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Bücher - Der Zweite Weltkrieg und der 8. Mai 1945 in der Kinderliteratur

2025/4/26
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Bücher für junge Leser

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Deutschlandfunk, Büchermarkt. Mit Dina Netz am Mikrofon, guten Tag. Am 8. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht, damit endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Mehr als 60 Millionen Menschen starben Schätzungen zufolge weltweit durch diesen Krieg. Die systematische Judenverfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialistin, die Schoah, wird als Zivilisationsbruch bewertet.

Heute, fast 80 Jahre später, schwindet das Wissen über diesen Krieg und die Verbrechen der Nazis. Anfang dieses Jahres gaben in einer Umfrage der Jewish Claims Conference 40 Prozent der befragten 18- bis 29-jährigen Deutschen an, nicht gewusst zu haben, dass im Holocaust etwa 6 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Sie schätzten die Zahl weit niedriger.

In den Büchern für junge Leserinnen und Leser stellen wir gleich zwei Bücher von Maja Klinger und Liz Kessler vor, die versuchen nachvollziehbar zu machen, was es bedeutete, in der NS-Zeit zu leben und jüdisch zu sein.

Vorher sprechen wir darüber, wie überhaupt die Kinder- und Jugendliteratur sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Datum 8. Mai auseinandergesetzt hat. Dazu gibt es Anfang Mai eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach, ausgerichtet von der PH Ludwigsburg und einigen Kooperationspartnern. Organisiert hat sie maßgeblich Caroline Röder, Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg mit einem Schwerpunkt auf Kinder- und Jugendliteraturforschung.

Maike verfliegt der 8. Mai 1945 als Denkfigur in der Kinder- und Jugendliteratur. So ist die Tagung überschrieben. Und mit Caroline Röder bin ich jetzt verbunden. Ich grüße Sie. Hallo Frau Netz. Frau Röder, vielleicht gehen wir mal chronologisch vor. Wie ist denn die Kinder- und Jugendliteratur in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs umgegangen? Oder ist sie überhaupt damit umgegangen? Das war ja so eine Zeit des Schweigens und Verdrängens. Man muss sich ganz genau vorstellen,

sich das so vorstellen, dass natürlich am 8. Mai 1945 wirklich die Welt in Trümmern lag. Und in dieser Situation war es, glaube ich, unglaublich schwierig, einen Neuanfang überhaupt zu planen. Man hat 1945, dann fand ich, relativ schnell gesehen, dass Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt stehen und dass es ganz wichtig ist, dass man sich dieser Gruppe widmet, um sie zu demokratischen Werten zu erziehen. Ein wichtiges Mittel erschien für alle Bürgerinnen

Besatzungszonen, die Kinder- und Jugendliteratur. Es gab keine demokratischen Texte, keine Literatur aus der Zeit vor 1933. Die waren ja aussortiert verbrannt. Jüdische Autorinnen und Autoren durften nicht mehr in Regalen stehen und

Man hat die Bibliotheken, die ein wichtiges Propagandainstrument der Nationalsozialisten waren, jetzt erstmal sozusagen umsortiert, aussortiert. Und man hat angefangen jetzt zu versuchen, eine neue Kinder- und Jugendliteratur zu etablieren. Ab wann kann man denn von diesem Neuanfang, von diesem neu etablierten Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur sprechen in der Bundesrepublik?

Das kann man viel, viel später eigentlich. Man hat erstmal versucht, die Kinder jetzt nicht mit Trümmerliteratur zu versorgen, sondern ihnen erstmal unterhaltsame, idyllisierende Literatur zu präsentieren, ihnen wieder einen kleinen Raum der Kinderwelt zu schaffen. Es gab aber auch sehr engagierte Autorinnen und Autoren wie zum Beispiel Erich Kästner,

der dann die Kinderzeitschrift Pinguin gegründet hat und dafür maßgeblich auch ein demokratisches Programm entworfen hat und ein aufklärerisches. Und es gab auch so Personen wie Jella Leppmann, die Journalistin, die aus Deutschland vertrieben war aufgrund ihres jüdischen Glaubens und die zurückkehrte, dann angefangen hat mit ihrer berühmten Kinderbuchbrücke.

Kinder- und Jugendliteratur aus den anderen Ländern nach Deutschland zu reimportieren. Und damit hat sie wirklich einen Schatz an Kinder- und Jugendliteratur geschaffen, von dem wir heute noch profitieren. Wo wir da schon bei sind, welche unterschiedlichen Perspektiven gibt es denn in der nichtdeutschen Kinder- und Jugendliteratur auf das Ende des Zweiten Weltkriegs?

Natürlich ist der Blick aus Frankreich oder aus Polen, aber auch natürlich Japan oder USA auf den 8. Mai eine völlig andere Perspektive. Und das hat sich natürlich jetzt auch in den laufenden letzten Jahren sehr stark verändert. Wenn man in die heutige Zeit springt, dann sieht man unter anderem beim US-amerikanischen Markt mit dem Blick auf den Krieg und das Kriegsende so Popularisierungstendenzen. Das heißt, da wird der Krieg eher abgelenkt.

als so eine sehr emotionalisierende oder auch heroische Landschaft gezeigt, vor der man dann unterhaltsame oder abenteuerliche Geschichten erzählt. Da haben wir Deutsche eine andere Tradition und fühlen uns in einer anderen Verantwortung. Wir haben jetzt noch eine Perspektive gerade nicht aufgegriffen, Frau Röder, als es um die deutsche Perspektive ging.

Und zwar die Ostdeutsche. Ich nehme an, in der DDR herrschte nach der Gründung des Staates dann überwiegend der antifaschistische Blick auf den 8. Mai vor in der Kinder- und Jugendliteratur? Genau. Das ist auch ganz wichtig, beide Seiten zu sehen, beziehungsweise diese unterschiedlichen zwei deutschen Literaturen, die sich dann 1945 etablierten. Man hatte ja ein Konzept, nämlich eine sowjetische Kulturpolitik.

Und dort wurde sehr tatkräftig versucht, eben auch Kinder- und Jugendliteratur zu etablieren. Man hat dort als erstes bewertische Texte aufgelegt, die erzieherisch waren. Ein berühmtes Beispiel von "Geider, Timo und sein Trupp", also ein antifaschistisches Buch, das zeigte, wie eben auch Junge sich einbringen können im antifaschistischen Kampf.

Und man hat es als große Aufgabe angesehen, eben auch eine neue Kinder- und Jugendliteratur in der DDR mit nicht nationalsozialistisch gefärbten Ideologien zu etablieren. Wenn wir jetzt auf heute gucken, Frau Röder, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden weniger. Entsprechend wichtiger wird Kinder- und Jugendliteratur, die von der NS-Zeit erzählt. Wir haben zwei Bücher dazu auch gleich noch im Programm. Wie blickt Kinder- und Jugendliteratur heute auf diese Zeit?

Man muss vielleicht auch noch eines dazu sagen. In der Geschichte der bundesrepublikanischen Kinder- und Jugendliteratur gab es schon jetzt in den letzten 80 Jahren wirklich eine Reihe an Titeln, die sich mit dieser Zeit auseinandergesetzt haben. Hauptsächlich aber erst einmal ging es darum, dass viel erzählt wurde, wie kam es überhaupt zu den nationalsozialistischen Überzeugungen.

Es gibt eine ganze Menge an Titeln, die sich auch natürlich mit dem Holocaust beschäftigen, mit der Shoah. Weniger Titel allerdings mit dem Zweiten Weltkrieg. Das war sicher dem geschuldet, dass man diese Kriegsereignisse Kindern und Jugendlichen nicht zumuten möchte oder auch sogar Abstand nehmen wollte von kriegsverherrlichender Literatur.

Und jetzt gibt es aber einen Wandel. Nach der Jahrtausendwende vielleicht gibt es zunehmend ein Interesse auch am Zweiten Weltkrieg und insbesondere auch am Kriegsende. Man kann zum Beispiel hier den Roman Dunkelnacht von Kirsten Boye nennen, der 2021 erschienen ist und die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs in den Blick nimmt.

Und man kann aber auch sehen, dass in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur, in diesem innovativen Feld der Graphic Novels, viel mit Zeitzeugen gearbeitet wird. Hier würde ich wirklich gerne nochmal auf den Titel hinweisen von Barbara Jelin, »Die Farben der Erinnerung« mit Emmy Abel, einer Holocaust-Überlebenden, die kollaborativ eine Graphic Novel, eine Biografie veröffentlicht hat, in der gezeigt wird,

Sowohl was Emmy Abel erleben musste, als auch wie sie eben über das Kriegsende hinaus eigentlich nie diese Geschichte losgeworden ist. Und damit sind wir bei dem Thema, wie wichtig ist es, dass wir aus dem Heute heraus noch diese Zeit in Erinnerung behalten.

Jetzt wird ja seit einiger Zeit von Neurechterseite versucht, Kinder- und Jugendliteratur im Sinne der eigenen Ideologie zu instrumentalisieren. Welche Sicht auf die Verbrechen der Nazis und auf den 8. Mai 1945 wird da zu vermitteln versucht? Ich denke, dass es nicht von der ganzen metapolitischen Strategie der Neuen Rechte überhaupt zu trennen ist. Die Kinder- und Jugendliteratur hat dort einen großen Stellenwert.

Wir sprechen ja mit diesem Diktum, der Tag der Befreiung vom 8. Mai 1945 von Weizsäcker hat diesen Begriff geprägt, wird bei der Neuen Rechten vom Tag der Niederlage gesprochen. Insofern kann man sagen, dass die Neue Rechte sicher Texten gegenüber sehr kritisch steht.

die aufklärend über die Verbrechen der Nationalsozialisten eingestellt sind und überhaupt verhindern wollen, dass ein differenzierter Blick auf diese Zeit geworfen wird.

Anlass für diese Tagung Mai Käfer Fliegfrau Röder ist ja, dass bisher noch recht wenig zum 8. Mai 1945 in der Kinder- und Jugendliteratur geforscht wurde. Ist denn diese Tagung jetzt auch der Auftakt zu einer weitergehenden Beschäftigung mit dem Thema? Wir blicken jetzt auf diese Zeit heute auch mit dem Blick darauf, dass wir sagen, was kann man aus diesen Endzeiten lernen für unsere Gegenwart.

Und es ist natürlich schon sehr, sehr viel geforscht worden zum Nationalsozialismus und dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber der Fokus Kindheit und Jugend fällt immer ein bisschen hinten runter. Unsere Tagung ist zwar dezidiert Kinder- und Jugendliteratur forschend ausgerichtet, aber Kindheit und Jugend...

stellen wir in den Mittelpunkt und sehen uns an, welche Perspektiven ergeben sich, wenn man aus Kindheit- und Jugendperspektive auf den Krieg sieht. Caroline Röder, eine der vier Leiterinnen der Tagung Maikäfer fliegt, der 8. Mai 1945 als Denkfigur in der Kinder- und Jugendliteratur. Die Tagung findet vom 6. bis 8. Mai im Deutschen Literaturarchiv in Marbach statt. Vielen Dank. Vielen Dank Ihnen.

Gerade jungen Kindern vom Holocaust zu erzählen, ist nicht so einfach. Viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben sich besonders in den vergangenen Jahren Gedanken darüber gemacht, wie man Kindern die Schrecken des Zweiten Weltkriegs vermitteln kann, ohne sie zu verstören. Die Autorin Maja C. Klinger hat sich entschieden, eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und Herzensgüte zu erzählen, wie sie im Nachwort zu ihrem aktuellen Buch für Grundschulkinder schreibt.

Maja Klinger wurde in Israel geboren, hat dort lange als Lehrerin gearbeitet und als Führerin durch die internationale Gedenkstätte Yad Vashem. Inzwischen lebt sie in den USA. Die Geschichte, die Maja Klinger in »Wie ein Foto unser Leben rettete« erzählt, beruht auf wahren Begebenheiten. Melanie Longerich hat das Buch gelesen. Sie beginnt ihre Rezension mit einem Zitat daraus.

Der Zweite Weltkrieg begann lange, bevor meine Familie ihn zu spüren bekam. Damals hatte niemand einen Fernseher oder Internet zu Hause und nur über das Radio erfuhren wir, wo der Krieg schon wütete. Maja Klinger erzählt die Geschichte der Familie Mandil aus der Perspektive des fünfjährigen Gavra.

Er hatte sie als längst erwachsener Mann aufgeschrieben und sich mit einem Brief an Yad Vashem in Jerusalem gewandt und darum gebeten, seinem albanischen Retter Refik und dessen Eltern Fatima und Vesel Veseli den Titel der Gerechten unter den Völkern zu verleihen, was die internationale Holocaust-Gedenkstätte 1987 auch tat. Gavras Geschichte beleuchtet einen nur selten thematisierten Aspekt des Holocaust.

Als im April 1941 Nazi-Deutschland und seine Verbündeten das damalige Königreich Jugoslawien angreifen, leben Gavra und seine Familie in der serbischen Stadt Novi Sad. Seine Eltern führen ein Fotogeschäft und seine kleine Schwester Irene, kurz Beba genannt, ist nicht einmal drei Jahre alt.

Was genau passiert, thematisiert Klinger nicht. Sie bleibt eng an der Perspektive des Kindergartenkindes Gavra, der nicht alles versteht. Doch die Weise, wie die Eltern abends, wenn er und seine Schwester eigentlich schlafen sollen, miteinander sprechen, beunruhigt ihn. Ich verstand nicht, warum die Deutschen uns Juden nicht mochten. Ich kannte keinen einzigen Deutschen und dachte, wenn ich doch nie einem begegnet war und ihm nichts Böses getan hatte, warum sollte er mich dann nicht mögen?

Den Wochenendausflug nach Belgrad zu Oma und Tante verbringt die Familie im Luftschutzbunker. Die Wehrmacht besetzt die Stadt, die deutsche Militärverwaltung verbietet den Mandils, nach Novi Sad zurückzukehren. Die systematische Entrechtung jüdischer Menschen beginnt sofort. Jedes Mal, wenn wir auf die Straße gingen, fühlten wir, wie man uns geringschätzig anschaute und schlecht über uns redete. Wir

Wir waren anders als alle anderen, gekennzeichnet mit dem gelben Stern. Die Eltern wagen die Flucht mit dem Zug in Richtung Kosovo, das zum größten Teil von italienischen Soldaten besetzt ist, die als weniger antisemitisch gelten als die Deutschen. Da auch in Serbien jüdischen Menschen das Zugfahren verboten ist, reist die Familie mit gefälschten Pässen und neuen Namen. Aus Vater Mosche ist Mirko geworden, aus dem Familiennamen Mandil Darmel.

Alles scheint zu klappen, bis der Zug bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof anhält und die Familie im Büro des Bahnhofsoffiziers landet. Der deutsche Offizier sagte zu Vater, in ihrem Ausweis steht, dass ihr Vater David heißt. Ihr seid Juden. Ich sah kleine Schweißperlen über Vaters Stirn rinnen. Er zog weitere Dokumente aus seiner Hemdtasche.

Plötzlich hob er den Kopf und ich hörte, wie er zu dem verärgerten Offizier höflich sagte, »Bitteschön, Herr Offizier, sehen Sie hier, ein Beweis, dass wir keine Juden sind.«

Er legte ein Foto auf den Tisch, auf dem er Beba und mich neben einem Weihnachtsbaum fotografiert hatte. Gavra im dunklen Matrosenanzug und seine Schwester Beba mit großer Schleife im Haar. Der Vater, erzählt Gavra, hatte in seinem Laden in Novi Sad seine Kinder oft fürs Schaufenster fotografiert, um so Kunden zu locken. Nun soll der Geschäftssinn des Vaters das Leben der Familie retten. Ein entscheidender Moment, der auch Klingers Buch seinen Titel gibt.

Ein Foto, das wirklich existiert. Es veranschaulicht den Lesenden neben vielen anderen Fotos die vielen Begegnungen der Mandils. Da, wo überraschende Wendungen, gefährliche Situationen, aber keine sorgsam komponierten Fotos zuließen, sind es die schwarz-weißen Zeichnungen der Hamburger Illustratorin Isabel Kreitz, die den jungen Lesenden eine zusätzliche Ebene bieten, die Geschichte zu verstehen.

Kreiz hat sich spätestens mit ihren Comic-Adaptionen verschiedener Erich Kästner-Werke einen Namen gemacht als Spezialistin für Kinderbuchillustrationen, die von vergangenen Zeiten erzählen. Auch für die Flucht der Familie Mandilins Ungewisse findet sie starke Bilder, die Kindern ermöglichen, unmittelbar dabei zu sein, etwa bei einem nächtlichen Ritt auf Eseln durch die Berge oder zusammengepfercht mit anderen Flüchtenden in einem alten Lastwagen ohne Dach.

So viel sei schon verraten. Die Flucht der Familie endet nicht im Kosovo, sondern in Albanien. Vorerst in der Hauptstadt Tirana, wo der Vater Arbeit findet, in einem Fotoladen. Doch als im September 1943 die deutsche Wehrmacht auch dort einmarschiert, muss die Familie untertauchen. Refe Kveseli, ein Arbeitskollege von Gavras Vater, bringt sie im Haus seiner Eltern in einem Dorf in den Bergen unter.

Auch in Albanien hatten die deutschen Besatzer versucht, Juden zu deportieren. Dass die mehrheitlich muslimische Bevölkerung sich weigerte, sie auszuliefern, hat mit dem Ehrenkodex Besa zu tun, dem sie sich verpflichtet fühlten. Auch die Familie Mandil spürt diese Gastfreundschaft, die besagt, dass jeder Albaner die Pflicht hat, seine Gäste bedingungslos zu beschützen, auch um den Preis des eigenen Lebens.

Sie müssen helfen, auch wenn der, der um Hilfe bittet, kein Muslim ist wie sie, sondern Christ oder Jude. Geschätzt 1800 jüdische Menschen aus Deutschland, Österreich, Griechenland und Jugoslawien konnten dank dieses Ehrenkodexes überleben. 1945 kehrten die Mandils nach Novi Sad zurück und wanderten 1948 mit der Staatsgründung nach Israel aus.

Maja Klinger erzählt Kindern den Holocaust vor allem als eine Geschichte über Freundschaft, Liebe und Herzensgüte, um zu zeigen, wie sie, Zitat, auch in den finstersten Zeiten den Weg erleuchten, wie sie in ihrem Nachwort schreibt. Der Autorin ist diese Gratwanderung gelungen.

Mit einfachen Worten, unsentimental, schafft Klinge es zum einen überzeugend, aus der Sicht ihres fünfjährigen Protagonisten zu erzählen, zum anderen geleitet sie gerade junge Lesende durch eine schwierige und schmerzhafte Thematik, ohne sie zu überfordern. Ein wichtiges Kinderbuch zur richtigen Zeit. Das sagt Melanie Longerich über Maja C. Klingers Buch »Wie ein Foto unser Leben rettete«.

Gundula Schiffer hat es aus dem Hebräischen übersetzt, Isabel Kreitz hat es illustriert, Inselverlag ab sieben Jahren. Die hebräische Fassung wurde übrigens 2022 mit dem Yad Vashem Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet.

Ab zwölf Jahren empfiehlt der Verlag Fischer-Sauerländer den ersten Jugendroman der britischen Autorin Liz Kessler, als die Welt uns gehörte. Darin schildert sie die Grauen der NS-Herrschaft schon etwas expliziter als im gerade vorgestellten Kinderbuch. Eine der drei Hauptfiguren wird ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert.

Für ihre Geschichte über drei Freunde in Wien, die der Zweite Weltkrieg auseinandertreibt, wurde Liz Kessler 2023 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Jetzt hat sie nachgelegt, Geheimname Eisvogel erzählt vom Widerstand gegen die deutschen Besatzer in den Niederlanden und von damals hinterlassenen Spuren, die bis in die Gegenwart reichen. Christoph Formweg über Liz Kesslers neuen Jugendroman.

Großeltern spielen in vielen Familien eine wichtige Rolle. Nicht nur als Babysitter, sondern auch als unbeschwerter Rückzugsort für Enkelinnen und Enkel, wo es spannende Geschichten von früher zu hören gibt.

Liv, die im heutigen England in die 8. Klasse geht, hat nur noch ihre 80 Jahre ältere Oma Bobbe. Uns verbindet einfach nichts miteinander. Bei Bobbe ist fast alles ein Tabu. Ihre Kuchenrezepte, ihre Kindheit. Kein Wunder, dass wir uns nie näher gekommen sind. Sie ist kalt wie ein Eisblock. Vor allem mir gegenüber.

Es ist, als habe es immer eine unsichtbare Tür zwischen uns gegeben und ich wusste nie, wie man sie öffnen könnte. Livs Geschichtslehrerin bringt Bewegung in das festgefahrene Verhältnis. Sie fordert ihre Schülerinnen und Schüler auf, zu, so wörtlich, Familiengeschichtsdetektiven zu werden. Ein Stammbaumus hier, Informationen über die früheren Generationen.

Zu Hause ist Livs Familiengeschichte bisher kein Thema gewesen. Bei der Vorstellung, vor der gesamten Klasse zu stehen und zu reden, wird mir jetzt schon schlecht. Aber mit einem leeren Blatt dort zu stehen, wäre noch viel schlimmer. Ich werde Miss Forschaus Rat befolgen. Ein bisschen genauer nachforschen, und zwar nicht allein für das Projekt, sondern auch für mich. Wenn ich ein bisschen mehr über meine Vergangenheit erfahren würde, wer weiß.

Dann würde ich vielleicht ein bisschen schlauer, wie ich die Gegenwart bewältigen kann. Die Recherche ist der innere Motor von Liz Kesslers Roman »Geheimname Eisvogel«. Sie verschränkt die im Präsenz geschilderte Gegenwart von Liv mit der im Präteritum erzählten Vergangenheit ihrer Oma in den Niederlanden. Beim Umzug ins Pflegeheim taucht eine alte Kiste mit Erinnerungsstücken aus deren Jugend auf.

Der besondere Reiz, Bobbe war damals genauso alt wie Liv jetzt, 12, 13 Jahre. Mit einem dramatischen Unterschied. Bobbes Familie wird während des Zweiten Weltkriegs wegen ihrer jüdischen Herkunft von der deutschen Besatzungsmacht verfolgt. Ihre Eltern geben sie deshalb zusammen mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Hanni in eine niederländische Pflegefamilie.

Auch Liv hat also jüdische Wurzeln. Doch wird sie nicht deshalb ausgegrenzt. Ihr Problem ist Carly, ihre langjährige Freundin, die sich plötzlich von ihr abwendet. Darüber kommt Liv mit Bobbe ins Gespräch. Ihre Großmutter erzählt nicht nur, wie sie von den Nazis ausgeschlossen wurde, sondern auch von ihrer Schwester Hanni. Wir waren uns ganz nah. Wir hatten aber auch sonst niemanden.

Und dann kam eine Zeit, da genügte ich ihr plötzlich nicht mehr. Sie war nicht gemein wie diese Kali, aber sie veränderte sich. Sie wollte keine Zeit mehr mit mir verbringen. Sie wollte etwas anderes. Sie wollte mehr. Ständig stand sie in irgendwelchen dunklen Ecken und redete mit Leuten, nur nicht mit mir. Das war die Zeit, als sie mir entglitt.

Wie es sich anfühlt, ausgegrenzt zu werden, ist eines der vielen Motive, das Liz Kessler aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Das Recherchieren selbst gehört ebenfalls dazu. Mal ist es gewinnbringend und erweitert den eigenen Horizont, mal bekommt es einen Beigeschmack von Herumschnüffeln. Oder das Mobbing, das es in unterschiedlicher Brutalität zu allen Zeiten gab und gibt.

In den Fokus rückt dann immer stärker das Motiv des Widerstands im Gestern und Heute, sowie die Frage, ab wann man selbst Schuld auf sich lädt, wenn man das Böse bekämpft. Zur Heldin wird Bobbes Schwester Hanni. Sie schließt sich der niederländischen Widerstandsbewegung an, um so viele jüdische Kinder wie möglich vor dem Zugriff der Nazis zu retten.

Doch es tauchen immer neue Rätsel auf. Weshalb versteckt Bobbe bestimmte Dokumente in einem Geheimfach der Kiste? Etwa den Zeitungsartikel über einen Anschlag in Amsterdam? Könnte es mit der Grund sein, warum sie nie über ihre Vergangenheit redet? Vielleicht wurde jemand, den sie kannte, bei der Bomben-Explosion getötet. Ihre Schwester?

Wieder überläuft mich der Schauer. Und wieder einmal begreife ich, dass ich nicht einfach nur in Bobbes Vergangenheit blicke und das nicht nur für meine Geschichtsnote tue. Ich tue es für mich, um mehr herauszufinden, wer ich bin, wer ich werden könnte, wenn ich mich damit beschäftige.

Geheimname Eisvogel ist ein klar und eingängig geschriebener, ungemein spannender, emotional aufgeladener Roman. Erzählt wird er aus vier Ich-Perspektiven, die Liz Kessler mit viel Gespür für Dramatik verzahnt.

Zu Liv heute und Bobbe 1942-43 kommt Hanni. In ihrem Tagebuch, das aus den nie abgeschickten Briefen an ihre vermutlich deportierte Mutter besteht, beschreibt sie ihren gefährlichen Alltag im Widerstand.

Über den ebenfalls bei Pflegeeltern untergetauchten jüdischen jungen Willem ebnet Liz Kessler dann den Weg zum Romanfinale in der Gegenwart, das für die Überlebenden die ganze Wahrheit ans Licht bringt. Die große Stärke des Romans liegt in der Zeichnung der Nuancen, in den Zwischentönen die Verbindungslinien zwischen gestern und heute zulassen.

So macht Liz Kessler nachvollziehbar, dass man das Vergangene nie abhaken kann. Und wie wichtig der Austausch zwischen den Generationen ist. Christoph Formweg über Geheimname Eisvogel von Liz Kessler. Aus dem Englischen von Eva Riekert, Verlag Fischer-Sauerländer, ab zwölf Jahren. Die gehörten Zitate sind dem Hörbuch entnommen, eingesprochen von Simona Pahl, erschienen im Argon Verlag.

Das waren die Bücher für junge Leserinnen und Leser. Nächste Woche Samstag stellen wir Ihnen um diese Zeit die laut Deutschlandfunk-Jury besten sieben Kinder- und Jugendbücher im Mai vor. Heute war Dina Netz am Mikrofon. Ich wünsche Ihnen ein gutes Wochenende.