Deutschlandfunk, Büchermarkt. Kommunikation, das könnte die Überschrift für die heutigen Bücher für junge Leserinnen und Leser sein. Sprache, verbindende Gespräche, Fragen, Vorurteile und Missverständnisse. Auf die eine oder andere Art spielt Kommunikation in allen heute hier vorgestellten Kinder- und Jugendbüchern eine Rolle. Mein Name ist Svenja Kretschmer. Herzlich willkommen.
Missverständnisse entstehen in der Regel dadurch, dass Menschen Gesten und Gesagtes unterschiedlich interpretieren. Beim Spiel »Stille Post« entstehen Missverständnisse durch akustische Verluste. Gleich zwei neue Bilderbücher nehmen dieses Spiel nun als Grundlage für ihre Geschichten.
Im Leporello von Nele Palmtag und Rieke Drust wird dabei nicht geflüstert, sondern laut in das Setting einer Stadt gebrüllt. Andrea Tuschka und Rebecca Stellbrink führen mit ihrem Bilderbuch in den Wald, wo die Freundschaft zwischen einer Haselmaus und einem Braunbären beinahe zerbricht. Jan Drees hat sich beide Bücher angesehen.
Wenn in einer Firma über fünf Abteilungen hinweg Informationen weitergegeben werden, kommen am Ende lediglich 20 Prozent der ursprünglichen Nachricht an.
Das Phänomen der stillen Post, eigentlich ein Kinderspiel, ist in unserer Zeit bedeutsam geworden. Denn wie bei der stillen Post weitergereichte Fake News fluten die Informationshorizonte nahezu aller Menschen. Die oft absichtlich gestreuten Falschmeldungen werden ausgeschmückt angereichert. Sie sinken als toxisches Sediment auf den Nährboden unserer Demokratie.
Dass Instagram und Facebook fortan auf Faktenchecks verzichten, ist ein Dilemma. Kinder können bereits früh vertraut gemacht werden mit dem Phänomen des höheren Sagens als erste Fake-News-Desensibilisierung. Beispielsweise mit Andrea Tuschkas Bilderbuch »Stille Post«.
Sie erzählt die Waldgeschichte von Bär und Maus, die in großen Streit geraten. Beide waren felsenfest davon überzeugt, Recht zu haben. Und keiner wollte auch nur eine Tannenzapf-Wurflänge nachgeben. Der Bär flüchtet, die Maus schmollt, möchte aber unbedingt das letzte Wort haben und dieses letzte Wort dem einstigen Freund mitteilen, mithilfe anderer Tiere. »Bär, ich mag dich gar nicht mehr. Komm bloß nie wieder hierher.«
»Ich war im Recht bei unserem Streit. Und mir tut überhaupt nichts leid.« »Wir bibbernden Biber, Hasen mit der verstopften Nase, murmelndes Murmeltier, fast taube-taube und maulenden Maulwurf kommt natürlich der entgegengesetzte Wortlaut beim brummelnden Bären an.« »Bär, du weißt, ich mag dich sehr. Bitte komm doch wieder her. Du hattest Recht bei unserem Streit. Und mir tut es furchtbar leid.«
So endet die Geschichte heiter und gibt dennoch einen ersten Eindruck von den Folgen möglichen Falschhörens. Illustratorin Rebecca Stellbrink hat die stille Postbilder aus vielen kleinen Stückchen zusammengesetzt. Diese Snippets wurden mit Aquarell und Akkordeon
Acrylfarbe koloriert, ein vager Diorameneffekt entsteht. Das auf diese Weise durchaus aufwendig gestaltete Buch ist eine künstlerisch eigensinnige Collage in beinahe 3D. Auf der inhaltlichen Ebene zudem eine Fabel über Entschuldigungen und über einen seltenen Moment alternativer Fakten, der ausnahmsweise nicht zum Streit, sondern zur Versöhnung führt.
Sie mussten beide zugeben, dass es ganz schön anstrengend gewesen war, wütend zu sein. Und überhaupt kein schönes Gefühl. Die Freunde nahmen sich vor, nie wieder im Streit auseinanderzugehen. Dann aßen sie den Honigkuchen, grinsten wie zwei Honigkuchenpferde und plauderten über Gott und die Welt.
Denn diese war ja jetzt wieder in allerbester Ordnung. Als Erwachsener denkt man möglicherweise an das berühmte Interview des Nachrichtenmagazins Der Spiegel mit dem Philosophen Theodor W. Adorno aus dem Mai 1969 mit der wunderbaren Feststellung, Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung, worauf Adorno lapidar antwortete, mir nicht.
Wenig ist in Ordnung, auch dieser Tage. Die Menschen wirken oft aufgekratzt, aggressiv, wie der bärtig-langhaarige Zausel, der im zweiten Stille-Postbuch ausruft. Ihr könnt euch mal gehackt legen, Illustratorin Nele Palmtag zeigt.
Diese Szene in ihrem weit ausklappbaren Brüllepost-Lipporello. Sie und Texerin Riek Drust haben jahrelang auf St. Pauli in Hamburg gewohnt. Sie haben oft erlebt, dass jemand auf der Straße plötzlich unverblümt brüllt, ohne dass für Umstehende sogleich erkennbar ist, weshalb dieser Mensch ausrastet.
So ist es auch in diesem Leporello. Das stille Postkinderspiel wird umgedreht, es wird gebrüllt. Alle Personen, die den kurzen »Ihr könnt euch mal gehackt legen«-Gefühlsausbruch des bärtigen Zausels erleben, hören einen anderen Wortlaut. Der Fahrradhändler denkt hier, beschwere sich jemand, er habe ein Kackleben. Die Streifenpolizistin hört, er will sich nackt ins Gras legen. Der Straßenmusikant, er
Er will, dass wir was abgeben. Und so geht es weiter. Vom Lieferanten mit der Sackkarre über die Friedensdemonstrantin bis zur alten Gattin, die ihren Mann im Rollstuhl vor sich herschiebt. »Er kann den schweren Sack heben? Er würde Pies ne Chance geben. Er will mal meinen Mann pflegen.«
Gestalterisch ist dieses Leporello anspruchsvoll. Auf zweimal einem Meter werden die Szenen fortlaufend gezeigt. Stiftzeichnungen auf freien Farbflächen mit sehr kräftigen Tuschefarben, die in die jeweils nächste Szene ragen.
auf diese interessante Weise eine Geschichte erzählen, die uns erinnert, bei Zeiten hören wir nur, was wir hören wollen. Nicht nur, wenn es weiter geflüstert, sondern auch, wenn es wie hier überdeutlich gebrüllt wird und der bärtige Zausel statt »Ihr könnt euch mal gehackt legen« eigentlich anmerken wollte. »Na, hört mal, ich mag Zeltfäden.«
Jan Drees über Hört mal, Untertitel Brülle Post Leporello von Nele Palmtag und Rieke Drust, Kunstanstifter Verlag ab drei Jahren. Und Stille Post von Andrea Tuschka und Rebecca Stellbrink, erschienen bei Bohem ebenfalls ab drei.
Die Autorin Marguerite Abouet, geboren 1971 in Abidjan in der Elfenbeinküste, ist mit ihrer Graphic-Novel-Reihe »Aya aus Yopougon« bekannt geworden, die sich an Jugendliche und junge Erwachsene richtet. Danach startete Abouet eine zweite Comic-Reihe für Jüngere, gezeichnet von Mathieu Sapin. Sie dreht sich um das Mädchen Akissi. Grundschulkinder konnten deren Aufwachsen in der Elfenbeinküste fünf Bände lang verfolgen.
Nun ist Akissi älter geworden. Und Marguerite Abouet und Mathieu Sapin widmen ihr eine neue Reihe, die ebenfalls im Reproduktverlag erscheint. Akissi aus Paris. Denn für die weiterführende Schule zieht Akissi um. Und obwohl sie Französisch spricht, spielen Missverständnisse eine große Rolle. Dina Netz stellt den ersten Band vor. Die fünf ersten Comics um die freche, selbstbewusste Akissi sind auch im deutschsprachigen Raum ein großer Erfolg.
Sie zeigen ein authentisches Bild einer Kindheit in der Elfenbeinküste, mit einem Affen als Haustier, aber frei von Afrika-Klischees und ohne die sozialen Probleme wie Armut oder patriarchale Strukturen zu verschweigen. Was sich in den letzten Comic-Bänden schon abzeichnete, wird nun in der neuen Reihe »Akissi aus Paris – Wirklichkeit«. Akissi wechselt für die weiterführende Schule in die französische Hauptstadt.
Auf dem ersten, emblematischen Bild steht sie mit ihrem großen Bruder Fofana, der mitgekommen ist, und dem Großonkel Opi, bei dem sie künftig wohnen, vor dem Eiffelturm. Akissi, zwölf Jahre alt, ist ein fröhliches, temperamentvolles, cleveres Mädchen, das das Leben beim Schopf packt. Sie grüßt die Leute in den Pariser Straßen, die überrascht oder nicht zurückgrüßen, und staunt darüber, dass die Autos am Zebrastreifen für die Fußgänger halten.
Der Umzug nach Paris bedeutet weit mehr als nur einen Schulwechsel. Nicht nur der Umgang mit Tieren ist hier ganz anders als in Akissis ivorischer Heimat. Weg da, blöde Tauben! Wenn ihr mich vollkackt, könnt ihr was erleben. Warum isst euch hier bloß keiner?
Im Gymnasium fällt Akissi auf. Sie ist schwarz, hat viele vom Kopf abstehende Zöpfe. Kein Handy, versteht die Pariser Jugendsprache nicht. Schon nach dem ersten Schultag ist das Heimweh groß. Akissi schüttet Monsieur Emile ihr Herz aus, einem Obdachlosen, der die Tage auf einer Bank vor ihrem Wohnblock verbringt.
»Was ist das für ein Land? Der Wecker klingelt um sieben, aber draußen ist es immer noch dunkel. Also schlafe ich weiter und denke, der Wecker spinnt. Da weckt mich mein Bruder mit lautem Gebrüll. Aber, Fofana, es ist erst... Nein! Ich war noch nie so schnell angezogen. Dabei war es immer noch stockdunkel draußen. Ich will zurück nach Hause, Monsieur Emil.«
Akissis Bruder ergeht es kaum besser. Beide betteln den Großonkel an, wieder nach Abidjan zurückzudürfen. Der Großonkel ist zwar ein älteres Semester, streng und mit konservativen Ansichten, zum Beispiel machen Handys dumm, aber er ist absolut loyal und durchaus bereit, den Kindern neue, angesagtere Klamotten zu kaufen. Durch die cooleren Outfits wächst zwar die Aufmerksamkeit für die beiden, ist aber noch nicht das Problem der neuen Freundinnen und Freunde gelöst.
Die Grüppchen in Akisis Klasse bleiben unter sich. Der Einzelgänger Marcel, der von allen gehänselt wird, fordert Akisis Sinn für Gerechtigkeit heraus. Er ist immer allein. Keiner will was mit ihm zu tun haben. Keine Ahnung warum. Dabei ist er ganz nett.
Akissi setzt sich für Marcel ein, gerät dabei zwischen alle Fronten und macht zwischenzeitlich alles nur noch schlimmer. Dass sie zugleich in die Clique der angesagten April aufgenommen werden will, macht Akissis Situation nicht einfacher.
Marguerite Abouet erzählt die Geschichte in knappen, authentischen und pointierten Dialogen, mit vielen Einsprängseln aus der Jugendsprache. Mathieu Sapin hat seinen Illustrationsstil an die Bilderwelt Clément Oubreries angelehnt, des Zeichners von Marguerite Abouets Aya-Geschichten. Die Comics über Ayas Coming of Age in Abidjan waren ein weltweiter Erfolg.
Sapin erzählt Akisis Geschichte in dieser Tradition. Farbenfroh, aber nicht knallig, im Cartoon-Stil und so dicht und wuselig, wie Akisis Alltag eben ist. Auf den meisten Seiten bringt Sapin sieben bis acht Panels unter und verleiht der Geschichte so Dynamik. Einzelnen wichtigen Szenen gönnt der französische Zeichner auch mehr Raum.
Den Kontinent zu wechseln ist nicht leicht, auch wenn man die Landessprache spricht. Das macht Akissi aus Paris auf vielen Ebenen nachvollziehbar. Akissi versteht die Codes der Jugendlichen nicht, bekommt vom Kantinenessen Durchfall, muss die unausgesprochenen Regeln einer anderen Kultur erlernen. Dass man über Körperausscheidungen lieber schweigt, will ihr zum Beispiel nicht in den Kopf. Freimütig erzählt sie ihrem neuen Freund Marcel. Uns verbindet ein Geheimnis.
Auch wenn es bei mir eigentlich kein Geheimnis ist. Ich muss jedes Mal nach dem Essen kacken. Marcel erklärt Akissi immer wieder geduldig, was man in der Pariser Schule sagt und was besser nicht. Ihre Hilfsbereitschaft, ihr Einfallsreichtum, ihre Klugheit und nicht zuletzt ihr Humor geben Anlass zur Hoffnung, dass Akissi es im zweiten Band schon ein bisschen leichter haben wird.
DINANETZ mit einem zuversichtlichen Ausblick auf die Reihe A Kissy aus Paris. Erschienen ist bisher Band 1 von Marguerite Abouet und Mathieu Sapin, aus dem Französischen von Sylph Bannenberg. Reproduktverlag ab 10 Jahren. Ein vierjähriges Kind stellt im Durchschnitt etwa 400 Fragen am Tag. Da sind viele banale dabei, aber auch viele tiefgehende, bei denen selbst die Bezugspersonen ins Nachdenken geraten.
Der Comic-Künstler Charles Berberien, 1959 geboren in Bagdad, ist vor allem für die in Zusammenarbeit mit Philippe Dupuy entstandene Reihe Monsieur Jean bekannt. Allein in Frankreich haben sich davon über 120 Alben verkauft. Darin bewegt sich der mit 30er Monsieur Jean durch seinen chaotischen Alltag zwischen Freiheitsdrang und Elternschaft.
Nun hat Berberien ein Bilderbuch veröffentlicht. Großwerden heißt es. Im Zentrum steht ein beinahe beiläufiges und dennoch verbindendes Gespräch zwischen einem fragenden Kind und einer geduldigen Mutter. Sigi Seuss hat sich das Buch angesehen. Was für ein schöner Tag. Ich bin so froh, heute mit dir hier zu sein. Eine junge, elegant, lässig gekleidete Mutter und ihr neugieriger Kleidersohn wandern durch einen betörend frühlingsfrischen Wald.
Sie trägt einen Strohhut und der Junge eine Baseballkappe. Mit einem abgebrochenen Ast in der Hand wirkt er wie ein wackerer Ritter, jederzeit bereit, sich und seine Mama gegen alle möglichen Waldgeister zu verteidigen.
Und so ganz nebenbei kommen die beiden ins Gespräch. Mama, heiraten Bäume eigentlich auch und bekommen Kinder, die dann groß werden? So ähnlich. Also ja oder nein? Ja und nein. Die kleinen Bäume kommen von den großen Bäumen, aber nicht so wie bei uns Menschen. Der französische Comic-Künstler Charles Berberion zeichnet mit kräftigen und zarten Aquarellfarben einen mächtigen Wald mit uralten Bäumen.
Selbst das Flirren des Sonnenlichts zwischen den Stämmen, im Wechsel von hell und dunkel, glaubt man vor den Augen zu sehen. Mitten in diese zauberhafte Welt des Waldes setzt der Illustrator Mutter und Kind. Zwei flott schwarz-weiß gezeichnete Comicfiguren. Beide werden von einem langschneuzigen Hündchen begleitet, das eifrig seinen eigenen Plan verfolgt. Die, natürlich vergebliche, jagt nach einem kleinen roten Vogel.
Die Mutter trägt ein Bündel mit einem Baumsetzling, den sie an einer lichten Stelle pflanzen möchte. Und warum pflanzt du einen Baum?
Weil ich Opa versprochen habe, einen Baum für ihn zu pflanzen, wenn er einmal nicht mehr da ist. Die naturfarbenfrohe Waldatmosphäre korrespondiert auf den meisten der jeweils gegenüberliegenden Seiten mit Schwarz-Weiß-Illustrationen des Geschehens, mit Szenen, die das Augenmerk des Betrachtenden eher auf den Dialog von Mutter und Sohn richten.
Daraus entsteht ein zauberhaftes Wechselspiel von Worten und Bildern, hinter dem weit mehr aufleuchtet als das simple Ereignis eines Spaziergangs durch die Natur. Jedes Bild scheint von der Einzigartigkeit des Augenblicks zu leben und gleichzeitig von den Kräften, die im Verborgenen wirken, vom Stetenwerden und Vergehen, vom Fluss des Lebens und der Zeit.
Der Künstler vermittelt dabei das Geschehen aus dem Blickwinkel eines spielerisch fragenden Kindes, das gleichermaßen neugierig und fasziniert die großen Geheimnisse der Natur bestaunt. Die Mutter hat dem Kleinen erklärt, wie die Bäume zu ihren Kindern kommen, wie ein winziger Spross zu einem Baum heranwächst. Das Opa-Bäumchen ist gepflanzt, die Sorgen des Sohnes sind fast zerstreut, bis auf die Frage, ob sich das Bäumchen nicht verlassen fühlt.
Im Wald ist ein Baum niemals allein. Um ihn herum wachsen ja überall andere Bäume. Ach so, der Wald ist wie seine Familie. Schon legt sich die Abenddämmerung über den Wald. Berberion malt sie wie einen Teppich aus ineinanderfließenden Farben über die Landschaft.
Von den letzten orange schimmernden Lichtflecken über matte Grüntöne und rosarote Himmelstreifen am Horizont bis hin zum Nachtblau, das sich langsam über Bäumen, Gräsern und Büschen ausbreitet. Bleibt für den kleinen Jungen nur noch eins zu sagen. Mama, ich hab jetzt Hunger. Sigi Seuss hat das Bilderbuch Großwerden vorgestellt. Von Charles Berberian. Aus dem Französischen von Anja Kurz. Aladin Verlag, ab 4.
Für ihren Jugendroman »Das Jahr, in dem ich Lügen lernte« wurde die US-Amerikanerin Lauren Walk 2018 mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet, für den Deutschen Jugendliteraturpreis war sie nominiert. Danach hat sie zwei weitere, viel beachtete Jugendromane herausgebracht. In ihrem aktuellen Buch kehrt Walk nun zum Setting und zu den Figuren ihres Debüts zurück. In »Der Sommer, in dem der Blitz mich traf« wirbelt ein Sommergewitter Annabels Leben durcheinander.
Verständigung auch ohne Sprache, Empathie und Vorurteile sind in diesem Jugendroman elementar.
Angela Sommersberg. Ein Mädchen wird vom Blitz getroffen und hat danach übernatürliche Fähigkeiten. Das klingt nach Superheldengeschichte oder Fantasy-Abenteuer. Doch Lauren Walks aktuelles Jugendbuch »Der Sommer, in dem der Blitz mich traf« lässt sich am ehesten als Entwicklungsroman einordnen. Es ist ein nachdenklich machendes Buch, das im Sommer 1944 spielt.
Die zwölfjährige Annabelle lebt mit ihrer Familie auf einer Farm in West-Pennsylvania. Auf dem Rückweg von der Schule gerät sie in ein heftiges Unwetter. »Starr vor Furcht stand ich noch da, als plötzlich die Luft um mich herum zu zischen begann«,
Es war, als wäre ich mitten in einen Wespensturm getaucht worden. In Sekundenschnelle stachen all diese Wespen gleichzeitig zu. In jedem Zoll meines Körpers, innen wie außen. Und alles, was ich spürte, waren der glühende Schmerz in meinem Kopf, das Gefühl einer schrecklichen Hitze, eine klaffende Leere in meiner Brust und die Schmerzen, die ich in meinem Körper hatte.
und das Gefühl, dass etwas zu Ende ging. Als sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht, trägt der Vater sie bereits ins Haus. Annabelle hat überlebt, doch etwas ist anders. Ihre Sinne sind schärfer als zuvor. »Die ganze Welt kam mir auf einmal verändert vor. So, als hätten die Bäume plötzlich entschieden, dass ihnen die Farbe Grün nicht länger gefiel.«
Als ob ich, so wie Alice, ein Wunderland betreten hätte, in dem ich, anders als Alice, größer war als je zuvor. Ein ganz neues Mädchen. Ein ganz neues Mädchen, das auch die Empfindungen von Tieren spüren kann, das versteht, was Vögel, Pferde und Kühe bewegt. Vor allem aber, wie es Hunden geht. Zwar kann sie nicht mit ihnen sprechen, sich aber so in sie hineinversetzen, dass sie genau weiß, wo die Tiere Schmerzen empfinden.
Anhand ihres Bellens kann sie Hunde auch auf weite Entfernung identifizieren. Dadurch findet Annabelle den verschwundenen Hund ihres Bruders wieder, so wie auch einige andere verletzte Tiere.
In ihrem aktuellen Roman kehrt Lauren Walk an das Setting ihres Debüts zurück. Schon in »Das Jahr, in dem ich Lügen lernte« spielen Annabelle und die Farm in Pennsylvania die Hauptrolle. Die Handlung setzt ein knappes Jahr nach Ende des ersten Buches ein. Und auch ein zweiter, bereits bekannter Charakter ist wieder mit dabei.
Andy, der ropige Junge von der Nachbarfarm, der damals gemeinsam mit einem neu zugezogenen Mädchen andere Kinder erpresst und verletzt hat.
Immer wieder verweist ich Erzählerin Annabelle auf diese Geschehnisse. Zu ihrem Vater sagt sie, Und wenig später, Trotzdem ist »Der Sommer, in dem der Blitz mich traf« keine klassische Fortsetzung.
Wer den 2017 erschienenen Roman nicht kennt, kann dieser neuen Geschichte folgen. Vielleicht sogar die Hinweise auf die Vorgeschichte als spannendes Element wahrnehmen. Eine fortlaufende Irritation bleibt jedoch, denn es gelingt Rock nicht, die vorausgegangene Geschichte komplett zu integrieren.
Stattdessen liest man zu oft vage Andeutungen, die nicht beantwortet werden. Somit werden die inneren und äußeren Verletzungen, die Annabelle durch Andy erlebt hat, für die Lesenden nicht greifbar. Diese Leerstellen sorgen dafür, dass das Nachfolgewerk nur in Kombination mit dem Vorgänger zu empfehlen ist.
Es scheint, als wolle Lauren Walk mit der aktuellen Geschichte ein neues Licht auf Andy werfen. Sie zeigt, wie ein Mensch von seinem Umfeld geprägt wird, vor allem wenn er Gewalt erfährt. Doch dass jeder sich auch weiterentwickeln kann. So steht der Nachbarsjunge Annabelle in verschiedenen Situationen bei und erweist sich als großer Tierfreund. Stück für Stück verändert sich Annabelles Bild von Andy.
Im Laufe der Geschichte verliert Annabelle ihre übernatürlichen Fähigkeiten wieder. Doch mit der Zeit erkennt sie, dass die Empathie, die ihr geholfen hat, die Tiere zu verstehen, schon vor dem Blitzschlag in ihr war. Dass sie sich auf ihren Instinkt verlassen kann. Dass sie Menschen, in dem Fall Andy, nicht nur anhand ihrer Vorgeschichte charakterisieren darf, sondern auch anhand der aktuellen Taten. Und dass jeder eine zweite Chance verdient. Irre,
Irgendwann gesteht Annabelle Andy,
Ich glaube, ich habe nicht genau genug hingesehen. Lauren Woke verfolgt diese Entwicklung ihrer Protagonistin aus großer Nähe. Ihre Sprache, hervorragend ins Deutsche übertragen von Birgit Kollmann, ist simpel in der Wortwahl, doch immer präzise, voller Bilder und Metaphern, die sich natürlich in die Handlung einfügen.
Walk lässt ihre jungen Lesenden in eine längst vergangene Zeit eintauchen, in der Kinder sich noch viel freier bewegen konnten. Sie beschreibt das Landleben voller Wärme und Zuneigung, die gepflegte Farm, die wilde Natur, die liebevolle Familie, die gemeinsamen Abendessen, jedoch ohne zu romantisieren.
Auch die Kalkheit und Abgeschiedenheit Pennsylvanias sowie die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs lässt sie mit nur wenigen Sätzen in diese Atmosphäre einfließen. Lauren Walk verhandelt große Themen wie Tierschutz, Menschlichkeit und Empathie. Es geht darum, Fehler machen zu dürfen und zu verzeihen, innezuhalten und zu überlegen, bevor man jemanden verurteilt. Und zu lernen, sich selbst zu vertrauen.
Das Fazit von Angela Sommersberg zu Lauren Walks Der Sommer, in dem der Blitz mich traf, aus dem Englischen von Birgit Kollmann, erschienen ab zwölf Jahren im Karl-Hanser-Verlag. Und damit verabschiede ich mich. Das waren die Bücher für junge Leserinnen und Leser. An dieser Stelle können Sie nächste Woche meine Kollegin Ute Wegmann hören, im Gespräch mit Michael Schmidt über unsere Deutschlandfunk-Bestenliste Die Besten Sieben im Juni.
Hier im Programm folgt jetzt Computer und Kommunikation. Mein Name ist Svenja Kretschmer. Ein schönes Wochenende wünsche ich mit viel gelungener Kommunikation.