Deutschlandfunk Büchermarkt
Akiko Miyakoshi hat bereits mehrere preisgekrönte Bilderbücher veröffentlicht, die ins Französische, Spanische und Chinesische übersetzt worden sind. Sie hatte Einzelausstellungen in Tokio. Jetzt endlich können wir Akiko Miyakoshis Kunst auch auf dem deutschsprachigen Buchmarkt entdecken. Ende der 2000er Jahre hat die Illustratorin in Berlin gelebt und als sie dort mit Freunden einen Spaziergang machte, lief ihr eine Spitzmaus über den Weg.
Das wäre der Anstoß für das jetzt erschienene Bilderbuch »Die kleine Spitzmaus«. Mein Kollege Jan Drees sagt, worum es geht. »Einsamkeit ist in Industriegesellschaften ein großes Thema. Deshalb gibt es in zahlreichen Ländern staatliche Anlaufstellen, die sich um Menschen kümmern, die keinen Partner und auch keine Freunde an ihrer Seite haben. Das Deutsche Familienministerium unterstützt Modellprojekte für Menschen mit erhöhtem Einsamkeitsrisiko.«
Interessanterweise sind hierzulande vor allem jüngere Menschen von Einsamkeit betroffen. Man kann keinesfalls zu früh diese spezifische Form der Unverbundenheit literarisch thematisieren.
Die Japanerin Akiko Miyakoshi stellt in ihrem Bilderbuch die kleine Spitzmaus vor, ein putziges, ebenfalls einsam wirkendes Tierchen, das sein Leben der Erwerbsarbeit unterordnet. Ein Tag in ihrem Leben verläuft ungefähr so. Wenn ihr Wecker um sechs Uhr klingelt, geht sie zuerst auf die Toilette. Dann schüttet sie Wasser in ein Glas und trinkt es. Zum Frühstück isst sie Honigkekse, drei Stück.
Sie isst sie von ihrem Lieblingsteller. Dann verschließt sie die Tüte mit den Keksen sorgfältig mit einer Klammer und legt die Tüte in ihren Brotkopf. Bei all diesen Tätigkeiten ist die Spitzmaus allein. Allein steht sie vorm Badezimmerspiegel und bürstet ihr Fell. Allein verlässt sie im Dämmerlicht die kleine Wohnung. In der U-Bahn versteckt sie sich allein hinter einer riesengroßen Tageszeitung. Allein.
Aki Kumiyakoshi zeigt ihr Wesen in zarten, zum Teil aquarellierten Kohlezeichnungen. Die Spitzmaus wird oft in der Rückansicht gezeigt, konfrontiert mit einer Welt, die ihr schlechterdings zu groß erscheinen muss. Auf der Arbeit beweist sich das Tier als äußerst fleißiges Mäuschen. Nur während der Mittagspause speist es gemeinsam mit dem menschlichen Kollegen Tom.
Allein nimmt es den Heimweg, kauft das Nötigste ein und sitzt abends ohne Gesellschaft am runden Küchentisch. Danach beschäftigt es sich mit einem Zauberwürfel. Um neun ist es fast Zeit, ins Bett zu gehen. Die kleine Spitzmaus nickt sanft, legt ihren Zauberwürfel vorsichtig beiseite und klettert ins Bett.
Als Karoshi wird in Japan der Tod durch Überarbeitung bezeichnet. Das Wort Hikikomori steht wiederum für Personen, die sich daheim einschließen und den Kontakt zur Außenwelt meiden. An beiden Phänomenen schrammt Akiko Miyakoshis kleine Spitzmaus Harsha vorbei. Überschrieben sind die drei Kapitel mit ein Spitzmaustag, der Spitzmaustraum und die Spitzmausfreunde.
Der leuchtende Traum von einer Südseereise muss vermutlich Illusion bleiben. Die Tage wirken normiert. Kinder wie Erwachsene können während der Lektüre überlegen, wie sie die Lebensführung des Nagers einschätzen. Ist das Tier unglücklich, genügsam? Weiß es nichts von seiner Einsamkeit? Erst am Ende des Jahres bekommt die Spitzmaus Besuch. Am nächsten Morgen steht die kleine Spitzmaus früh auf und geht in die Stadt, um einzukaufen.
Als sie zurück ist, macht sie sich daran, eine Suppe zu kochen. Sie macht besonders gut sauber und dekoriert sogar ein Zimmer. Schließlich wird es dunkel. Sie zündet ein Feuer an, um sich die kalten Finger zu wärmen. Die Freunde bleiben an diesem Abend nur einige Stunden, dann verabschieden sie sich. Es ist plötzlich ganz still in der verlassenen Wohnung. Die kleine Spitzmaus ist jetzt müde und treibt sich die Augen.
»Dieses Jahr war ein gutes Jahr«, murmelt sie. Klaglos akzeptiert das Tier die Mühsal des Lebens, als wollte es unbedingt der kantischen Neigung zur Pflicht nachkommen. Zugleich bewahrt es sich eine rührende Achtsamkeit für die kleinen Freuden des Alltags, für den erfrischenden Duft eines Apfels, für eine Unterseesszene im TV-Programm, für das Nachspüren zarter Sehnsucht, für ein Glas Kirschblütenhonig aus dem lang zurückliegenden Frühjahr.
So ist Akiko Miyakoshis Bilderbuch »Die kleine Spitzmaus« dreierlei. Eine zärtliche Moos-Faber-Fabel, ein Versuch über die Achtsamkeit und ein kindgerechter Einblick in das Leben so vieler Eltern, die sich entgegen aller Diskussionen über unbezahlte Krankheitstage und angeblich zu geringe Arbeitsstunden Tag für Tag den Buckelmäuse krummschuften.
So Jan Drees Lesart von Akiko Miyakoshis Bilderbuch »Die kleine Spitzmaus« aus dem japanischen und englischen von Paula Weber und Nicola T. Stewart, Verlagshaus Jakobi & Stewart ab fünf Jahren.