1939 schickten ihre Eltern Peggy Parnass und ihren Bruder mit einem Kindertransport nach Stockholm. Die jüdischen Eltern wurden dann von den Nazis im Konzentrationslager Treblinka ermordet. Peggy Parnass kehrte nach Studium in Stockholm, London und Paris nach Hamburg zurück, machte sich in den 70er Jahren mit ihren Gerichtsreportagen in der Zeitschrift konkret einen Namen.
Sie arbeitete als Schauspielerin, Dolmetscherin, Sprachlehrerin, Journalistin und engagierte sich politisch für Gerechtigkeit und gegen das Vergessen. Ihre autobiografisch grundierten Bücher »Unter die Haut« und »Süchtig nach Leben« fanden große Beachtung. In »Kindheit«, das sich auch an Jugendliche richtet, erzählte sie bewegend von ihrem Aufwachsen im Dritten Reich.
Jetzt ist Peggy Parnas im Alter von 97 Jahren in ihrer Heimatstadt Hamburg gestorben.
Vor zehn Jahren hat meine Kollegin Ute Wegmann sie zum Interview getroffen. Zur Erinnerung wiederholen wir Teile dieses Gesprächs. Auf die Frage, warum sie nie fiktive Texte verfasst habe, antwortete Peggy Parnass damals. Ist überhaupt kein Grund, irgendetwas zu erfinden, weil das Leben spannend genug ist. Spannender als alles, was ich mir ausdenken könnte. Das reicht nicht.
Sie haben einmal geschrieben, Sie sind staatenlos geboren und Schwedin geworden, aber im Herzen sind Sie doch durch und durch Bewohnerin des St. Georgsviertels, eine Hamburgerin oder muss man sagen eine Europäerin? Europäerin oder Weltbürgerin.
Sie haben auch Unterschieden in einem Text zwischen den Verwandten und den Wahlverwandten. Kann man sagen, dass Ihre Freunde zu Ihren Wahlverwandten wurden und standen diese Freunde für Heimat und für ein Zuhause? Es sind ja um die 100 Verwandte, nahe Verwandte umgebracht worden. Also Eltern, Großeltern, Onkeln, Tanten, Vättern, Cousinen. Und die Menschen, die die Wahlverwandten sind, also meine Freunde,
Die mussten alles ersetzen und waren dadurch sicher sehr überfordert.
In Kindheit, da heißt es zu Beginn, ich hatte keine Kindheit. Und an anderer Stelle haben Sie mal gesagt, ich war uralt als Kind. Sie mussten sehr früh viel Verantwortung übernehmen für sich und für den Bruder sorgen. Sie waren elf Jahre, als Sie nach Schweden geschickt wurden von der Mutter mit dem Bruder zusammen. Er war vier. In Kindheit gibt es aber neben allem Traurigen auch viele schöne Erinnerungen. Vor allen Dingen...
An die Liebe zwischen den Eltern und auch an die Mutter. Ich habe die Erzählung als eine Art Liebeserklärung an ihre Eltern, vor allen Dingen an ihre Mutter gelesen. Ja, unbedingt. Absolut. Das ist wirklich eine bleibende, unauslöschbare Liebe. Sie war so wunderbar, so herrlich. Beide mit ihren Wuschelköpfen, mit ihren schwarzen Locken, mit ihrer Lebendigkeit. Sie sehr, sehr jung.
Und beide völlig verrückt nacheinander. Also sie hatten sich nicht irgendwie ein bisschen lieb oder gern, sondern es war doch eine Wahnsinn. Das ist bis heute für mich das absolut Schönste, aber das war eigentlich das einzig Schöne. Denn die Panik fing ja nicht erst später an. Solange ich denken kann, waren sie unentwegt, pausenlos in Panik, in Riesenangst, in Todesangst.
Sie wussten ja, was auf sie zukam. Und sie stellten Anträge überall hin, in alle möglichen Länder. Überall wurde es abgelehnt. Wir hatten gar kein Geld. Und bei uns war es immer sehr gemütlich und kuschelig. Und ja, die Liebe, die Liebe herrschte. Aber eben auch die Todesangst.
Die Liebe ist in diesem Buch Kindheit, in diesem Text ja sehr stark. Ich habe mich gefragt, ob Sie denn, obwohl diese Angst präsent war, aus diesem starken Familienbund, ob Sie daraus Ihre Kraft gezogen haben? Ich weiß es nicht. Ich empfinde es eigentlich nicht als Kraft, weil ich ja so süchtig danach bin. Ich bin liebessüchtig. Und das, was es an Liebe gab, das ist danach ja nie wieder irgendwo hergekommen.
Ich habe mich immer in Liebesgeschichten reingestürzt, also Kopf über rein, drauf losgelebt und habe nach der Liebe gejagt. Nee, das kann nicht glücklich machen. Woher kam denn Ihre Kraft, das alles durchzustehen, zurückzukommen nach Deutschland, so kämpferisch zu arbeiten, wie Sie das gemacht haben all die Jahre? Kämpferisch war ich schon als Kind. Meine Eltern waren Sozialisten-Mitglieder.
Sie hielten keine Vorträge darüber, aber sie haben ja so gelebt. Sie haben ja mit anderen und für andere und haben sich immer für andere eingesetzt. Sie waren auch sehr, sehr beliebt in unserer Straße. Und da lebten ja keine anderen Juden, wir waren die einzigen Juden. Aber die waren so beliebt, weil sie so waren, wie sie waren. So herzlich, so hilfsbereit. Ich habe nie darüber gesprochen mit niemandem.
Ich habe mich die ganzen Jahre intensiv mit dem Jetzt, dem jeweiligen Jetzt beschäftigt, immer versucht einzugreifen, da wo ich etwas als falsch empfunden habe. Das ist mir immer wichtig gewesen. Rückwärts kann ich ja nichts mehr ändern leider. Und was mich sehr, sehr getroffen hat und trifft, ist, dass so wenig sich verändert hat. Die Deutschen bemitleiden sich selber mehr als andere.
Glauben Sie nicht, dass die jüngere Generation der Deutschen einen anderen Blick auf die Geschichte hat? Doch die dritte Generation, ja. Die regt sich auf, sie nimmt teil, soweit sie überhaupt politisch interessiert sind, die Jugendlichen. Aber die zweite Generation, die wollte gar nichts davon wissen, hat alles beiseite geschoben. Die Lehrer haben das auch nicht zum Unterrichtsstoff machen wollen.
Weil sie ja wussten, wenn sie nicht ganz verblödet waren, dass ihre Eltern und Großeltern die Täter waren in den meisten Fällen. Ich kann Ihnen nicht mal verdenken, dass Sie davon nichts wissen wollten. Ich fühle mich privilegiert, wenn ich an meine wunderbaren ermordeten Eltern denke, die grundanständig waren. Und wenn ich mir vorstelle, wie man sich fühlen muss, wenn man so einen Pack zu Eltern oder Großeltern hat und die auch noch mögen soll, schon schlimm, nicht wahr?
Ich merke gerade, dass alles so negativ wird jetzt im Gespräch und ich lebe so gern, wahnsinnig gern und drauf los. Aber ich erinnere mich natürlich daran, ich konnte mit fünf schon lesen und da gab es den Stürmer, da waren überall sichtbar, groß an jeder Straßenecke, furchtbar Karikaturen und mit Warnungen vor uns, Juden, die Kinder fressen und
Die absurdesten Dinge, die aber für wahrgehalten wurden von der Bevölkerung. Und wir durften nichts. Da waren überall große Schilder. Also wir durften uns auf keine Parkbank setzen. Das war für Hunde und Juden verboten, stand dann drauf. Wir durften kein Eis essen gehen, war auch für Juden verboten. Ich weiß gar nicht, was nicht verboten war. Was hat Ihnen denn die Kraft gegeben, überhaupt in Deutschland zu bleiben? Die Illusion, dass sich was geändert hätte.
Eine Illusion geniert dadurch, dass so viele auf mich zukamen. Ich wirkte an der Uni wohl attraktiv auf andere Jugendliche, Deutsche. Ich lernte ungefähr als erstes Peter Rümkopf kennen und Klaus-Rainer Röhl, der später Konkret gründete. Und wir haben eine eigene Studentenbühne gegründet. Wir haben eine Wohngemeinschaft gegründet. Wir haben Kabarett gemacht. Rümkopf hat die Texte geschrieben, Röhl die Regie gemacht. Ich hatte immer die Hauptrolle.
Unser Kabarett hieß die Pestbeule und war ganz toll. Die Texte sind immer noch aktuell. Ja, und alle hatten so viel Humor. Also die waren tatsächlich Antifaschisten. Und ich war froh und glücklich, dass ich ganz nah um mich herum und an mir dran, die tatsächlich Linke waren. Ja, mit denen ließ ich gut leben. Haben Sie niemals daran gedacht, auszuwandern?
Ich wusste nicht, wohin. In Paris habe ich miterlebt, wie die Algerier verfolgt wurden. Ich habe miterlebt in London am großen Friedenstag am 8. Mai, wie es Gruppen aller Länder gab. Sie gingen alle glücklich und stolz und strahlend. Und dann kam ein ganz kleines jüdisches Grüppchen, vielleicht 30, 35 Leute zusammen.
mit der jüdischen Fahne, blau-weiß, und die wurden alle zusammengeschlagen von Engländern. Das ist für mich eine Lehre fürs Leben, denn bis dahin dachte ich, man müsste nur Deutschland platt machen, weg mit den Deutschen, dann ist die Welt ein Fest. Aber so einfach ist es ja leider nicht. Also auswandern, ich sehe keine Alternative.
Ralf Giordano, Publizist und Schriftsteller, war ein guter Freund von Ihnen. In einem Vorwort für Ihr Buch schrieb er, Ihr vorherrschender biografischer Aggregatzustand sei verheerende Verwundbarkeit. Ihre Offenheit haben Sie sich ja erhalten. Würden Sie sagen, Sie sind auch immer noch verwundbar?
Ja, leider, leider sehr. Aber genauso wie ich verwundbar bin und verzweifelt sein kann, bin ich auch so begeisterungsfähig. Also ich zerspringe ja zwischendurch auch vor Glück.
Es hält sich eigentlich die Waage. Mir ist gerade wieder angefangen, wie oft ich Grund habe, glücklich zu sein. Peggy Parnas, die Autorin, NS-Zeitzeugin und Aktivistin, ist im Alter von 97 Jahren gestorben. Sie hörten Auszüge aus einem Büchermarktgespräch aus dem Jahr 2015. Peggy Parnas Buch »Kindheit – Wie unsere Mutter uns vor den Nazis rettete« ist bei Fischer Sauerländer als E-Book erhältlich, empfohlen ab 12 Jahren.