ARD Ja wisst ihr Jungs und Mädels, als ich mich eben hier so an das Ding setze, wo ich jetzt hinein spreche, ihr wisst, das heißt Mikrofon, da habe ich mir überlegt, ob das eigentlich Zweck hat, wenn ich jetzt hier rede.
Ich denke immer, unsere Jungen, ganz besonders unsere Jungs, denken heute bloß noch an Fußballspielen und an weiter nichts. Ist das so oder ist das nicht ganz so? Ich würde mich natürlich freuen, wenn es nicht ganz so ist. Als ich so alt war wie ihr, war es jedenfalls nicht so. Aber das ist auch schon lange her.
Beinahe 85 Jahre bin ich jetzt alt. Das ist eine lange Zeit. Beinahe drei Menschenalter sind das und ihr habt kaum ein halbes Menschenalter hinter euch. Also geboren bin ich in Berlin. Mein Geburtshaus steht aber längst nicht mehr. Es stand in der Burgstraße. Wisst ihr, wo die Burgstraße ist?
da an der Spree, wo heute die Börse steht und die Handelskammer. Seid ihr da schon mal lang gegangen? "Wie sich alles verdichtet in Blumen" Ein Hörspiel von Ruth Johanna Benrath und Ulrike Hage. An den Gartenarchitekten Alfred Lichtwarck, 27. Oktober 1909,
Verehrter Freund, wenn Sie nächstens mal herkommen, müssen Sie mit hinaus, da ich besonders wegen der Gartenanlage gern Ihren Rat hätte. Da das Haus etwa 2 m Höhe als der See liegt und von einem kleinen Birkenbällchen flankiert wird, so will ich zwischen Haus und See mir eine große Rasenfläche machen. Mit besten Grüßen auch an Ihr Fräulein Schwester, Ihr sehr ergebener Max Liebermann. Wiedergewinnung einer Birke. Jedes Mal, wenn ich mich in die Nähe der Birke befinde,
Wenn ich hier im Garten entlangstreife und mich umsehe? An Herrn Julius Elias, Wannsee, 11. Juni 1921. Lieber Herr Doktor Elias, das Bild mit den Birken ist fertig. Aber wie immer, wenn ich fertig mit einer Arbeit bin, habe ich Kratzenjammer. Denn ich sehe nicht das Bild, sondern die Vision, die ich vom Bilde hatte, bevor ich es malte.
Sobald das Wetter einem wieder das Arbeiten im Freien erlaubt, fange ich ein neues Bild an, derweilen der Rahmen kommen wird. Und wenn es besser wird, kriegen Sie das. Mit freundlichen Grüßen auch an Ihre Gattin, Ihr sehr ergebener Max Liebermann. Wiedergewinnung einer Birke. Deine Vorfahren haben vielleicht Tschechow gekannt. Eingewurzelt, eingewurzelt, zweigewurzelt, zweigewurzelt.
Drei gewurzelt, Schneeringe unter den Augen, Kerben in der papiernen Haut, die Schwerkraft nach oben hin aufhebend, dich gibt es dreifach. Einmal als Schatten, hinter dem Feuer vorbeigetragen in der Höhle, einmal unsichtbar gegen die Sonne und zuletzt vor meinem Fenster, noch unbelaubt im Wind, das Haus überragend, wo mir plötzlich dein Name wieder einfällt.
Der Künstler ist durch seinen Garten gegangen und steht mitten im Gras. Er lässt seine Augen am Ufer entlang schweifen und bleibt an den Birken hängen, die den Blick aufs Wasser freigeben. Die beiden Baumgruppen bilden den perfekten Rahmen für sein Bild. Er bittet den Gärtner, ihm die Staffelei aus dem Atelier nach draußen zu tragen. Er stellt sie selbst im Gras auf, prüft ihren festen Stand, lässt die Augen ruhen auf Bäumen, Rasen und See.
Dann erst mischt er die Farben auf der Palette. Erst der Blick, dann die Wahl des Standorts, dann die Farben. Für diesen sommerlichen Tag braucht er Grün, Gelb und Blau und Weiß. Er malt nach der Natur, wie er sie sieht. Keine Augen, kein Mund. Du sprichst mit den Händen deiner Äste-Gialanten im Wind. Sie winken, ohne Plan, ohne Schlaf, ohne...
Namen, ich vergaß ihn, auf meiner Zunge liegst du, leicht schwer, ein Wie-Wort, so nackt wie kein Baum. Wenn er die Staffelei richtig platziert hat, stehen die Birken genau an der richtigen Stelle für sein Bild. Sie rahmen den See ein und öffnen den Blick aufs Wasser wie ein Fenster. Die schlanken Stämme ragen hell und hoch ins Bild, die luftigen Blätter spannen ein grünes Dach über den See.
Ein noch lichteres Grün wählt er für den Rasenteppich, von hellgelben Sonnenflecken durchwirkt. Woher weißt du, wo oben ist, wo unten? Sonne in der Kniekehle, Amseln in den Haarwurzeln. Im April bist du der Vorname für ein Mädchen aus Schweden. Seine ersten Worte sind Wolke, Frosch, Grube. Birken und der See voller Segelboote.
Schaut man genau hin, leuchten zwei Figuren am Ufer auf. Zwei Striche, unterschiedlich groß. Frau und Kind, ganz in weiß. Zwei gelbe Tupfer ihre Sonnenhüte. Birken am Wannseeufer nach Osten, 1924. Die Kunst einer jeden Epoche wird durch ihr Verhältnis zur Natur bedingt. Das Verhältnis des Künstlers zur Natur ist seine Kunst.
Gartenüberprüfung
Was war gestern anders? Befreie den Fuß vom Strumpf, dann kannst du's im Gras ertasten. Krumme Zehen, fremde Katze, die mich keines Blickes würdigt, mir den Rücken zugewandt, sitzt sie in Betrachtung da. Unsichtbare Vögel streiten oder paaren sich. Hecke davor, bebender Schatten am Stamm der Birke. Wassernachbar Klee, benetzt vom Tau.
Nicht die Wirklichkeit, sondern der Traum von der Wirklichkeit lebt in der Kunst des Realisten wie des Idealisten. Realismus und Idealismus sind Schlagworte, die absolut falsch verstanden werden, wenn man damit ein Werturteil verbindet. Als ob der Idealist mehr die inneren Gesichter, der Realist dagegen nichts als die Natur darstelle.
Das Innerste, was das Kunstwerk ausmacht, lässt sich nicht in Worte fassen. Ja, was paradox klingt gerade deshalb, weil es sich nicht in Worte fassen lässt, ist es ein Kunstwerk. Bellis perennis, weiß, tausend Schönchen. Miosotis sylvatica, blau, vergiss mein nicht. Erysimum heri, Goldlack. Viola vitrocchiana, himmelblau.
Stiefmütterchen, Primula denticillata, Rubin, Kugelprimul. Sehr verehrter Herr Marcinski, besten Dank für das wundervolle Stillleben, das Ihre Gratulation zum 77. Wiegenfeste begleitete. Dass Sie aber noch an die Pastellstifte gedacht haben, als Sie in Paris waren, ist in der Tat rührend und der Kummel Ihrer Liebenswürdigkeit.
Nur weiß ich nicht, wie ich mich auch nur im Entferntesten für all Ihre erwiesenen Aufmerksamkeiten revanchieren könnte. Vielleicht gelingt mir eine Handarbeit mit den neuesten Pastellfarben und die will ich Ihnen dedizieren. Aber da man einem Geschenkengaul bekanntlich nicht ins Maul sieht, müssen Sie schon herauskommen und sich was aussuchen. Bis dahin mit nochmaligem Dank und freundlichen Grüßen, Ihr sehr ergebener Max Liebermann.
An diesem Sommertag schaut der Künstler aus seinem Atelierfenster in den Garten. Ein Ansturm von Blumen, wogende Rosen, tanzende Dahlien. Für das Anrühren und das Mischen der Ölfarben hat er plötzlich keine Zeit. Er greift sich seine Pastellkreiden und dann nichts wie hinaus ins Freie. Man meint es dem Bild anzusehen, dass es in rasendem Tempo gemalt ist. Das Blumenbeet quillt geradezu über. Musik
Die rot-blau-weißen Blüten sind so flüchtig hingetupft, dass man nicht erkennen kann, welche Sorten es sind. Ebenso die Blumenstauden im Bildhintergrund. Sind es rosa und orangen Rosenstöcke, umweht von Rittersporn in verwischten blauen Trauben? Oder was wächst da in kaum erahnbarer Form? Und doch hat der Maler Ordnung in das Blütenmeer gebracht. Mit ein paar lässig hingeworfenen lila Linien legt er einen Gartenweg an.
verleiht ihm ein paar Stufen und begrenzt so das wogende Blumenbeet. Unser Garten, überzuckert von Blumen. Cosmea, Dahlia, Queens aus Costa Rica, Guatemala, bunt berockt in allen erdenklichen Farben. Wie kamt ihr hierher? Tanzend über den Ozean, kann mir das immer wieder ansehen.
Selbst den kleinsten Malerklecks. Lobelie. Winziges Blau. Gerade mal so groß wie mein kleiner Fingernagel. Rosa, Pfeilchenblau, Kletterrose. Rosa, weißer Gruß an Aachen. Rosa, Schweizer Gruß. Rosa, Konrad Ferdinand Mayer. Rosa, Madame Alfred Carrière. Rosa, Paul Scarlet Climber.
Auf dem Skizzenblatt eine Kohlezeichnung von 1920. Liebermannsfrau Martha und die Enkelin Maria beim Anschauen eines Buches. Die Köpfe nah beieinander, die Haare des Kindes berühren die Wange der Großmutter. Eine flüchtige Skizze nur. Und doch sind die beiden Gesichter genau getroffen. Auf dem Blatt finden sich noch zwei Studien, die mit wenigen Strichen die schlafende Enkelin aufs Papier zaubern. Maria sieht jünger aus, als sie zum damaligen Zeitpunkt war. Sie hat sich in den letzten Jahren
Eher wie ein Baby, ein Ärmchen im Schlaf nach oben streckend. Nur ein paar Striche genügen und das Kind träumt sich in den Weltenraum. An Herrn Fritz Stahl, Wannsee, 25. Juli 1922. Sehr verehrter Herr Stahl, sehen Sie sich doch mal mein Schloss am See an. Übermütig sieht's nicht aus, wie Lehnbachs oder Stuck's Paläste, aber ich glaube, dass es nach mir aussieht.
Also kommen Sie nächstes Mal heraus, doch telefonieren Sie vorher, um nicht umsonst oder wie in Berlin, wo ich krank war, zu kommen. Bis dahin mit nochmaligem Danke und mit besten Grüßen, Ihr sehr ergebener Max Liebermann. Ein Porträtfoto von Suse Bück, 1922. Max Liebermann sitzt auf einem geflochtenen Gartenstuhl mit seiner geliebten Enkelin Maria auf dem Schoß. Es ist auf der Terrasse der Villa aufgenommen.
Vielleicht entstand das Porträt anlässlich seines 75. Geburtstages. Schließlich war er eine öffentliche Person. Wie hat es die Fotografin geschafft, dass ein fünfjähriges Kind so offen und hingebungsvoll in die Kamera schaut? Maria im weißen Sommerkleid lehnt sich an den Großvater. Ihr Kopf ruht an seiner Brust. Ihre Hand hat sie auf die Höhe seines Herzens gelegt. Fast scheint sie sich dort festzuhalten.
Lieber Mann mit karierter Krawatte und in dunklem Anzug sitzt mit geradem Rücken aufrecht im Stuhl und schaut würdevoll und etwas distanziert in die Kamera. Die Augenbrauen hochgezogen, als wollte er fragen, wie lange es noch dauert. Mit seiner alten, geäderten Hand, die schon so viele Bilder malte, hält er Maria fest. Die Hand des Großvaters und die Hand der Enkelin formen einen Bogen, eine Brücke zwischen den Generationen, ein friedliches Bild.
zwischen zwei Weltkriegen. Seit fünf Tagen leben wir nun hier und ich erlebe zum ersten Male das Gefühl, auf der eigenen Scholle zu sitzen. Als ich geboren wurde, schrieb man den 20. Juli 1847. Ein Jahr vor der 48. Revolution war das, nicht wahr? Als ich 17 Jahre alt war, da kam der Krieg gegen Dänemark.
Zwei Jahre später der Krieg gegen Österreich und noch vier Jahre später der Krieg gegen Frankreich. Ein Pressefoto aus der Berliner Morgenpost vom 14. März 1932. Max Liebermann verlässt das Wahllokal, in dem er gerade seine Stimme zur Reichspräsidentenwahl abgegeben hat. Zur Wahl stehen Hitler, Thälmann und Hindenburg, der alte Preuße.
Liebermann in schwarzem Ausgehut und feinem, wadenlangen Mantel mit Pelzkragen steht trotz des Gehstocks fest auf beiden Beinen. Unter der Hutkrempe zwei kritische Augen. Liebermann hat Hindenburg gewählt. Schon zweimal hat Liebermann ihn gemalt. Hindenburg ist genauso alt wie er selbst. 85 Jahre. Auf dem Foto sieht man in Liebermanns Rücken einen Mann breitbeinig vor dem Eingang des Wahllokals stehen,
Das Plakat mit dem Hitlerkopf, das er sich umgehängt hat, bedeckt fast seinen ganzen Körper. Und erst wieder in Wannsee hoffe ich, aus der Naturanschauung frischen Mut zu schöpfen. Morgens vor dem Aufstehen, noch im Dunkeln, vor dem Blick in die Zeitung, grell erleuchtete Bilder hinterm Augenlid, Aufmärsche, Fackelzüge, das Ohr an die Matratze gelegt, in den Morgen gehorcht,
Zersplittern von Fensterscheiben, ein Grollen, das bis zum Erdmittelpunkt reicht. Als es nach seinem 85. Geburtstag wieder ruhig geworden ist in Haus und Garten, nach der nicht enden wollenden Schar der Gratulanten, der Direktor der Staatlichen Museen zu Berlin, der Oberbürgermeister und eine Abordnung der Preußischen Akademie der Künste, nach all den Geschenken und Körben voller Grußadressen geht er ins Atelier und malt es.
Auf der Staffelei ein Gemälde. Es bildet die Natur ab. Nicht den Baum vor dem Fenster, sondern eine grüne, verwischte Fläche. Die Natur an sich. Innen und außen einander gegenübergestellt und doch aufeinander bezogen. Ein Bild im Bild. Der Stuhl des Künstlers, auf dem er immer sitzt, um nach dem Malen im Freien noch kleine Stellen zu retuschieren, ist leer. Das Gemälde auf der Staffelei hat einen prächtigen Goldrahmen. Nur das Bild zählt.
Das ist das Vermächtnis des Künstlers. Die Ölfarbe hat er so dickflüssig aufgetragen, dass eine reliefartige Fläche entsteht. Wenn man es bei Sonnenlicht betrachtet, glitzern die Farben auf der Leinwand. Das Gold ragt in den Raum hinein, wird dreidimensional. Malen ist das Wichtigste. Und daran wird er festhalten, solange er kann. Im Atelier, 1932. Achillea Petarmica Schneeball?
Aster amellus Rudolf Goethe, Sommeraster. Galardia hybrides Spurgunder, Kokardenblume. Leucantheum maximum, Pyrenäenmargerite. Hesperis matronalis, Nachtviole. Verbena bonariensis, Patagonisches Eisenkraut. Geranium pratense, Rosan, Wiesenstorzschnabel.
Lavendula angustifolia, Hitchcock's strain, echter Lavendel. Gypsophila paniculata, Schneeflocke, Schleierkraut. Thanacetum niveum jackpot, graublättriges Mutterkraut. Malen im Garten, Kopf neben einer Knospe, Wange am Blatt, Sonne, wie sie weiter wandert auf dem Rasen. Vögel scharen sich um die Staffelei,
Der Sommer gießt den Rest vom Paradies hier aus. Zehn Jahre später, ein Steinwurf entfernt vom Haus, vom selben Architekten gebaut, am selben Ufer, nachbarschaftlich, verbunden durch den See, das Haus der Wannsee-Konferenz. Das Wort Mensch kommt im Protokoll nicht vor. An meinem 85. Geburtstag fing die neue Zeit an.
Ich rief beim Direktor der Staatlichen Museen an. Ich wollte ihm danken, da ich gehört hatte, dass er abends eine Rede über mich sprechen wollte. Als ich ihm dankte, sagt er, aber um Himmels Willen, haben Sie denn noch nichts gehört? Ich weiß noch gar nicht, ob ich die Rede werde halten können. Papen hat soeben die neue Regierung übernommen. Jetzt wird alles anders. Spätwerk, Blumenbilder, Ruderboote auf dem Wannsee,
Wie ein fürchterlicher Alpdruck lastet die Aufhebung der Gleichberechtigung auf uns allen, besonders aber den Juden, die wie ich sich den Traume der Assimilation hingegeben hatten.
Sie, Herr Bialik, erinnern sich vielleicht der Gespräche, die wir, da ich sie radieren durfte, über diesen Gegenstand führten und in denen ich Ihnen zu erklären suchte, warum ich dem Zionismus ferngestanden bin. Heute denke ich anders. So schwer es mir auch wurde, ich bin aus dem Traume, den ich mein langes Leben geträumt habe, erwacht. Leider kann man einen so alten Baum, ich werde im nächsten Monat 86 Jahre alt, nicht mehr verpflanzen.
Doch lege ich die Hände nicht in den Schoß und wäre es nur, damit die Arbeit mir über die Zeit, die ich noch zu leben habe, hinweghilft. Ihr sehr ergebener Max Liebermann. Atem vertiefen, Blick nach innen, Reize reduzieren, Pflichten vergessen, weiße Leinwand erscheinen lassen.
aus der rücktrittserklärung vom mai ich habe während meines langen lebens mit all meinen kräften der deutschen kultur zu dienen gesucht nach meiner überzeugung hat kunst weder mit politik noch mit abstammung etwas zu tun
Ich kann daher der Preußischen Akademie der Künste, deren ordentliches Mitglied ich seit mehr als 30 Jahren gewesen bin, nicht länger angehören, da dieser, mein Standpunkt, keine Geltung mehr hat. Zugleich habe ich das Ehrenpräsidium der Akademie niedergelegt. »Anemone japonica honorin jober«, Herbstanemone »Bergenia cordifolia«, Herzblättrige Bergenie
Doronicum orientale magnificum, Gemswurz. Euphorbia polychroma, vielfarbige Wolfsmilch. Nepeta phaseni, Katzenminze. Hellenium cultorum visagold, Sonnenbraut. Sein letztes Selbstbildnis aus dem Jahr 1934, das drittletzte Bild überhaupt. Der Maler im Halbprofil mit gelbem Strohhut und melancholischem Blick.
Es ist sein 87. Lebensjahr. Das Bild ist in hellen Farben gehalten, doch sie strahlen nicht. Gelb gemischt mit weiß und grau. Sein Lieblingssommerhut, von Fotos her bekannt, ziert ein schwarzes Hutband. Fast wie ein Trauerflor. Auch die Krawatte ist schwarz. Der Anzug unter dem weißen Malerkittel dunkel. Was ist die Aufgabe des Künstlers in diesen Zeiten? Hier steht er noch und malt. Bewaffnet mit Palette, Pinsel und Leinwand.
Aber die Welt ist eine andere geworden. Die traurigen Augen bewegen sich in ihrer Blickrichtung leicht auseinander. Die Brauen sind hochgezogen. Der Blick liegt noch auf der Welt und strebt zugleich nach innen. Ich bin noch da, scheint er zu sagen. Aber was wird werden, wenn ich einmal nicht mehr bin? Was wird aus Haus und Garten? Aus Martha, Käthe und Maria? Ja, was passiert dem Kind? Hin- und hergestoßen im Zeitenlauf. Wo ist der sichere Punkt im Bild?
Er liegt außerhalb. Er liegt außerhalb, in der Hand, die den Pinsel führt, ohne zu zittern. Sehr verehrter Herr Sachs, aus dem schönen Traum der Assimilation sind wir leider, leider nur zu jäh aufgeweckt.
Für die jüdische Jugend sehe ich keine Rettung als die Auswanderung nach Palästina, wo sie als freie Menschen aufwachsen kann. Leider bin ich, der ich im 87. stehe, zu alt, um auszuwandern. Aber der heranwachsenden jüdischen Generation seinem freien Dasein zu verhelfen, scheint mir die wünschenswerteste Hilfe. Mit hochachtungsvollen Grüßen, Ihr sehr ergebener Max Liebermann
Seine beiden letzten Bilder, ein Jahr vor seinem Tod gemalt, haben dasselbe Motiv: die Heimkehr des Tobias. Eine Szene aus dem Alten Testament. Keine Blumen, kein Wannsee, kein Selbstporträt. Oder vielleicht doch. Die Bibel erzählt von dem blinden Greis Tobias, der auf seinen Sohn wartet, der wie er selbst Tobias heißt. Er hatte sich auf eine Reise ins Ungewisse aufgemacht, um dem Vater die ersehnte Medizin zu bringen, die ihn von der Blindheit heilen wird.
Obwohl die Eltern längst nicht mehr an seine Rückkehr glauben, so lang ist er fort, erscheint er schließlich in der Tür. In der ersten Version hat sich der alte Tobias gerade aus seinem Stuhl erhoben, will dem Sohn entgegen gehen. Der junge Tobias ist kaum zu erkennen, verschmolzen in der Umarmung mit der Mutter, die vorausgeeilt ist. Liebermann malt nicht den Moment der Rettung. Ob der Vater den Sohn erreicht, bleibt offen bei ihm.
Neben Tobias eine kleinere Gestalt, fast wie ein Kind. Es ist der Reisebegleiter, der sich in der Bibel erst ganz am Schluss als Engel Raphael zu erkennen geben wird. Liebermann malt ihn in blauem Gewand, doch ohne Flügel. Berlin W35, Graf Speestraße 23. Liebe und verehrte Frau Zorn, hoffentlich haben Sie mich nicht ganz vergessen, denn ich komme heute mit einer großen Bitte zu Ihnen.
Ich bin 84 Jahre alt und habe bis vor einigen Monaten niemals an eine Auswanderung gedacht. Aber mir ist jetzt die Situation unerträglich geworden und ebenso wie die heutigen Verhältnisse unvorstellbar waren, ebenso ist es nicht möglich zu ahnen, was noch passieren kann. Ich danke jeden Morgen dem Schicksal, dass mein Mann diese Zeit nicht erlebt und dass meine Tochter mit Mann und Kind dies Land verlassen konnten.
Meine Bitte an Sie geht nun dahin, für mich bei den schwedischen Behörden gut zu sagen. Sobald ich näher weiß, um was ich Sie eigentlich bitten soll, schreibe ich wieder. Inzwischen wäre es mir eine große Freude, wenn Sie mir ein Wort der Einwilligung schickten. In alter Freundschaft und Verehrung. Ihre Martha Liebermann Berlin, den 29. Juli 1943 Schätzungsblatt 1 bis 14
Aktenzeichen der Oberfinanzdirektion laut Straßenliste 51-59645. Berlin W 35, Graf Speestraße 23. Liebermanns Tobias trägt eine Kippa und einen weißen Kittel. Einen Malerkittel? An seinem Bein springt ein Hündchen hoch. Auch Liebermann hatte einen Hund, seinen geliebten Dackel Menne, den er oft gezeichnet hat.
In der ärmlichen, in dunklen Farben gehaltenen Karte mit offenem Feuer gibt es keine Möbel, außer einem Lehnstuhl. So ein Sessel könnte auch in seiner Villa am Wannsee gestanden haben. Der unterzeichnete Vollstreckungssekretär der Bezirksverwaltung hat den vorbezeichneten Wohnungsinhalt heute im Auftrage des Hauptwirtschaftsamtes der Reichshauptstadt Berlin dem unterzeichneten Möbel-Einzelhändler übergeben. Ein Spiegel, ein Smyrner Teppich echt,
Zwei Serviertische, ein Kristalllüster. Verehrter, lieber Herr Ahlenfeld, ich bin ganz durcheinander. Die Bank hat nicht mal die kleine Summe gezahlt. Ohne einen freundlichen Besuch wäre ich ohne Geld. Dazu macht man mir von allen Seiten Angst wegen Abtransport. Ich erwarte Sie sehnlich. Bitte, bitte Antwort. Ihre dankbare Martha Liebermann. An Erich Ahlenfeld.
Am 4. März 1943. 16 Stühle mit Ledersitz, ein Liegestuhl mit Auflage, ein Marmorleuchter, sieben chinesische Schalen und Vasen, neun Fayence-Schalen, Wohnung ungezieferfrei. Frühere Eigentümer der Gegenstände, Liebermann, Martha, Sarah. Sie kann, kann nicht mehr im Garten das Kind, die Birken. Sie, sie kann nicht mehr im...
Das Kind, den Garten, die Birken, den See kann sie nicht mehr, weil am 5.3.43 ein säuberlicher deutscher Bleistift, exakt, ein sauberer, deutscher, einen säuberlichen, exakten Haken hinter ihren Namen gesetzt hat.
In der zweiten Version, Liebermanns letztem Bild, sieht man den Vater und Mutter und Sohn auf einem freien Feld in einer Wüstengegend. Liebermanns Malweise lässt die Figuren noch verwischter erscheinen. Der alte Tobias ist nach draußen vor seine Karte getreten, hinter ihm ein Fels. Gebückt schleppt er sich dem Sohn entgegen, auf den Stock gestützt. Auch das Hündchen ist wieder an seiner Seite. Seine Frau umarmt den Sohn. Beinahe ist er unkenntlich.
Ein großer, zerzauster Vogel, abgerissen, ein Gespenst. Hinter seinem bodenlangen Mantel auch hier der helle, kleine Engel. Ein Schlafzimmer, dresdner Barock, bestehend aus, ein Ankleideschrank, eine Waschtoilette, ein Bidet, eine Metallbettstelle mit Auflage, zwei Nachttische, ein Sofa, drei Sessel, zwei Fenstergardinen mit Übergardinen. Die Geschichte von Tobias endet in der Bibel mit einer Verheißung.
Und unser ganzes Land, das jetzt verödet liegt, wird wieder bewohnt werden. Und Gottes Haus, das jetzt niedergebrannt ist, wird wieder aufgebaut werden. Die Schätzung der Gemälde, der antiken Möbel und Kunstgegenstände erfolgte durch den Sachverständigen Wilhelm B. Schmidt-Jägerstraße. Ein Gemälde Blumenakt, Menzel.
Ein Gemälde Landschaft Manet. Eine Bleistiftzeichnung Männerkopf Degas. Ein Gemälde Maler in Landschaft Monet. Ein Gemälde Liebermann Hund. Ein Gemälde Liebermann Reiterin. Ein Gemälde Liebermann Dame. Ein Gemälde Liebermann Eltern. Ein Gemälde Liebermann Mädchen. Ein Gemälde Liebermann Wannseegarten.
Gewissenhaft aufgenommen und bewertet, Mades Land, Obergerichtsvollzieher Berlin, den 24. Juli 1943. Die zweite Variante des Tobias Bildes ist in allen Werkverzeichnissen nur als Schwarz-Weiß-Abbildung bekannt. Es ist verschollen. Schon 1935, gleich nach dem Tod ihres Mannes, wurde Martha Liebermann von der Gestapo gezwungen, seine Bilder zu verkaufen.
Unterwert. Ihre Villa am Wannsee nahm man ihr weg, ebenso wie ihr Vermögen. Am 5. März 1943 vergiftete sie sich mit Veronal, um ihrer bevorstehenden Deportation zu entkommen. Sie starb am 10. März 1943 im jüdischen Krankenhaus in Berlin. Liebermanns letztes Bild. Wurde es beschlagnahmt? Wurde es verkauft? Und von wem an wen?
Nach Martha Liebermanns Tod verläuft sich die Spur der Heimkehr des Tobias, wie von vielen anderen Bildern auch. Restaurierung des Gartens, Schönheit wiederhergestellt. Pflanzplan für die Blumenterrasse aus Gemälden rekonstruiert. Geschichte als Zerstörung und als rückgängig machen der Zerstörung. Das Gärtnerhäuschen, heute Museumshop.
Kuchenstücke, Cappuccino und Zuckertütchen auf der Veranda. Martha Liebermann 1943. Ich komme hier nicht mehr raus. Belagerung des Gartens. Verwüstung. Gehängte Birken. Rasen planiert. Der wiederhergestellte Zustand wird nie wieder so sein wie vor der Zerstörung. Was übrig bleibt? Brandmelder bitte Scheibe einschlagen. Cityclean.
Das Abwesende ist anwesend.
Regie, Komposition, Am Flügel und der Orgel, Ulrike Hage. Eine Produktion des Rundfunk Berlin Brandenburg mit dem Deutschlandfunk 2022.