem Brot brechen, auf welchem sie stand? Nein, der Rücken war steif. Arme und Hände waren erstarrt. Ihr ganzer Körper war wie eine Steinsäule. Nur die Augen konnte sie noch im Kopfe drehen.
Das war eine Pein und dazu der Hunger. Ja, zuletzt schien es ihr, als fräßen sich ihre Eingeweide selber auf und als würde sie inwendig ganz leer, ganz entsetzlich leer. Andersen, das Mädchen, das auf Brot trat. Hunger, immer wieder die Geschichten vom Hunger. Wir haben alles gegessen. Pferde, die tot auf der Straße lagen, wurden zerteilt. Hör auf, die armen
Das letzte Schmuckstück, das ich noch von meiner Mutter hatte, habe ich eingetauscht gegen ein Pfund Mehl. Und dann ist das Mehl nur eine dünne Schicht obendrauf. Der Rest ist Gips. Eine Tüte voll Gips. Allein wie sie so dastand, den einen Fuß auf dem Brot, den anderen in der Luft, um weiter zu schreiten, sank das Brot mit ihr tiefer und tiefer. Sie verschwand ganz und gar und nur eine große Lache, die Blasenwarf war zu sehen.
Das ist die Geschichte. Andersen, das Mädchen, das auf Brot trat. Brot darf man nicht wegwerfen, niemals. Das ist eine Sünde. Dafür kommt man in die Hölle. Mein Vater schneidet säuberlich die schimmeligen Stellen aus dem Brot. Es schmeckt trotzdem verdorben. Mein Vater war in russischer Kriegsgefangenschaft, musste Bäume fällen in den Sümpfen von Moskau. Erzählt hat er davon lange nichts.
Wer die Norm geschafft hatte, aufgrund der harten Arbeit und der mangelhaften Ernährung schafften das immer weniger, erhielt am Abend im Lager noch einen Schlag Kascher in den Kochgeschirrdeckel, zusätzlich zu der Tagesration von 200 Gramm sehr wohlschmeckenden, etwas feuchten Kommisbrot. Ein Trost, unsere Bewacher waren da nicht viel besser dran.
Bis heute kann ich kein Brot wegwerfen, überhaupt keine Lebensmittel. Ist schön den Teller leer, dann scheint morgen die Sonne. Meine Tochter kann es noch weniger. Dabei habe ich sie zum Essen nie gezwungen. Fasziniert schaue ich ihr dabei zu, wie sie aus vergammeltem Obst und Gemüse die faulen Stellen schnitzt. Und von der Birne bleibt nur das Kerngehäuse übrig. Ich setze mich auf einen Stuhl. Ein Soldat kommt zu mir.
Er zieht ein Messer aus dem Gürtel, mit einem Daumendruck lässt er es aufschnappen. Er pflanzt es als Bajonett auf ein Gewehr. Mit der scharfen Spitze reißt er mir den Mantel auf. Das Messer berührt meine Haut nicht, aber ich spüre den kalten Stahl. Der Russe nimmt die Waffe zurück. Er löst das Messer vom Gewehr und schneidet in ein Stück Brot. Vier. Vom Glanz der Dinge. »Sind Sie von Gold?« fragte die Stecknadel, die ihre Nachbarin war.
Sie haben ein herrliches Äußeres und ihren eigenen Kopf, aber klein ist er. Sie müssen danach trachten, dass er wächst. Und darauf hob sich die Stopfnadel so stolz in die Höhe, dass sie aus dem Tuch in die Gosse fiel, gerade als die Köchin spülte. Nun gehen wir auf Reisen, sagte die Stopfnadel, wenn ich nur nicht dabei verloren gehe. Aber sie ging verloren. Andersen, die Stopfnadel.
Wie stolz war meine Mutter darauf, dass sie als Sportlichste in ihrer Klasse auserwählt wurde, bei der Olympiade 1936 mitmachen zu dürfen. Ein winziges Pünktchen, inmitten tausender weiß gekleideter Mädchen, allein mit der Funktion das Stadion zu füllen. Ein Nichts und doch ein Mensch.
Ein elfjähriges Mädchen mit braunen Zöpfen im weißen Turnzeug, das brav die vorgeschriebenen gymnastischen Übungen absolviert, synchron nach dem Kommando einer fernen Lautsprechermusik. Zwei Jahre später war von diesem Stolz nicht viel übrig geblieben. Die Sonne schien nicht am 1. Mai 1938. An diesem Tag war das Thermometer auf 2 Grad unter Null gefallen und es schneite.
An diesem 1. Mai mussten wir Jungmädchen antreten, um im Olympiastadion den Reichsjugendführer Baldo von Schirach reden zu hören. Dort sollten wir nach der Gesamtchoreografie irgendeines Parteioberen auf den Rängen das Wort "Großdeutschland" bilden. Ich saß mit meiner hässlichen, firnusbraunen Kletterweste im "N". Im Halbrund des Stadions konnte ich von meinem Platz aus gerade die Silbe "Groß" erkennen.
Später notiert er, was die Russen mitgenommen haben.
Ein paar hohe Schaftstiefel, neue, 50 Reichsmark, eine gute Lederaktentasche, ein Etui mit sehr gutem Füllfederhalter und Druckbleistift, 20 und 38 Reichsmark, eine goldene Damenarmbanduhr, 80 Reichsmark, zwei silberne Herrenarmbanduhren, 40 und 20 Reichsmark, ein Lederkoffer mit mehreren Paaren Schuhen, wertvollen Kleidern, neuen Stoffen und Wäsche im Gesamtwert von 600 Reichsmark,
30 Einwegläser im Wert von 15 Reichsmark, ein Fotoapparat 9x12, 50 Reichsmark. Beim Lesen breche ich in Tränen aus. Warum da? Warum nicht an der Stelle, wo mein Großvater beschreibt, wie mein Vater zur Unkenntlichkeit abgemagert mit schiefem Kopf nach einem Schädelbasisbruch im August 1946 aus russischer Gefangenschaft heimkehrt?
Dieser gebückt mit schleppenden Schritten gehende Mann trug schwere Holzschuhe an den Füßen, eine abgetragene, zerschlissene Feldgrau-Uniform, auf der noch braune Blutflecken auf der Brustseite zu erkennen waren, dazu eine Konservendose als Essgeschirr und einen alten Brotbeutel umgehängt. Schwer stützte er sich auf seinen selbstgeschnitzten Stock, als er die Gleise überquerte und links in die Hauptstraße einbog. Vor mir stand ein gebeugter Mann mit ganz kurz geschorenem Kopf.
das eine Auge wie schlitzäugig gestellt, die eine Mundpartie schief nach oben gezogen. Diese armselige Gestalt sollte unser Sohn sein? Ich habe alles im Krieg verloren. Es ist der Verlust. Ich kann nichts verlieren, kann mich von nichts trennen. Angefangen von einer kleinen Bagelietdose mit angegucklten Holzfiguren bis hin zu einem Monstrum von einem Schrank, horte und hüte ich Gegenstände, mit denen ich Erinnerungen an meine Kindheit verbinde.
Und vergewissere mich so meiner Existenz. Ein kleines Medaillon mit dem Foto meiner Mutter, einen Ring meines Schwiegervaters. Nichts von Wert habe ich behalten können. Auch meine Tochter hortet Erinnerungen in Form von Dingen. Doch die gehen immer wieder verloren, kaputt, verschwinden aus versehenem Müll. Bis auf ein paar Handschuhe aus dünner brauner Wolle, die mein Vater an der Front in Riga getragen hat. 70 Jahre später trägt sie meine Tochter. Während des Studiums in Riga.
Die bekomme ich für eine akkurat gezeichnete Karte der baltischen Länder. Mein Vater hat sie gezeichnet und mit dem Finger auf einen roten Punkt gezeigt. Riga, da war ich im Krieg. Er hatte sich mit knapp 18 freiwillig gemeldet, weil er sich so die Einheit aussuchen konnte. Als Funker hoffte er, nicht direkt am Kriegsgeschehen beteiligt zu werden. Und zunächst sieht es auch so aus, als wäre Langeweile das größte Problem.
Ich habe die Nase gestrichen voll. Könnt ihr mir nicht mal ein paar Reklamheftchen schicken? Die Eltern meines Vaters schicken ihm Tabak und Lesestoff. Er bedankt sich mit Seife und Kaffee. 5. Wer Angst hat, muss sich um den Kummer nicht sorgen. Irgendwann hatte ich keine Angst mehr. Als der russische Soldat mit dem Gewehr vor mir stand, hatte ich keine Angst. Wenn der Tod immer gegenwärtig ist, gibt es keine Angst. Natürlich hat meine Mutter Angst.
Die fängt an, als sie als Kind um das Leben ihrer tuberkulosenkranken Mutter baumelt. Morgens lauschte ich ins Nebenzimmer. Wenn ich meine Mutter husten hörte, war ich glücklich. Dann lebte sie ja noch. Hustete sie nicht und alles war still, dachte ich. Nun ist sie gestorben. Und schließlich wünschte ich, sie solle doch sterben, damit ich nicht mehr diese Ängste ausstehen musste. Meine Mutter hat ständig Angst um mich. Ist wie besessener von mir, könne etwas zustoßen.
Gleichzeitig setzt sie mich gefährlichen Situationen aus, lässt mich als Baby auf den Steinboden fallen, läuft mit mir bei Flut ins Watt. Wenn sie bei meiner Freundin anruft und fragt, ob ich dort auch angekommen bin, ist mir ihre Angst erst nur peinlich. Später lähmt sie mich, denn sie hält mich davon ab, eigene Wege zu gehen. Ich stecke fest, stecke fest in Berlin. Stopp und Hut, Stehning gut, ist da.
Als ich schließlich versuche, mich zu befreien, plane, so weit fortzufahren, wie es nur irgend geht, nach Australien, da wird meine Mutter krank. Und nun bin ich es, die vor Angst fast stirbt. Zu diesem Zeitpunkt bin ich kein Kind mehr, aber die Angst vor dem Verlust meiner Mutter ist die eines Kindes. Auch ich lausche auf das Husten, aber hier ist das kein gutes, sondern ein schlechtes Zeichen.
Nun war das arme Kind in dem großen Wald Muttersälen allein und ward ihm so Angst, dass es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wusste, wie es sich helfen sollte. Gebrüder Grimm, Schneewittchen. »Die Angst um meine Mutter endet mit ihrem Tod und geht nahtlos über in die Angst um mein Kind, das zu diesem Zeitpunkt nicht größer ist als ein kleiner Goldfisch. Ich spüre seine Bewegungen wie zarte Flossenschläge.«
und befürchte, mein Kummer, meine unendliche Trauer könnten ihm schaden. 30 Jahre später frage ich mich, was ist es, das meine Tochter von einer Minute auf die andere versteinern oder in Tränen ausbrechen lässt? Was ist der Grund für ihre Panikattacken, ihre große Angst? Ich fühle mich schuldig. Sie fühlt sich schuldig. Ein ewiger Kreislauf. Musik
6. Ich träumt in seinem Schatten Ich sah eine Frau, die zog einen kleinen Leiterwagen durch den Schnee. Darin hockte ein Mann, die Knie hochgezogen, die Arme hingen links und rechts herunter, sodass die Hände auf dem Boden schleiften. Der Kopf war auf die Brust gesunken.
Als ich näher kam, sah ich, dass der Mann tot war. Als Kind weiß ich nichts von Bombennächten, den aufgedunsenen Pferdekadavern auf den Straßen. Und trotzdem träume ich von abgeschlagenen Köpfen, gefolterten Körpern. Da waren viele Tiere aufgespießt. Denen ging eine Stange hinten durch den Po und vorn wieder raus. Und die haben sich gegenseitig aufgefressen. Immer wieder diese Träume von Erschießungen.
Sind das die Bilder, die mein Vater im Kopf hat und über die er nie spricht? Es gibt ein Foto von meinem Vater vom März 1943. Er steht vor einem Blockhaus. Partisaneneinsatz in Ordez. Was ist da geschehen? War es wirklich so, dass man als Funker mit den Grausamkeiten des Krieges nur am Rande zu tun hatte? War auch er an Erschießungen der Partisanen beteiligt, die sie Banditen nannten?
Im Herbst 1943 ist mein Vater auf Heimaturlaub. Auf einem Porträtfoto sieht man einen ernsten jungen Mann. Mein Großvater notiert: "Zum Abendessen Gänsebraten mit grünen Klößen." Nicht ein Wort darüber, was sein Sohn von der Front berichtet. Hat er nicht darüber gesprochen? Ich erfahre später nichts von den Gräueln im berüchtigten Kurlandkessel. Lese erst jetzt auf einer Feldpostkarte vom Dezember 1944, dass er in Schlamm und Morast fast verfault.
Die Schlammgrube ist ein helles Prunkgemach gegen die Brauerei der Moorfrau. Jedes Gefäß stinkt so, dass die Menschen davon ohnmächtig werden. Und dann stehen die Gefäße eng aneinander gepresst. Und gibt es irgendeine kleine Öffnung zwischen ihnen, durch welche man sich hindurchdrängen könnte, so ist das doch nicht möglich, wegen all der nassen Kröten und fetten Schlangen, die sich hier förmlich verfilzen. Andersen, das Mädchen, das auf Brot trat. Auch meine Tochter hat solche Träume.
berichtet mir von grauenvollen Bildern. Bilder von Messern, die sich in Körper bohren, von abgeschlagenen Köpfen. Ich schaue in einen Spiegel. Auf meiner rechten Wange, unterhalb des Auges, tritt eine fingerdicke blaue Ader hervor. Vor mir steht ein Apparat, eine Art gläserner Mensch ohne Kopf. Man sieht nur das Venensystem durchsichtiger Adern aus Glas, in denen Blut langsam und ungleichmäßig fließt.
In Höhe der Schultern ist jeweils ein Reagenzglas angebracht. Das auf der rechten Seite ist fast voll mit Blut gefüllt, während das linke nur ein paar Tropfen enthält. Es ist mein Blutkreislauf. Als meine Mutter diesen Traum aufschreibt, weiß sie nicht, dass sie krank werden und eine Bluttransfusion nach der anderen erhalten wird. Und auch ich habe zu Beginn meiner Schwangerschaft einen bizarren Traum.
Ein hoher Raum, weiße Betten in geraden Reihen wie der Schlafsaal im Kinderheim. Hier eine gynäkologische Praxis. Dickbäuchige Frauen wälzen sich auf dem Lager. Der Arzt steht vor mir, sieht mich nicht an, beißt in ein Hackepeterbrötchen und erklärt kauend, zur Bestimmung der zu erwartenden Missbildung müsse er Blut abnehmen. Mit einem Vierkantschlüssel sticht er mir in den Puls und das Blut läuft dunkel den Arm herab.
Nur, dass es am Ende Leberwurst ist, nach der der Arzt riecht, als er sich nach der Geburt meines Kindes über mich beugt, um mir zu erklären, dass er jetzt eine Not-OP vornehmen müsse, damit ich nicht verblute.
Sieben In einer Nacht im Mai Ich lag in einem Keller auf einem Feldbett, um ein wenig zu schlafen.
Ich hatte mein Gesicht ganz schwarz gemacht, trug Mütze und Mantel und alle meine Unterhosen übereinander. Dann kamen plötzlich russische Soldaten in den Keller mit vorgehaltener Maschinenpistole und nun Frauen raus. Ich fühle, dass ich hochgezerrt werde. Sie schleppen mich die Treppe hoch auf die Straße. Hilft mir niemand? Weiter in ein Haus. Kein Haus. Eine Ruine. Eine Außenmauer fehlt. Nur die Treppe ist noch heil.
Im Schein einer Taschenlampe werde ich hinaufgeschoben und in einen Raum gestoßen, auf ein Bett. Wie kommt ein Bett in die Ruine? Ich spüre Schwere auf meinem Leib, Alkoholatem über meinem Gesicht. Ich habe Schmerzen, Schmerzen. Der Film, in dem meine Mutter von ihrer Vergewaltigung berichtet, läuft auf der Berlinale 1992 am 22. Februar, ihrem 67. Geburtstag. Ich schaue ihn mir nicht an.
Erst ein halbes Jahr später im Fernsehen. Da erwarte ich ein Kind und meine Mutter lebt nicht mehr. Dann kam ein Offizier. Er sprach ganz gut Deutsch. Ob ich mit ihm ins Nebenzimmer gehen würde? Es war so ein Kartoffelkiller. Und er hat sich entschuldigt, dass er mich nun auch vergewaltigen müsse. Und das ging dann auch sehr schnell. Nun war alles erledigt. Und ich sagte, aber ich kann jetzt nicht nach Hause. Es ist Nacht und ich werde erschossen auf der Straße.
Sperrstunde für Deutsche. So wie einer gesehen wurde, wurde er abgeknallt. Dann hat er einen Befehl erteilt an einen Soldaten und das habe ich dann dankend angenommen. Der brachte mich bis vor meine Tür, wo ich im Keller die anderen vermutete. Halte deinen Körper stets rein. Das Witzige an der Sache, wenn man in dem Zusammenhang von Witz sprechen darf, war, meine sieben Unterhosen, die ich übereinander angezogen hatte, die hatte ich nun alle in der Hand.
Und so saß ich dann vor dem Keller, der aber verschlossen war. Die hatten von innen alles verriegelt. Und so saß ich dann die ganze Nacht auf der Steintreppe. Meine Tochter besucht ein Seminar über Frauenfilme und sieht diesen Film. Es ist für sie nicht nachvollziehbar, dass das ihre Großmutter sein soll, die da so nüchtern, fast unbeteiligt über ihre Vergewaltigung spricht. Ich will nicht, dass sie meine Mutter so sieht, krank und ausgemergelt von den Chemotherapien,
Eine schlecht sitzende Perücke auf dem Kopf. Ich zeige ihr Fotos von ihr als junge, schöne Frau. Und meine Tochter erkennt die Ähnlichkeit. Sei immer Herr deines Körpers, in jeder Situation. Es ist eine Ähnlichkeit, die mich sowohl tröstet als auch erschreckt. Ich erinnere mich an ein Wiedersehen nach längerer Zeit. Meine Tochter hat die Haare ganz kurz geschnitten. Ich warte auf sie, schaue aus dem Fenster und sehe eine Frau die Straße hochkommen.
Ich erkenne den weitausholenden Gang, die leicht schräge Haltung des Kopfes. Ich sehe meine Mutter. Und dann erst sehe ich mein Kind. Meine Tochter hatte Angst davor, den Film anzuschauen. Nicht wegen ihrer Oma, sondern wegen des Themas Vergewaltigung. Sie erträgt es nicht, etwas in diese Richtung zu sehen oder zu hören. Wenn in einem Film Männer auftreten, die Frauen Gewalt antun,
Muss ich aus dem Kino gehen, den Fernseher abschalten. Sie hält es nicht aus und fragt, warum reagiere ich so? Ich habe doch nichts dergleichen erlebt. Aber deine Großmutter hat es erlebt und ich auch. Ich will der Rose mein Zeichen aufprägen, sagte die Schnecke. Nun habe ich sie bespuckt, mehr kann ich nicht tun. Andersen, der Stein der Weisen. Mit Anfang 20, gerade ausgezogen, betrete ich eines Abends das Haus, in dem meine Mutter lebt.
Ihr Nachbar bittet mich auf ein Glas Wein in seine Wohnung, zerrt mich dann auf ein Bett, direkt an der Wand, der sehr dünnen Wand, auf deren anderer Seite noch vor kurzem mein Bett stand. Ich möchte schreien, um mich schlagen, tue es nicht. Aus Angst meine Mutter könne es hören. Ich schäme mich, habe so getan, als sei es nie passiert. Schließlich ist es ja ganz allein meine Schuld. Ich hätte es besser wissen müssen.
Sie brachten eine andere Jungfrau mitgeschleppt, waren trunken und hörten nicht auf ihr Schreien und Jammern. Sie gaben ihr Wein zu trinken, drei Gläser voll, ein Glas weißen, ein Glas roten und ein Glas gelben. Davon zersprang ihr das Herz. Darauf rissen sie ihr die feinen Kleider ab, legten sie auf einen Tisch, zerhackten ihren schönen Leib in Stücke und streuten Salz darüber. Gebrüder Grimm, der Räuberbräutigam. Ach, guter Hoffnung!
Nach dieser Nacht im Mai 1945 hatte ich nie mehr meine Tage. Als ich viele Jahre später spürte, dass ich schwanger war, hielt man mich für hysterisch und hätte mich im Krankenhaus fast sterben lassen. Auch ich erhalte die Diagnose unfruchtbar und auch ich werde schwanger. Ein wunderbares Wunder, mit 38 und verklebten Eierstöcken schwanger zu werden.
»Wenige Tage vor dem Tod meiner schönen Mutter, die nie alt werden durfte, die ich zu Lebzeiten immer wieder sterben sah, im Traum, schreiend. Nun hatte ich sie tot gesehen. Das tat nicht mehr weh. An der Tür hing noch die Mütze, die ich ihr einst gehäkelt hatte. Die kannst du nicht mehr tragen, Mama, die sieht aus wie ein Pfannkuchen. Lachen und Liebe und Leben. Der Tod war doch gekommen, und das Leben stand nur auf dem Papier.«
Voraussichtlicher Geburtstermin 19. Mai. Das schreibe ich kurz nachdem mir der Arzt mitteilt, dass mein Kind behindert auf die Welt kommen wird. Da kann man ja leider nicht gratulieren, sagt er. Keine Sorge, es gibt genetische Schäden, mit denen unter Umständen ein halbwegs normales Leben möglich ist. Dann fallen Worte wie Chromosomenanomalie, Gendefekt, Wasserkopf, Missbildung, Missbildung, Missbildung.
Die Schwangerschaft ist kompliziert. Meine Tochter kommt fünf Wochen zu früh auf die Welt, schaut mich an und ich staune nicht, denn ich habe sie schon immer gekannt. Neun. Und wenn du denkst, es geht nicht mehr.
Plötzlich kommt verkehrswidrig auf der falschen Straßenseite ein großer, grüner, amerikanischer Wagen heran. An seinem Steuer, das sich auf der rechten Wagenseite befindet, sitzt der Tod. Man erkennt ihn nur an seinem Kopf, der mit wenigen weißen Haaren bedeckt ist. Sonst ist er bekleidet mit einem modischen schwarzen Anzug.
Nach der Art der Amerikaner lässt er seinen rechten Arm angewinkelt auf dem rechten, offenen Wagenfenster lehnen und steuert nur mit der linken Hand. Als er an mir vorüberfährt, zieht er mich an und lacht. Dann wendet er und kommt wieder an mir vorüber. Er schaut mich an und fragt, wann stirbst du? Und fährt ohne eine Antwort abzuwarten weiter. Das ist meine erste Erinnerung. Die Tabletten nicht gegessen. Mit zwei wird mir der Magen ausgepumpt.
Das Röhrchen mit den Schlaftabletten auf dem Nachttisch meiner Mutter ist leer. Mir kleben weiße Krümel am Mund. Später findet meine Mutter die Tabletten in meinem Puppenwagen. »Ich schäme mich vor meinem Kind. Ich wollte mir das Leben nehmen. Als wenn eine Kraft mich trieb, zog es mich zu dem Schrank, einen Gürtel suchen, der stark genug sei, damit in den Keller die Tür von innen schließen. So schnell würde mich niemand finden. Die Eisenstäbe am Fenster sind stabil.«
Mit dem Gürtel in der Hand muss ich ziemlich lächerlich ausgesehen haben, aber mein Kind, das dabei stand, fing plötzlich an zu weinen, weinte und weinte und fragte, was ich mit dem Gürtel wolle, und sagte, dass ich sie niemals verlassen dürfe. 11. September 2001.
Ende April 1945 in Berlin-Charlottenburg.
Ein Geschoss fliegt über meinen Kopf. Ich liege auf der Straße, das Gesicht in den Armen. Irgendwo stürzt eine Mauer ein. Als es wieder ruhig ist, stehe ich auf. Ich habe Angst. Die Schießerei wird stärker. Ich suche Deckung in einem Hausflur. Zwei Tote liegen dort, ruhig. Als schliefen sie. Ich laufe weiter. Wieder Deckung in einem Hauseingang. Hier sehen die Toten nicht so friedlich aus. Sie krümmen sich, als haben sie in letzter Minute aufspringen wollen.
Ich sehe nicht hin. Es wird dunkel. Jetzt, mit 70 Jahren, träume ich von einer Weihnacht als Kind. Allein stehe ich unter dem geschmückten Baum, weiß nicht, wo meine Eltern sind. Unter dem Baum liegt ein großer weißer Bär aus Plüsch. Ich nehme ein Cuttermesser und schneide mir in die Pulsadern. Ich weiß, in welche Richtung ich schneiden muss, aber ich schneide nicht zu tief. Ich will nur, dass es blutet. Blut tropft auf die Brust des weißen Bären.
Er sieht aus, als hätte man ihn erschossen. Immer noch keine Eltern.
Sie müssen doch merken, wie unglücklich ich bin. Endlich entdecke ich sie in einem Nebenzimmer, halte ihnen vorwurfsvoll mein zerschnittenes Handgelenk hin. Sie reagieren nicht. Mein Vater sieht das Blut auf dem weißen Bären, nimmt einen Lappen und putzt und putzt und putzt.
Mein Vater hatte immer irgendeinen Stofffetzen zum Putzen bei sich, spuckte drauf und rieb und wischte und scheuerte. Und dann war da das Messer. Solange ich denken kann, liegt das Messer auf dem Arbeitstisch meines Vaters. Er spitzt damit Bleistifte an, löst verhedderte Drachenschnüre, kratzt hart gewordenes Uhu ab, säubert sich damit die Fingernägel. Was er im Krieg mit diesem Messer gemacht hat, weiß ich nicht. Immer habe ich Angst, dass er sich mit dem Messer etwas antut.
Wie zur Beschwörung schneide ich mir damit in die Wange. Später wird er einen halbherzigen Selbstmordversuch unternehmen. Mit Tabletten. 10. Und wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende. Im Landdienst bekam ich eine schwere Krankheit, die mich ein Vierteljahr in einem Rostocker Krankenhaus festhielt. Niemand besuchte mich. Ein kleiner, dicker Arzt mit Glatze, er kam aus Estland, blieb bei mir in der Nacht, in der ich um ein Haar gestorben wäre.
Die ganze Nacht hielt er meine Hand, bis die Krise vorüber war. Im Mai 1946 geriet mein Kopf beim Abladen von Baumstämmen zwischen zwei der Stämme und wurde eingequetscht. Bewusstlos, aus Nase, Mund und Ohren blutend, legte man mich wie vorher die Baumstämme auf die Ladefläche und brachte mich über die Knüppeldämme zurück ins Lager. An dieser Stelle setzt meine Erinnerung aus: Der österreichische Lagerarzt
Ein Nazi, wie jeder wusste, hatte kaum Medikamente oder Verbandszeug. Sein einziges Instrument war eine Nagelschere. Seine Worte waren: "Schädelbasisbruch, da kann ich auch nichts machen." Schließlich taucht ein Arzt aus Sibirien auf, kümmert sich um einen Vater, rettet ihm das Leben. Als überzeugter Kommunist kehrt er aus dem Krieg zurück. Ich nehme die Karte in die Hand, auf der meine Mutter das kyrillische Alphabet und die entsprechenden deutschen Buchstaben aufgezeichnet hat.
Für ein Filmfestival fährt sie im Winter '87 nach Moskau. "Ich stehe auf dem Roten Platz. Schneeflocken blitzen im Schein der vielen Lampen, die Kathedrale und Kreml erleuchten lassen. Ein unwirklicher Augenblick und doch kein Traum. Langsam schlendere ich die Gorkistraße hinunter bis zum Majakowskiplatz. Dort ist mein Hotel, ein gigantischer Bau im Stil einer überdimensionalen gotischen Kirche.
Mein Zimmer gleicht einem mittleren Tanzsaal, die drei hohen Fenster drapiert mit rotem Samt. Ich fühle mich wohl und geborgen. Am Sonntag ist Wahltag in der Bundesrepublik. Der deutsche Botschafter lädt zu einer Wahlparty. Viele sowjetische Gäste sind dort. Einem von ihnen habe ich einen Gruß auszurichten. Leo spricht fließend Deutsch. Er fragt, woher aus Deutschland ich käme. Sie kommen aus Deutschland? Ja. Woher?
Aus Berlin. Aus Berlin? Ja. Dort bin ich gewesen. Ende April 1945. In Charlottenburg. In Charlottenburg? Er stellt sich heraus, dass wir, der junge Rotarmist und ich, die Berlinerin, beide 20-jährig einen Steinwurf voneinander das Kriegsende erlebt haben. Sind wir uns begegnet? Ob du damals einer der Soldaten warst, Leo?
die im Keller an den Funkgeräten saßen, diesem Keller mit den leeren Flaschen auf dem Boden und den aufgestapelten Gewehren in der Ecke? Hast du gesehen, wie ich einem Offizier in einen Nebenraum folgen musste? Oder warst du der Soldat, der mich später bis vor meine Haustür geleitete, weil es für Deutsche bei Todesstrafe verboten war, nachts auf der Straße zu sein? Oder bist du es gewesen, der mir am nächsten Tag meine Schüssel mit Reis füllte? Am 8. Mai 1988 liegt meine Mutter im Krankenhaus. Leukämie.
Sie hat gerade eine Chemotherapie hinter sich, die ihr Knochenmark zerstört hat. Als Nebenwirkung der vielen Medikamente verliert sie vorübergehend das Gehör. Was ich ihr sagen will, schreibe ich auf Briefe und irgendwelche Papiere, die man ihr ins Krankenhaus geschickt hat. Eins davon ist ein Plakat für einen Filmabend in der Akademie der Künste. Sie hatte ihn vor ihrer Erkrankung zum 43. Jahrestag der Befreiung organisiert.
Gezeigt werden die Filme "Ich war 19" von Konrad Wolf und "Die Russen kommen" von Heiner Karo. Darunter habe ich geschrieben: "Am liebsten möchte ich Tag und Nacht bei dir sein. Meine Mutter wird wieder gesund, arbeitet, wird wieder krank. Das geht über vier Jahre so. Vier Jahre, in denen ich mich nicht getraut habe zu leben." "Ich habe Leo wieder getroffen.
Er erzählt von seinem Enkel, von dem letzten Wochenende auf der Datsche. Ich rede von meiner Tochter und von meiner Arbeit. Vieles hätte ich ihn fragen mögen. Fragen nach seinen Erlebnissen von damals, seinen Erlebnissen mit uns, den Deutschen, in dem grausamen Krieg. Ich tue es nicht. Vielleicht ist die Zeit in diesem Café auf der Gorkistraße einfach nicht geeignet für Erinnerungen. So hoffe ich auf ein drittes Wiedersehen. Zu diesem Wiedersehen ist es nie gekommen.
Nach ihrem Tod im September 1992 bekomme ich ein Beileidsschreiben von Leo aus Moskau. So einen gütigen Menschen wie ihre Mutter, aufgeschlossen und hilfsbereit, habe ich in meinem Leben selten getroffen. In ihrem letzten Brief schrieb sie, ohne über ihren Zustand zu klagen, nur, da brauche ich viel Kraft. Dafür aber schrieb sie, voller Sorge um uns, hoffentlich seid ihr gesund und hoffentlich müsst ihr keine Not leiden.
33 Jahre nach ihrem Tod lese ich die Gedichte meiner Mutter, ihre Erinnerungen aus dem Krieg und den schwierigen Jahren danach. Warum erst jetzt? Warum braucht es oft ein halbes Menschenleben, um etwas zu begreifen? Am Abend stand die Sonne so nah, dass ich dachte, ich müsse sie fassen. Aber ich hielt meine Hände still, denn die Sonne war Blut. Der rote Ball am Himmel würde zerfließen und das Blut die Erde bedecken wie damals. Musik
Und dann saß ich da, mit meinen sieben Unterhosen in der Hand, was übrig blieb vom Krieg. In zehn Kapiteln. Ein Hörspiel von Sabine Ludwig. Mit Tatja Seibt, Nele Rosetz, Nina Kunzendorf, Matthia Gabriel, Franz Beil, Maxim Tatakowski und Michael Rothschopf. Musik Valentin Butt. Ton Peter Aver und Katrin Witt. Regieassistenz Christina Ertel-Schörle.
Dramaturgie Juliane Schmidt. Regie Anoushka Trocker. Eine Produktion des Rundfunk Berlin Brandenburg 2025.