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Kirsten Boie, Kinderbücher über Mathe, zum Tod von Peggy Parnass

2025/3/15
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Bücher für junge Leser

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Chapters
Dieser Abschnitt beleuchtet das Leben und Werk von Kirsten Boie, einer produktiven Autorin von Kinder- und Jugendbüchern, die sich durch einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und Solidarität mit Kindern auszeichnet.
  • Kirsten Boie hat über 100 Bücher in 40 Jahren geschrieben.
  • Ihre Werke zeichnen sich durch Gerechtigkeitssinn und Solidarität aus.
  • Boie betont die Bedeutung von Leseförderung in Deutschland.

Shownotes Transcript

Deutschlandfunk, Büchermarkt. Dina Netz ist am Mikrofon der Bücher für junge Leserinnen und Leser. Guten Tag. Sie war Autorin, Journalistin, Schauspielerin und sie war Zeitzeugin der NS-Diktatur, kämpfte ihr Leben lang gegen Ungerechtigkeit, Intoleranz und Vergessen. Peggy Parnas ist vergangene Woche mit 97 Jahren gestorben. Wir erinnern gleich an sie.

Mathematik begegnet uns überall im Alltag und kann viel Freude machen. Das wollen in diesem Frühjahr gleich mehrere Kinderbücher vermitteln. Wir widmen ihnen einen Schwerpunkt. Und wir beginnen auch mit Zahlen. Mehr als 100 Bücher in 40 Jahren, das ist die beeindruckende Schaffensbilanz der Hamburger Autorin Kirsten Beuye.

Sie wird nächste Woche 75 Jahre alt. Kirsten Beuer hat Bilderbücher für die ganz Kleinen, genau wie Romane für Jugendliche verfasst. Sie hat erfolgreiche Reihen mit vielen Bänden wie »Sommerby«, »Wir Kinder aus dem Möwenweg« und die beliebten Vorlesegeschichten rund um den kleinen Ritter Tränk veröffentlicht.

Historische Romane gehören auch zu Kirsten Borjes Repertoire, darunter zuletzt zwei Jugendromane, die sich mit dem Aufwachsen während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit beschäftigen. Und bei all dieser Produktivität nimmt Kirsten Borje sich seit langem die Zeit, unermüdlich für mehr Leseförderung in Deutschland zu werben.

Die Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek in München, Christiane Rabe, würdigt Kirsten Boyes Werk so. Es ist beinahe unmöglich, sich einen vollständigen Überblick über das breite Werk von Kirsten Boye zu verschaffen. Zu vielfältig und unterschiedlich ist das Spektrum der Themen und Genre. Will man dennoch etwas Verbindendes suchen, so sind es vielleicht zwei Eigenschaften. Ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn, der in einem tiefen Humanismus verwurzelt ist und

und die unbedingte Solidarität mit Kindern. Kirsten Buje beschreibt nie heile Kinderwelten, sondern webt in all ihre Bücher auch in die scheinbar harmlosen Geschichten aus dem Möwenweg oder auf Somabi kleine Störfeuer ein, mit denen sie den Bezug zur Realität nicht verliert.

Als Humanistin ist ihr ein emanzipatorisch-aufklärerisches Anliegen wichtig, aber sie vermittelt Werte wie Gleichberechtigung, Selbstbestimmung oder Meinungsvielfalt unaufhängig, mit großer Leichtigkeit und feinem Humor immer unter der Oberfläche der spannenden Handlung und fesselnden, pointierten Sprachebene.

Ihre Solidarität gilt uneingeschränkt den Kindern und Heranwachsenden, den Bedrohten, Vernachlässigten, ihrer Kindheit Beraubten, wie den Kindern in Eswatini, denen sie in dem kleinen Erzählband »Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen« ein erschütterndes Denkmal gesetzt hat. Ihre Solidarität gilt ebenso den Jugendlichen, die durch den Nationalsozialismus um ihre Kindheit und Jugend und Schuld und Zukunft gebracht wurden.

Ihre Solidarität geht aber auch allen Kindern, die in ihrem jungen Leben weniger bedrängt aufwachsen, aber dennoch mit kleinen kindlichen Dramen zu kämpfen haben. All diese Kinder sind starke, eigenwillige Persönlichkeiten, die die Leserinnen und Leser durch Kirsten Bojes großartige Gabe, sich in kindliche Innenwelten einzufühlen, liebgewinnen.

Herzlichen Glückwunsch, liebe Kirsten Boye. Christiane Rabe, Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek in München, würdigte Kirsten Boye und ihr Werk. Zum 75. Geburtstag Kirsten Boyes hat der Oettinger Verlag drei Bände der Reihe um das Meerschweinchen King Kong in neuer Aufmachung aufgelegt, illustriert von Christian und Fabian Jeremies.

1988 backte der Physiker Larry Shaw zum ersten Mal Pi-Kuchen, auf Englisch also Pie-Pies. Die Kuchen waren mit vielen Nachkommastellen der unendlichen Zahl Pi dekoriert, weil Larry Shaw mit ihnen seine Begeisterung für Pi zum Ausdruck bringen wollte. Deshalb waren die Kuchen auch rund, denn Pi dient ja der Berechnung von Kreisen.

Seit Larry Shores Kucheninitiative wird jedes Jahr am 14. März Pi-Tag gefeiert. Am 14. März, weil im Angelsächsischen das Datum ja andersrum geschrieben wird, erst der Monat, dann der Tag. Und 3.14 ist das Datum, in dem zumindest der Anfang der für viele so faszinierenden Zahl Pi enthalten ist.

Wir nehmen den Pi-Tag zum Anlass für einen Schwerpunkt zu Kinderbüchern, die sich mit Mathe, Zahlen und Pi im Besonderen beschäftigen. Maria Riederer hat vier Bücher für verschiedene Altersstufen ausgewählt. Sie beginnt mit ... Bei uns zu Hause hat jeder eine große Leidenschaft. Eine Sache, die er mit Hingabe betreibt.

Mein Vater hat eine und meine Mutter hat eine andere. Die kleine Ich-Erzählerin mit dem knallroten Wuschelkopf stellt erst einmal die Hobbys ihrer Familienmitglieder vor. Der Vater malt, die Mutter widmet sich der Erforschung von Insekten, der Bruder macht Musik auf einer riesenhaften Tuba.

Das Mädchen ohne Namen hat an alledem kaum Interesse. Auch für die Schul-AGs in Theater, Tanz oder Kochen hat sie wenig Talent. Es gibt etwas, das ich wirklich mag. Mathe. Mathematik ist praktisch überall. Man muss nur die Augen offen halten. Der Spanier Miguel Tanco, der das Buch geschrieben und illustriert hat, untermauert die Allgegenwart der Mathematik in seinen Zeichnungen, ohne dass es zunächst auffällt.

Die Böden der Zimmer sind mal mit Karos, mal mit Kreisen versehen. In den Schul-AGs steht das Mädchen auf Wellen oder Parallelenlinien. Der Ball im Tennistraining beschreibt eine perfekte Kurve und dafür hat das Kind einen Blick. Es gibt geometrische Figuren auf dem Spielplatz.

Klettergerüste, Rutschbahn, eine Bank. Es macht mir Spaß, die perfekte Kurve zu finden und schwierige Teilaufgaben zu lösen. Ein Tisch voller Essen, vier Personen, Gläser mit Nudeln, Flaschen mit Flüssigkeit, mal, geteilt, plus, minus, Mengen, Volumen, Fläche, Linie, Kreise, Polygone, Fraktale. Mathe ist in allen Gegenständen und Formen, die uns umgeben.

So erlebt es das Mädchen im Buch und im Lauf von 48 Seiten lernen die Augen der Betrachter, auf Formen und mathematische Phänomene zu achten. Miguel Tancos Zeichnungen sind leicht und lebendig. Sie führen ins Freie, ins Museum, auf den Flohmarkt. Die Sprache ist knapp und schnörkellos.

Spannend ist das Buch nicht auf der Handlungsebene, sondern auf der Erkenntnisebene. Wer beim Einstieg in Erwartung einer Geschichte schnell weitergeblättert hat, sollte unbedingt nochmal von vorne anfangen und genau hinsehen, mit den Augen eines mathebegeisterten Kindes. Ich mag Mathe. Den Titel würden sicher nicht alle Kinder in den ersten Schuljahren unterschreiben. Dieses Buch zeigt ihnen, dass Mathe weit mehr ist als Rechnen. Pina Gertenbach. Von 1 bis 10? Alles gesehen?

Wer noch jüngere Kinder an die Welt der Zahlen heranführen will, findet viele schöne Bücher. Zwei Pappbilderbücher sollen hier erwähnt werden. Das erste davon im Großformat, von 1 bis 10, alles gesehen, von Pina Gertenbach, empfiehlt der Esslinger Verlag ab drei Jahren. Hier wimmeln Tiere und Fantasiewesen und die Kinder werden ermuntert, auf die Suche zu gehen nach Zahlen, Ziffern oder gleichen Merkmalen unter den Tieren und anderen Dingen.

Entdeckst du zwei Katzen unter den vielen Tauben? Hier gibt es viele bunte Fische, aber nur drei sind grün. Siehst du zwei Hasen mit Schlappohr? Ein Drache hat neun spitze Zacken auf dem Rücken.

Durch das Buch führt das Zalino, ein Mischwesen mit einer roten Nase, zwei runden Augen, drei kleinen Hörnern, vier Flügeln, fünf weißen Zähnchen und so weiter. Die fröhlichen Illustrationen von Pina Gertenbach animieren zum genauen Hinsehen, Suchen und Entdecken, zum Zählen und Unterscheiden.

Wer die gleiche Zielgruppe auch sprachlich unterhalten möchte, kann das mit einem weiteren Pappbilderbuch in kleinerem Format aus dem Peter-Hammer-Verlag tun. »Alle weg« erzählt in Reimform von zehn wilden Kindern und davon, was passiert, wenn von zehn immer eins abgezogen wird. »Zehn wilde Kinder spielen gern Versteck. Kai hält sich die Augen zu, die anderen laufen weg.«

Neun wilde Kinder platschen durch den Bach. Lu versteckt sich hinterm Stein. Da sind es nur noch acht. Das Konzept ist bekannt und funktioniert immer. Mal führte Reim, mal vielleicht schon das Wissen zur nächsten Zahl.

Erst verschwindet ein Kind nach dem anderen, dann tauchen sie alle wieder auf. Das alles ist schmissig gereimt, mit kleinen witzigen Wendungen versehen und wunderschön gestaltet. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und neun. Hurra! Noch Kai dazu, zehn wilde Kinder, alle wieder da.

Ob aus Kleinkindern und ihrem spielerischen Umgang mit Zahlen später Mathefreaks werden, bleibt abzuwarten.

Eins allerdings ist sicher, selbst wenn Mathe in der Schule kein Lieblingsfach wird, ist noch lange nicht alles verloren. Das beweist Anita Lehmann mit ihrem neuen Buch über die Zahl Pi, das der Schweizer Helvetik Verlag für Kinder ab neun Jahren empfiehlt. Ja, ich habe eine sehr komplizierte Beziehung zu Mathematik. Eigentlich mag ich Mathematik sehr gerne.

Aber für mich war die Mathematik in der Schule sehr schwierig. Ich hatte auch nicht wirklich inspirierende Lehrer und Lehrerinnen. Und als Kind habe ich nie wirklich begriffen, was so toll ist an der Mathematik. Seit ich die Schule abgeschlossen habe, habe ich auch keine Mathematik mehr gemacht.

Außer so Dokus habe ich eigentlich fast gar nichts mehr mit Mathematik zu tun gehabt. Außer so ein bisschen ein abstraktes Interesse an dem Thema im Allgemeinen. Die Schweizerin Anita Lehmann lebt in England. Sie hat schon mehrere Sachbücher geschrieben, meist ging es dabei um Menschen.

Und das tut es auch in Verrückt nach Pi. Da geht es um Mathe-Nerds und Philosophen, Träumer und Ketzer. Aber das alles wusste Anita Lehmann noch nicht, als sie von ihrem zukünftigen Co-Autor, dem Mathematiker Jean-Baptiste Aubin, diese Anfrage bekam. Jean-Baptiste ist Mathematiker, er ist Statistikprofessor in Lyon. Und er arbeitet seit Jahren daran, Mathematik Kindern näher zu bringen. Das ist seine Leidenschaft.

Und er hat mir von Pi erzählt. Und er hat mir gesagt, weißt du, dass jedes deiner Bücher schon in Pi enthalten ist?

Und da war ich hooked. Da habe ich gedacht, oh ja, da muss ich mehr hören. Was meinst du damit? So begann die Zusammenarbeit an einem Kinderbuch, das sich 88 Seiten lang mit der Zahl Pi beschäftigt. Es wegzulegen ist schlicht unmöglich. Nach einer kurzen Erklärung der Formel, die zum Wert um die 3,14, also zu Pi, führt, beginnt die Geschichte der Menschen, die sich von dieser Zahl faszinieren ließen.

Parallel dazu führt Anita Lehmann mit Humor und meisterlicher Klarheit und mithilfe der großartigen Zeichnungen des estnischen Künstlers Jonas Sildre an die Vorstellung heran, dass es irrationale Zahlen gibt, in denen die ganze Welt enthalten ist.

Jedes Geburtsdatum, jede Kreditkartennummer, jedes Buch, wenn man die Buchstaben in Zahlen aufschreiben würde. Unglaublich, aber wahr. »Pie ist nicht ordentlich. Pie ist wirklich schlecht darin, irgendeine Art von periodischem oder regelmäßigem Muster vorzuweisen. Pie weiß wahrscheinlich nicht einmal, was ein periodisches Muster ist. Und noch schlimmer, es ist ihm egal.«

Das macht Pi zu einer irrationalen Zahl. Sie ist unendlich und wiederholt sich nicht. Pi ist nicht einfach eine Zahl, es ist eine Diva. Eigenwillig, schwer zu ergründen, unglaublich attraktiv. Das jedenfalls fanden viele Männer, später auch Frauen, durch alle Zeitalter hindurch und auf der ganzen Welt.

Archimedes und Ariabata, Ludolf van Keulen oder Madhava von Sangamagrama, der nicht nur eine weitere Formel zur Entdeckung immer weiterer Dezimalstellen erfand, sondern diese in Form von Versen aufschrieb, wie ein Gedicht.

Oder der Inder Ramanujan, der die Formeln träumte und sie stimmten. Diese Geschichte ist echt unglaublich. Es ist eine sehr traurige Geschichte. Er hatte die Chance, in die Schule zu gehen. Er wollte aber nur Mathematik machen. Das war das Einzige, was ihn interessiert hatte. Und deshalb ist er aus der Schule geflogen und musste sich dann das meiste selbst beibringen. Und ich fand das einfach schon faszinierend, dass man schon als Kind so eine ganz klare Idee hat, was man machen muss.

Er sah das offensichtlich als sein Schicksal und ist dann einfach nur gerade auf sein Ziel zugegangen, ohne einen Moment zu zögern. Je mehr man weiß, so siniert Aristoteles in dem Buch, umso mehr wird einem bewusst, dass man nichts weiß.

Bevor diese Erkenntnis allerdings zur Frustration führen könnte, fordern die drei kreativen Köpfe aus Autorenduo und Illustrator die Kinder auf, mit Pi zu spielen. Zu rechnen, zu knobeln, zu schätzen, optische Täuschungen zu durchschauen, eine Pizza in drei gleich große Stücke zu schneiden.

Und für die echten Nerds gibt es am Ende auch noch Formeln. Kinder kriegen extrem viel Druck in der Schule, wenn es um Mathematik geht. Und wenn man Mathe gerne hat, ist das nicht ein Problem, aber wenn man es nicht so gerne hat, ist das schwierig. Und deshalb, ich wollte es einfach so lustig wie möglich machen und so zugänglich wie möglich, damit es alle genießen können.

Auch wenn Sie dann das dritte Kapitel nicht unbedingt durchrechnen möchten. Wenn ich das Buch nicht geschrieben hätte, wäre ich auch in dieser Gruppe. Im Zeitalter von KI, die das Rechnen für uns erledigt, das Denken, Schreiben und jeden kreativen Prozess, ist verrückt nach Pi besonders wertvoll. Nicht die fertige Formel ist das Thema, nicht die am Ende von Computern ausgespuckte ewige Reihe von Dezimalstellen. Es geht in erster Linie um die Lust, einer Sache auf den Grund zu gehen.

Sie nicht als fertiges Produkt serviert zu bekommen, sondern sie selbst zu ergründen. So geht Mathe weit über irgendein Schulfach hinaus und wird zur Philosophie, zur Lebensweise.

1939 schickten ihre Eltern Peggy Parnass und ihren Bruder mit einem Kindertransport nach Stockholm. Die jüdischen Eltern wurden dann von den Nazis im Konzentrationslager Treblinka ermordet. Peggy Parnass kehrte nach Studium in Stockholm, London und Paris nach Hamburg zurück, machte sich in den 70er Jahren mit ihren Gerichtsreportagen in der Zeitschrift konkret einen Namen.

Sie arbeitete als Schauspielerin, Dolmetscherin, Sprachlehrerin, Journalistin und engagierte sich politisch für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen. Ihre autobiografisch grundierten Bücher »Unter die Haut« und »Süchtig nach Leben« fanden große Beachtung. In »Kindheit«, das sich auch an Jugendliche richtet, erzählte sie bewegend von ihrem Aufwachsen im Dritten Reich.

Jetzt ist Peggy Parnass im Alter von 97 Jahren in ihrer Heimatstadt Hamburg gestorben.

Vor zehn Jahren hat meine Kollegin Ute Wegmann sie zum Interview getroffen. Zur Erinnerung wiederholen wir Teile dieses Gesprächs. Auf die Frage, warum sie nie fiktive Texte verfasst habe, antwortete Peggy Parnass damals. Ist überhaupt kein Grund, irgendetwas zu erfinden, weil das Leben spannend genug ist. Spannender als alles, was ich mir ausdenken könnte. Das reicht nicht.

Sie haben einmal geschrieben, Sie sind staatenlos geboren und Schwedin geworden, aber im Herzen sind Sie doch durch und durch Bewohnerin des St. Georgsviertels, eine Hamburgerin oder muss man sagen eine Europäerin? Europäerin oder Weltbürgerin.

Sie haben auch Unterschieden in einem Text zwischen den Verwandten und den Wahlverwandten. Kann man sagen, dass Ihre Freunde zu Ihren Wahlverwandten wurden und standen diese Freunde für Heimat und für ein Zuhause? Es sind ja um die 100 nahe Verwandte umgebracht worden, also Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten, Vättern, Cousinen. Und die Menschen, die die Wahlverwandten sind, also meine Freunde,

Die mussten alles ersetzen und waren dadurch sicher sehr überfordert.

In Kindheit, da heißt es zu Beginn, ich hatte keine Kindheit. Und an anderer Stelle haben Sie mal gesagt, ich war uralt als Kind. Sie mussten sehr früh viel Verantwortung übernehmen für sich und für den Bruder sorgen. Sie waren elf Jahre, als Sie nach Schweden geschickt wurden von der Mutter mit dem Bruder zusammen. Er war vier. In Kindheit gibt es aber neben allem Traurigen auch viele schöne Erinnerungen. Vor allen Dingen...

An die Liebe zwischen den Eltern und auch an die Mutter. Ich habe die Erzählung als eine Art Liebeserklärung an ihre Eltern, vor allen Dingen an ihre Mutter gelesen. Ja, unbedingt. Absolut. Das ist wirklich eine bleibende, unauslöschbare Liebe. Sie war so wunderbar, so herrlich. Beide mit ihren Wuschelköpfen, mit ihren schwarzen Locken, mit ihrer Lebendigkeit. Sie sehr, sehr jung.

Und beide völlig verrückt nacheinander. Also sie hatten sich nicht irgendwie ein bisschen lieb oder gern, sondern es war doch eine Wahnsinn. Das ist bis heute für mich das absolut Schönste, aber das war eigentlich das einzig Schöne. Denn die Panik fing ja nicht erst später an. Solange ich denken kann, waren sie unentwegt, pausenlos in Panik, in Riesenangst, in Todesangst.

Sie wussten ja, was auf sie zukam und sie stellten Anträge überall hin, in alle möglichen Länder. Überall wurde es abgelehnt. Wir hatten gar kein Geld. Und bei uns war es immer sehr gemütlich und kuschelig und ja, die Liebe, die Liebe herrschte, aber eben auch die Todesangst.

Die Liebe ist in diesem Buch Kindheit, in diesem Text ja sehr stark. Ich habe mich gefragt, ob Sie denn, obwohl diese Angst präsent war, aus diesem starken Familienbund, ob Sie daraus Ihre Kraft gezogen haben? Ich weiß es nicht. Ich empfinde es eigentlich nicht als Kraft, weil ich ja so süchtig danach bin. Ich bin liebessüchtig. Und das, was es an Liebe gab, das ist danach ja nie wieder irgendwo hergekommen.

Ich habe mich immer in Liebesgeschichten reingestürzt, also Kopf über rein, drauf losgelebt und habe nach der Liebe gejagt. Nee, das kann nicht glücklich machen. Woher kam denn Ihre Kraft, das alles durchzustehen, zurückzukommen nach Deutschland, so kämpferisch zu arbeiten, wie Sie das gemacht haben all die Jahre? Kämpferisch war ich schon als Kind. Meine Eltern waren Sozialisten-Mitglieder.

Sie hielten keine Vorträge darüber, aber sie haben ja so gelebt. Sie haben ja mit anderen und für andere und haben sich immer für andere eingesetzt. Sie waren auch sehr, sehr beliebt in unserer Straße. Und da lebten ja keine anderen Juden, wir waren die einzigen Juden. Aber die waren so beliebt, weil sie so waren, wie sie waren. So herzlich, so hilfsbereit. Ich habe nie darüber gesprochen mit niemandem.

Ich habe mich die ganzen Jahre intensiv mit dem Jetzt, dem jeweiligen Jetzt beschäftigt, immer versucht einzugreifen, da wo ich etwas als falsch empfunden habe. Das ist mir immer wichtig gewesen. Rückwärts kann ich ja nichts mehr ändern leider. Und was mich sehr, sehr getroffen hat und trifft, ist, dass so wenig sich verändert hat. Die Deutschen bemitleiden sich selber mehr als andere.

Glauben Sie nicht, dass die jüngere Generation der Deutschen einen anderen Blick auf die Geschichte hat? Doch die dritte Generation, ja. Die regt sich auf, sie nimmt teil, soweit sie überhaupt politisch interessiert sind, die Jugendlichen. Aber die zweite Generation, die wollte gar nichts davon wissen, hat alles beiseite geschoben. Die Lehrer haben das auch nicht zum Unterrichtsstoff machen wollen.

Weil sie ja wussten, wenn sie nicht ganz verblödet waren, dass ihre Eltern und Großeltern die Täter waren in den meisten Fällen. Ich kann ihnen nicht mal verdenken, dass sie davon nichts wissen wollten. Ich fühle mich privilegiert, wenn ich an meine wunderbaren ermordeten Eltern denke, die grundanständig waren. Und wenn ich mir vorstelle, wie man sich fühlen muss, wenn man so einen Pack zu Eltern oder Großeltern hat und die auch noch mögen soll, schon schlimm, nicht wahr?

Ich merke gerade, dass alles so negativ wird jetzt im Gespräch und ich lebe so gern, wahnsinnig gern und drauf los. Aber ich erinnere mich natürlich daran, ich konnte mit fünf schon lesen und da gab es den Stürmer, der war überall sichtbar, groß an jeder Straßenecke, furchtbar, Karikaturen und mit Warnungen vor uns, Juden, die Kinder fressen und so.

Die absurdesten Dinge, die aber für wahrgehalten wurden von der Bevölkerung. Und wir durften nichts. Da waren überall große Schilder. Also wir durften uns auf keine Parkbank setzen. Das war für Hunde und Juden verboten, stand dann drauf. Wir durften kein Eis essen gehen, war auch für Juden verboten. Ich weiß gar nicht, was nicht verboten war. Was hat Ihnen denn die Kraft gegeben, überhaupt in Deutschland zu bleiben? Die Illusion, dass sich was geändert hätte.

Eine Illusion geniert dadurch, dass so viele auf mich zukamen. Ich wirkte an der Uni wohl attraktiv auf andere Jugendliche, Deutsche. Ich lernte ungefähr als erstes Peter Rümkopf kennen und Klaus-Rainer Röhl, der später Konkret gründete. Und wir haben eine eigene Studentenbühne gegründet. Wir haben eine Wohngemeinschaft gegründet. Wir haben Kabarett gemacht. Rümkopf hat die Texte geschrieben, Röhl die Regie gemacht. Ich hatte immer die Hauptrolle.

Unser Kabarett hieß die Pestbeule und war ganz toll. Die Texte sind immer noch aktuell. Ja, und alle hatten so viel Humor. Also die waren tatsächlich Antifaschisten. Und ich war froh und glücklich, dass ich ganz nah um mich herum und an mir dran, die tatsächlich Linke waren. Ja, mit denen ließ sich gut leben. Haben Sie niemals daran gedacht, auszuwandern?

Ich wusste nicht, wohin. In Paris habe ich miterlebt, wie die Algerier verfolgt wurden. Ich habe miterlebt in London am großen Friedenstag am 8. Mai, wie es Gruppen aller Länder gab. Sie gingen alle glücklich und stolz und strahlend. Und dann kam ein ganz kleines jüdisches Grüppchen, vielleicht 30, 35 Leute zusammen.

mit der jüdischen Fahne, blau-weiß, und die wurden alle zusammengeschlagen von Engländern. Das ist für mich eine Lehre fürs Leben, denn bis dahin dachte ich, man müsste nur Deutschland platt machen, weg mit den Deutschen, dann ist die Welt ein Fest. Aber so einfach ist es ja leider nicht. Also auswandern, ich sehe keine Alternative.

Ralf Giordano, Publizist und Schriftsteller, war ein guter Freund von Ihnen. In einem Vorwort für Ihr Buch schrieb er, Ihr vorherrschender biografischer Aggregatzustand sei verheerende Verwundbarkeit. Ihre Offenheit haben Sie sich ja erhalten. Würden Sie sagen, Sie sind auch immer noch verwundbar?

Ja, leider, leider sehr. Aber genauso wie ich verwundbar bin und verzweifelt sein kann, bin ich auch so begeisterungsfähig. Also ich zerspringe ja zwischendurch auch vor Glück.

Es hält sich eigentlich die Waage. Mir ist gerade wieder angefangen, wie oft ich Grund habe, glücklich zu sein. Peggy Parnas, die Autorin, NS-Zeitzeugin und Aktivistin, ist im Alter von 97 Jahren gestorben. Sie hörten Auszüge aus einem Büchermarktgespräch aus dem Jahr 2015. Peggy Parnas Buch »Kindheit – Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete« ist bei Fischer Sauerländer als E-Book erhältlich, empfohlen ab 12 Jahren.

Das waren die Bücher für junge Leserinnen und Leser mit Dina Netz am Mikrofon. Ich danke für Ihr Interesse und empfehle Ihnen jetzt im Anschluss Computer und Kommunikation. Ein gutes Wochenende.