Es wird schon nicht so schlimm. Hörspiel nach einer Novelle für einen Film von Hans Schweikart. In der Bearbeitung von Christine Nagel und Carsten Ramm. Heil Hitler, Herr Regierungsrat. Okay, noch mal von vorne? Heute wissen wir es.
Heute fassen wir diesen Sommer 1933 nicht und die Heiterkeit, mit der wir ihn erleben konnten. Den glänzenden Bergsee unter dem wolkenlosen Himmel, das kleine saubere Hotel und die Holztische zwischen den alten Linden am Ufer, die Schneegipfel auf der anderen Seite über dem Schwarzen Wald. Am Morgen kommt der alte Omnibus an, am Abend fährt er wieder ab. Das ist alles. Die Straße ist schlecht und stellenweise sehr steil. Die Eisenbahn ist weit weg.
Deshalb sind auch nicht viele Menschen hier. Sie haben sich der seltsamen Spannung der Städte entzogen, auf der Flucht vor ihrer eigenen Angst. Der See, die Sonne und der Berg machen es ihnen leichter, ihre schlimmen Ahnungen zu ertragen. Sie lassen sich in der Hoffnung bestärken. Sie glauben, glücklich zu sein. Sie sagen, das andere, was in den Städten auf sie wartet, wird vorübergehen. Es ist eigentlich eine kleine Künstlerkolonie.
Ein paar alte Münchner Maler mit ihren Familien, ein paar Schauspieler aus Berlin, ein Schriftsteller aus dem Rheinland und noch ein paar ruhige, anspruchslose Leute. Die wenigen Spießer sind noch zu übersehen. Das ist nicht zum Aushalten, sagt Lilli Holmann. Wir könnten heute mal auf einen Berg gehen. Meinst du zu Fuß? fragt Kurt Bechstein. Und der lange Gregor Maurer lacht und schüttelt seinen Kopf.
Es sind die drei vom Berliner Neuen Theater in ihrer letzten Ferienwoche, kurz vor der Rückreise zu den Proben. Sie reden fast nur vom Theater. Meistens vertragen sie sich. Wir hören, dass das Neue Theater, an dem sie alle drei engagiert sind, zwar keins der allerersten ist,
dass sich aber Kurt und Gregor, der Charakterspieler und der Held, in Berlin durchgesetzt haben und dass Lilly, die im letzten Winter zum ersten Mal vor dem anspruchsvollen Publikum der Hauptstadt aufgetreten ist, eine große Karriere zu erwarten hat. Kurt Bechstein ist der Älteste von ihnen. Sein kompliziertes, kluges, lebendiges Gesicht erweckt Vertrauen. Man kann gut mit ihm reden und sehr über ihn lachen.
Gregor Maurer, der große, langsame, einsilbige, ist sein bester Freund. Nicht so leicht zu erkennen aber ist die Beziehung, in welcher Gregor zu Lilli steht. Sie haben in diesem Winter zusammen gespielt. Seitdem sind sie unzertrennlich. Es wundert niemanden, dass sie gemeinsam in die Sommerferien gefahren sind. Dabei sind sie nicht übermäßig freundlich zueinander und Lilli ist in ihrer hellen, spöttischen, vitalen Art bei aller Beweglichkeit undurchsichtig.
Es ist eine wunderbare Kameradschaft. Wenn ich so umschreiben müsste, wie ich zu jemandem stehe und Kamerad sagen würde, würde ich was anderes denken als Freund, sondern eher sowas wie... Echt, ich finde Kamerad ist echt so, das macht man sich nur drüber lustig, weil das hat, finde ich, auch was eklig, eben was eklig Armeemäßiges. Ich denke bei Kameradschaft denke ich an Sport und bei Kamerad denke ich ans Militär. Es ist eine wunderbare Kameradschaft.
Es ist eine Freundschaft, eine wunderbare Kameradschaft, wie man damals sagte. Keinen... Keinesfalls ein Abenteuer. Das geht hier nicht. Und vielleicht lässt sich ihre Haltung damit erklären, dass sie sich vor einer Entscheidung scheuen, die ihr ganzes ferneres Leben bestimmen müsste. Obwohl dieser Sommer eine natürliche Vertraulichkeit zwischen ihnen entwickelt. Mit jedem Tage mehr. Kurt sieht mit gutem Lächeln zu. Da sind Blicke. Flüchtige Gesten. Mehr nicht.
Er übersieht auch nicht, dass sich Gregor im Geheimen quält. Aber er kennt seinen Freund und hütet sich, mit ihm zu sprechen. Und vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie nicht gerade jetzt, in dieser letzten Woche, Dr. Heinz Blum kennengelernt hätten. In der Gesellschaft des wendigen Rheinländers wird Gregor noch schweigsamer als sonst. Die gemeinsame vertrauliche Basis ihrer Gespräche hat sich verschoben. Er ist zu schwerfällig, das mitzumachen. Es war doch bisher so gewesen.
Eingesponnen in ihre Sphäre unterschätzten sie die Tragweite des neuen politischen Kurses. Sie waren sich einig darin, ihn zu verachten. Dabei hatte jeder von ihnen seine eigene Position, die den anderen bekannt war. Am deutlichsten erkannte Kurt die wachsende Gefahr. Er war entschlossen, die Konsequenzen nicht abzuwarten, sondern zu handeln, wenn es soweit sein würde. So sprach er nicht gern darüber.
Gregor, in seiner Gutgläubigkeit und Weltfremdheit, ahmte zwar unklar, dass sich etwas Dunkles, Unfassliches auszubreiten begann. Aber er wehrte sich mit allen Kräften gegen seine eigenen Befürchtungen und drängte auf Aussprachen, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Das ist doch alles Blödsinn. Wie lange kann sich das denn alles halten? Hört auf. Theater. Reden wir vom Theater. Aber jetzt kommt Dr. Heinz Blum dazu.
Und als sich wieder mal ein Disput erhebt, bei dem sich Lilly über Gregors Bedenklichkeiten lustig macht, stellt sich der neue Freund auf ihre Seite. Aber natürlich geht das vorüber. Ich verstehe gar nicht, warum ihr euch die Köpfe darüber zerbrecht. Das sieht doch alles nur am Anfang so schlimm aus. Die Scharfmacher überleben sich, das war immer so. Und überhaupt, ihr vom Theater. Das berührt euch doch gar nicht. Meint ihr denn, Deutschland ließe sich gefallen, dass ein Reinhard nicht mehr inszeniert? Dass ein Maler nicht mehr dirigiert?
Das wäre doch undeutsche Barbarei. Dem Schauspieler wird es unter allen Umständen großartig gehen. Das war historisch bei allen autoritären Regierungen so. Die Leute brauchen euch doch. An euch wird nichts herankommen. Verlasst euch drauf. Kurt und Gregor blicken sich an, aber Lilly hört es nur zu gern. Überhaupt gefällt ihr der junge Schriftsteller.
Heinz Blum ist der Sohn eines großen rheinischen Zeitungsverlegers. Er hat Jura studiert, seit seinem Doktor arbeitet er im Verlagshaus seines Vaters. Ein Roman, den er in der Berliner Illustrierten veröffentlicht hat, wird allgemein beachtet. Er ist vielseitig interessiert, voll Respekt vor dem künstlerisch Tätigen, ein hübscher Junge mit guten Manieren. Er ist auch viel sportlicher als Kurt und Gregor und sofort bereit, mit Lilly auf den Berg zu steigen.
Als es soweit ist und die beiden einigermaßen für die Tour ausgerüstet, sich in der Morgenfrühe verabschieden, ist Gregor sehr eigen zumute. Er sitzt mit Kurt auf der Terrasse und sieht dem Boot nach, das die beiden über den See zum Bergaufstieg bringt. Warum lässt du es dir gefallen? Das ist Lilis Sache. Was geht uns das an? Vor dem Tisch steht ein Mann in brauner Uniform mit seiner Frau. Entschuldigen Sie, sind die zwei Plätze hier noch frei? Der Mann in der Uniform nimmt seine Mütze ab
wischt sich Stirn und Nacken mit dem Taschentuch. Dabei sieht er sich Kurt genauer an. Der erwidert den Blick. Das scheint mir jetzt nicht der richtige Platz für uns zu sein. Lore, komm! Was ist los? Soll ich dem Kerl eins in die Fresse hauen? Das wäre ja noch schlimmer. Mach dir nichts draus, hörst du? Das nächste Mal werde ich derjenige sein, der aufzustehen hat. Die Sonne geht schon wieder hinter den Berg, als das Boot sichtbar wird. Gregor erblickt es zuerst.
Die beiden, die das Boot verlassen, staubig zerzaust und sonnenverbrannt lachen und albern und prahlen mit ihrer Bergbesteigung und machen sich über die beiden Zurückgebliebenen lustig. Es wird auch nicht anders, als sie nachher alle zusammen noch auf der Terrasse sitzen und Wein trinken, unter einem Nachthimmel mit unwahrscheinlich leuchtenden Sternen. Oder liegt in Lillys glücklicher Müdigkeit, in dieser ungewohnten Weichheit ihres Blicks, als er einmal Gregor streift, ein neues, fremdes Element?
Gregor spürt eine Ferne, die ihn tief verstört. Sie reden von dem und jenem. Gregor hält es plötzlich nicht mehr aus. Er steht auf, will noch ein bisschen herumlaufen. Ich bin sowieso müde. Ich gehe gleich schlafen. Gregor geht um den See. Es weht ein Föhn. Die Schatten über dem unruhigen Wasser, das warme Sausen in der Dunkelheit, die fiebernden Zweige vor dem Nachthimmel, die Schattenlinie des Berggipfels über dem See. Gregor erlebt schlimme Minuten.
Als er zurückkommt, will er durch den Garten zum Hintereingang und steht einen Augenblick unbeweglich. Im Schatten der Uferwüsche sieht er zwei, die sich küssen. So, Inhaltsfragen stellen wir jetzt nicht, ne? Schlimmer Minuten? Das habe ich irgendwie nicht verstanden. Weil er gemerkt hat, dass Lilly sich irgendwie auf einmal entfremdet hat. Und dann haut er ab, hat so ein bisschen Kopfkino und dann sieht er, wie die beiden dich noch knutschen. Alles klar, okay, jetzt verstehe ich auch. Ich will knutschen, sag mal kitzelselb. Da geht was bei denen. Oh!
Schläft Gregor noch? Hast du ihn gesehen, Kurt? Er ist schon früh mit dem Omnibus weg. Hier ist ein Brief für dich. Lies du. Seid nicht böse, dass ich so plötzlich abfahre. Ich mache mir Sorgen wegen der Stellprobe nächsten Montag. Fehrenbach schreibt, er kommt mit den Bühnenskizzen nicht weiter. Ihr kennt ihn. Wenn man nicht hinter ihm steht, rüttelt er herum.
Ich wollte keine Abschiedsszene, nächste Woche sehen wir uns ja sowieso. Ich kann meine Pfeife nicht finden. Wenn sie bei Kurt ist, soll er nicht vergessen, sie mir nachzubringen. Grüß den netten Blumen. Er muss es gemerkt haben. Sollte er denn nicht? Ich verliere den Besseren. Warum muss ich dich lieben? Sie haben noch vier Tage.
Das Leben zu dritt geht weiter, nur dass an Gregors Stelle Heinz Blum getreten ist. Heinz Blum hat eine Nachricht von zu Hause bekommen und deutet Veränderungen im Verlag an. Eine große Stellung, die ihn erwartet. Am letzten Abend machen sie einen Abschiedsspaziergang um den See. Was hast du, Kurt? Ich denke, ich werde diesen See nie wiedersehen. Du Trottel, was soll das? Ich zeig euch mal was. Juden? Unerwünscht. Sie werden es nicht leicht haben, Kurt.
Dann sind sie wieder im Hotel. Kurt muss was trinken, Lilly ist müde und Heinz begleitet sie auf ihr Zimmer. Prachtvoller Kerl, dieser Kurt. Schade, dass er nicht Aria ist. Gute Nacht. Was ist denn? Bleiben wir heute nicht zusammen? Ich bin traurig, lass mich heute allein. Wirst du es nicht bereuen? Bereuen? Dass du mich küsst. Du weißt doch, dass ich in der gleichen Lage bin wie Kurt. Warum... Warum hast du mir nie etwas davon gesagt? Ist das denn so wichtig für dich? Überhaupt nicht. Nein. Nein. Nein.
Frag doch nicht sowas. Nun will ich dich erst recht küssen. Morgen. Gute Nacht. Heinz Blum geht langsam die Treppe hinab und setzt sich zu Kurt auf die Terrasse. Er spricht hoffnungsfroh von seiner Zukunft, von den Möglichkeiten des Verlags. Hoffentlich will ihn der Staat nicht schlucken. Ach, glaub ich nicht. Und wenn, komm ich auch da unter. Ganz im Vertrauen, Kurt. Ihr Freund Gregor... Das ist ein guter Mensch. Vielleicht der Beste, der mir begegnet ist. Sie werden Lilly viel ersetzen müssen. Das weiß ich.
Und das will ich auch. Trotzdem? Ja. Trinken wir auf das "trotzdem". Ja, also der wird halt total wie der perfekte Schwiegersohn erstmal beschrieben. Ich finde schon, dass der ein bisschen Verdränger ist, wenn er so sagt: "Ja, ihr glaubt doch nicht wirklich, dass Rainer oder Mahler nicht mehr inszeniert oder Mahler nicht mehr dirigiert und so. Als Schauspieler hat man doch immer... das wird immer großartig sein und so. Die brauchen doch Leute wie euch." Und auch vor allen Dingen aus der heutigen Sicht denke ich so:
Schauspieler sind doch scheißegal. Das dachte ich jedenfalls gerade beim Lesen. Deshalb dachte ich schon, dass der ein bisschen verblendet auf mich wirkt. Ja genau, verblendet, aber eben nicht so böse. Also irgendwie wirkt es für mich so, als wäre der noch so voll mit Hoffnung und sagt so, ey, man soll keine Sorgen, wird alles. Im Omnibus am nächsten Tag haben sie wenig Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Aber ehe sie sich auf dem Münchner Hauptbahnhof trennen, nimmt Lilly Heinz beim Kopf und küsst ihn. Zum ersten Mal vor Kurt.
Dann fährt Heinz Blum ins Rheinland. Und Lilly und Kurt fahren nach Berlin. Eigentlich hat sich noch nicht viel im äußeren Bild verändert. Ein paar Häuser sind durch Fahnen als Parteisitze kenntlich. Und nur die an den kleineren Stationen einsteigenden Leute grüßen mit Heil Hitler. In Berlin haben die Proben begonnen. Fehrenbach, der Intendant, ist unsicher und nervös angesichts der neuen Situation.
Keiner weiß, was werden soll. Ich dachte, Sie hätten schon längst neue Richtlinien, sagt Gregor. Eine Versammlung des künstlerischen Personals findet statt. Ein Beauftragter des Propagandaministeriums spricht.
Wir sind Kameraden, nicht Kollegen. Geht mir mit dem alten Kollegialitätsbegriff. Die alte Bühnengenossenschaft, der gewerkschaftliche Gedanke hat innerlich und äußerlich versagt. Was ihr braucht und was ihr bekommen sollt, ist die Autorität, die euch halten und stützen wird wie nie zuvor. Ihr braucht keine Sorgen mehr um den Geschäftsgang zu haben. Ihr seid Künstler. Um das andere werden wir uns kümmern. Dem Redner dankt der Schauspieler Gallenkamp.
Der neue Fachschaftsfunktionär, ein früherer Offizier. Nach dem Appell finden sich einige der Kollegen im Konversationszimmer zusammen. Man bespricht die Rede.
Sehr zurückhaltend. Man prüft sich gegenseitig. Nicht jedem ist zu trauen. Nur Malchow, der junge Bühnenbildner, erklärt offen, die Rede sage ihm nichts, er hätte es vorgezogen, wenn der Herr sich präziser ausgedrückt hätte. Eine ältere Schauspielerin verwarnt ihn leicht, dabei lächelt sie immer freundlich. Ach was, sagt Malchow. Ich hätte zum Beispiel ja nie gewusst, wie sich der Mann zu Kurt Bechstein und Lilly Holmann stellt. Wann kommt denn die Holmann, fragt Garnkamp. Ich denke morgen. Hören Sie, Gregor.
Ich möchte sie keinesfalls verletzen, aber wir wollen als Arbeitskameraden doch ehrlich gegeneinander sein. Und kein Wort gegen die Holmann als Schauspielerin, aber wir dürfen uns nichts vormachen. Letzten Endes wird sie doch nun mal leider für das Theater untragbar. Malchow mit einem erschrockenen Blick auf Gregor versucht, Geilenkamp zu unterbrechen.
Aber der lässt sich nicht aufhalten. Und gerade heraus, wir wollen das nicht mehr hier. Was redet dieser Mensch eigentlich? Ist er verrückt geworden? Aber das ist ja nicht alles objektiv. Wir wissen ja, es hat persönliche Gründe. Eben nicht? Eben nicht, Sie Schwachkopf! Wenn Sie wüssten... Das werden Sie bereuen. Jetzt nehmen Sie ihn doch nicht so ernst, Gregor. Es wird schon nicht so schlimm. Abends sitzt Gregor in seinem Zimmer und liest. Aber seine Gedanken sind nicht bei dem Buch. Es klingelt.
Als er öffnet, stehen vor ihm zwei SA-Männer. Sie drängen ihn kurzerhand zurück in sein Zimmer und stellen ihn zur Rede wegen des heutigen Vorfalls. Was sie reden, ist lauter Unsinn um Schlagworte, unsicher und ungeduldig vorgebracht, um ihn ein Stichwort abzuzwingen, auf das sie handgreiflich werden könnten. Der eine hat sich vor die Tür gestellt, der andere vor das Telefon. Gregor nimmt sich zusammen. Seine Antworten sind vorsichtig und kühl. Das enttäuscht die Männer. Sie begnügen sich damit, die Bücher auf seinem Schreibtisch durcheinander zu werfen.
Dann drohen sie ihm. Er solle sich ja vorsehen. Sie verstünden keinen Spaß. Das nächste Mal würden sie kurz einen Prozess machen. Gewarnt sei er nun. Am Tage nach ihrer Rückkehr macht Lilly zwei Besuche. Zuerst geht sie in eine Tiergartenvilla. Da wohnt ihr Vetter Werner, der Bankmann, der über große Beziehungen zur internationalen Hochfinanz verfügt und immer ausgezeichnet unterrichtet ist. Was er in vorsichtigen Worten andeutet: Er haut ab. In wenigen Monaten dürfte er mit seiner Familie außer Landes sein.
Dann fährt sie nach dem Osten ins Arbeiterviertel, wo ihr Onkel Louis seit einem Menschenalter lebt und praktiziert. Der alte Sanitätsrat und seine muntere, weißhaarige Frau sind ihr seit dem frühen Tod ihrer Eltern Vater und Mutter gewesen. Hier kann sie sich aussprechen. Über diesen Sommer, über Gregor und den anderen Mann, den sie liebt. Wird er gut zu dir sein? Bring ihn mal her. Sie erzählt vom Vetter Werner und seinen Andeutungen. Für seine Person hat er ganz recht. Für alle Menschen seiner Art.
Aber wenn es wirklich so schlimm werden sollte, wie er denkt, dann darf ich ja gar nicht weg. Was soll denn dann aus meinen Patienten werden? Endlich hat Lilly Kraft genug, um ins Theater zu gehen und nachzusehen, wann die Probe ist.
Der Portier, der ihr Briefe aushändigt, die Kollegen, die sie in den Gängen trifft, alle begrüßen sie herzlich. Wir sind Kameraden, nicht Kollegen. Manchmal zu herzlich, denkt sie. Ferenbach, der Direktor, läuft ihr auf der Hinterbühne über den Weg. Lilly, ich werde Sie nächster Tage mal zu mir bitten, ja? Da ist allerhand zu besprechen. Kann ich mir schon denken. Ach, okay.
Wird schon nicht so schlimm. In der Garderobe stößt Lilly auf die Ankleiderin, die gute Frau Halwig, mit ihrer 18-jährigen Tochter. Na, Halwig, was wird denn nun mit uns? Was soll denn werden? Mein Mann ist Christ. Und das Mädchen? Geld kann man bei uns nicht holen. Und wenn sie frech werden, kommt Vater. Wozu war er Unteroffizier im Krieg? Gregor ist mit Kurt hinter das Kulissenhaus gegangen.
Sie sitzen auf den Treppenstufen und Gregor erzählt leise, was sich gestern ereignet hat. Sie denken an den jungen Berliner Schauspieler, den man im Frühjahr bei einem politischen Tumult den Schädel eingeschlagen hat. Auf einmal steht Lilli vor ihnen. Sie geben sich die Hände. Willst du nicht heute Nachmittag zum Tee zu mir kommen? Heute Nachmittag ist Sitzung beim Direktor. Wenn ich dich bitte? Gut, ich komme.
Aber als er am Nachmittag vor Lillys Haustor steht, einen kleinen Strauß in der Hand, trifft er mit Dr. Blum zusammen, der eben vom Flugplatz kommt. Blum fasst sich zuerst. Herzlich schüttelt er Gregor die Hand. Dann nimmt er den Zögernden beim Arm und führt ihn plaudernd die Treppe hinauf. Unbemerkt lässt Gregor das Sträußchen fallen, über das Treppengeländer in die Tiefe. Als Lilly die Tür öffnet, sieht sie zunächst nur Heinz Blum. Ich bin auch nur gekommen, um mich zu entschuldigen, äh...
Fehrenbach hat meine Absage nicht angenommen. Ich muss unter allen Umständen an der Sitzung teilnehmen. Es geht um die Zukunft des Theaters. Wie schade. Du könntest aber ruhig da bleiben. Er lächelt und geht. Während Heinz den für den anderen vorbereiteten Tee trinkt, plaudert er sprunghaft und mit unruhiger Zärtlichkeit. Ich bin unversehens nach Berlin beordert worden. Ich soll eine große, neu geschaffene Stellung übernehmen. Eine Art Presse- und Kulturorganisation. Heißt das...
Eine Staatsstellung? Ja. Weißt du, staatlich ist heute schließlich alles, wenn man es genau betrachtet. Die Organisation als solche wird natürlich vom Staat kontrolliert. Na, das ist mir ein bisschen unheimlich. Aber ich soll alle Vollmachten haben. Ich bin durchaus unabhängig. Aber das ändert doch gar nichts zwischen uns. Was würde man dazu sagen? Deine Verwandten zum Beispiel, wissen die schon was? Nee. Und wenn sie es erfahren, interessiert mich ihre Meinung nicht. Schön. Vielleicht werden wir vorerst ein bisschen vorsichtig sein, wenn es dir recht ist.
Wie günstig, dass deine Eltern im Ausland verstorben sind. Da lässt sich sicher irgendwas mit deinen Papieren zaubern. Willst du mal unsere Fotos sehen? Er entnimmt seiner Brieftasche die Aufnahmen, die er am Bergsee von ihr gemacht hat. Dabei fällt aus einem Fach eine Parteinadel heraus. Sie steht versteinert, kann nicht mehr atmen und er ist totenblass geworden. Also, ich wollte es dir nicht sagen. Es ist nämlich gar nichts. Eine reine Formalität. Du kennst mich doch. Würde ich dich sonst lieben?
Ich bin doch im Juristenbund. Wir mussten korporativ in die Partei eintreten. Für den Einzelnen hat das gar keine Bedeutung. Im Gegenteil, erst dadurch habe ich Einfluss, verstehst du? Ich kann auf diese Weise viel mehr durchsetzen. In unserem Sinne.
Als Gregor Fehrenbachs Wohnung betritt, fällt ihm der Direktor fast um den Hals. Oh Gott, großartig, dass Sie trotz Ihrer Absage kommen. Ich weiß mir gar nicht mehr zu helfen. Im Zimmer sitzt ein Rechtsanwalt in einer Mission vom Kulturdezernat der Stadt. Die Weisungen des Rathauses laufen auf ein Ultimatum hinaus. Es geht um die Kontrolle des Spielplans und des Personals. Verstehe schon. Das mache ich nicht mit. Dann gehe ich ab.
Wir wollen Ihnen die Verantwortung gerne abnehmen. Sie brauchen deshalb nicht abzugehen. Wir übernehmen das Theater und stellen Sie wieder an.
Natürlich auch Herrn Maurer, den wir mit einigen Vorbehalten wirklich schätzen. Lassen Sie sich keine grauen Haare wachsen, Fehrenbach. Mit den Privattheatern ist es sowieso bald aus. Sie werden alle staatlich oder städtisch. Was im Grunde dasselbe ist. Und was das übrige Personal anbetrifft. So sind es nur ganz wenige Mitglieder, die wir künstlerisch ablehnen müssen. Die könnten wir entlassen. Oder wenn das nicht gleich geht, bis zum Ablauf des Jahres nicht mehr beschäftigen. Wen zum Beispiel?
etwas verfrüht darüber zu reden, aber wenn Sie wollen,
Kurt Bechstein zum Beispiel. Also meiner Meinung nach ist das doch kein richtiger erster Charakterspieler. Und geht mir bloß mit eurer Holmann. Die ist rasend überschätzt, da finden wir schon Besseres. Und sehen Sie mal, die Stimmung des Publikums heute. Die beiden sind nicht ganz zeitgemäß sozusagen, nicht wahr? Das ist das richtige Wort. Spielen wir doch mit offenen Karten. Der Tatsache ins Auge zu sehen, ich werde nicht besetzt, nicht aus künstlerischen Gründen, sondern einfach, weil meine Herkunft eine Rolle spielt...
Und das aber eben vor ein paar Sekunden noch gar nicht der Fall war und das kann sich ganz schnell aus politischen Gründen wenden. Ich denke, dass so ein Regime immer dazu führt, dass man als Bürgerin oder Bürger in so eine wahnsinnige Passivität verfällt, weil du selber keinen großartigen Handumspielraum mehr hast. Naja, es ist ja ein System durch Menschen. Es sind ja Menschen, die so ein System am Leben halten.
Hör zu, wenn ich wüsste, dass du an mir zweifelst, dann schmeiße ich heute noch den ganzen Kram hin. Um Gottes Willen, die Verantwortung trüge ich nicht. Wir müssen vernünftig sein. Wir dürfen uns nicht verrückt machen. Du wirst sehen, das ist alles nur zu unserem Besten. Um Gottes Willen, ich muss fort. Die Leute warten seit einer Stunde auf mich. Morgen fliege ich nach Hause, in 14 Tagen komme ich wieder, dann bleibe ich ständig in Berlin. Und wir können uns dann immer irgendwo sehen. Das richte ich schon so ein. Jedes Wort trifft Lilly, aber sie bewahrt ihre Fassung.
Erst als sich die Tür hinter ihm geschlossen hat, versagen ihre Nerven. Und als sie sich blind an den Wänden entlang in ihr Zimmer tastet, tritt sie auf die Nadel. Sie schreibt einen Brief. Draußen ist Nebel und Regen. Nur mattes Dämmern der Straßenlampen. Gregor geht auf Lillys Haus zu. In der Besprechung beim Direktor, die mit scharfen Worten schloss, ist ihm klar geworden, dass Lilly in Deutschland mit keiner Karriere mehr zu rechnen hat. Er will sie sprechen. Wohlmöglich in Gegenwart von Dr. Blum.
Sie kommt wie eine Schlafwandelnde aus dem Haus, mit mechanischen Schritten, ohne ihn zu sehen, an ihm vorbei. Zum Briefkasten am nächsten Haus. Die Klappe fällt. Sie fröstelt. Geht zurück. Gregor drückt sich an die Mauer. Im Nebel gleitet ihr weißes Gesicht an ihm vorüber. Nass vom Regen oder von Tränen. Er spricht sie nicht an. Am nächsten Morgen, beim Frühstücken in seinem Hotelzimmer, liest Heinz Blum Lillys Brief. Die Nadel ist angeheftet.
Denkst du, ich brächte es fertig, dich so zu belasten? Er nimmt den Hörer ab und wählt Lillys Nummer. In diesem Augenblick betritt der Rechtsanwalt das Zimmer und Blum legt apathisch den Hörer auf. Kommen Sie, Doktor. Der Staatssekretär wartet nicht. Vor uns liegen große Aufgaben. Die Reinigung der Kultur auf allen Gebieten. Können wir gehen? Sieht so kahl aus. Wo haben Sie denn das Ding?
Lilly sitzt vor ihrem Telefon. Noch ist er in der Stadt, noch kann er nicht weg sein. Die Nacht war lang. Vielleicht hat er sich besonnen. Vielleicht ist diese grauenhafte Fremdheit von gestern gewichen wie ein Traum und alles ist wieder gut. Kindchen, kommen Sie bitte heute nicht auf die Probe. Ja, nein. Warum? Weil, machen Sie es mir doch nicht so schwer. Ich habe die Rolle umbesetzen müssen. Fragen Sie mich nicht, Kindchen. Die Zeit ist schlimm. Es weht ein scharfer Wind, aber er wird sich schon wieder legen. Danke. Danke.
Du weißt es schon. Der arme Fehrenbach. Kurt schreibt nach Zürich und Wien. Er will zugleich in deinem Namen anfragen. Nein, das soll er nicht tun. Ich bin noch nicht so weit. Ich werde Einspruch erheben. Ich bin ja auch gar nicht entlassen. Vielleicht... Ja? Kann sich Blum da nicht einschalten? Um Himmels Willen, das will ich nun mal gar nicht. Der hat so viel zu tun und überhaupt... Das nächste halbe Jahr.
Lillys verzweifeltes Bemühen, sich aus der Gefühlsverwirrung zu lösen, in die sie geraten ist. Gregor weiß mehr von ihrem Geheimnis, als sie ahnt. Der Trotz und die Scham, welche sie Gregors stetiger, ungebrochener Werbung entgegenzusetzen hat. Er weiß mit schmerzlicher Gewissheit, dass ihre Bindung an einen anderen Mann, verborgen im Unheimlichen, sie noch in den glücklichen Zeiten ihres Zusammenseins belastet.
Ihr Aufstand gegen sich selbst, als seine klare Haltung in der gemeinsamen Not sie immer enger zusammenbringt und ihre Angst, ihn in die Verstrickung ihres Lebens zu ziehen. Aber er baut unermüdlich ihr Leben auf, inneren und äußeren Gewalten zum Trotz. An der unmenschlichen Einsamkeit dieser Monate aber erlarmt ihr Stolz. Sie gesteht, es ist gut, bei ihm zu sein und ihn glücklich zu machen. Lilly hat den ganzen Winter nicht gespielt.
Jetzt, am Ausgang der Spielzeit wird, wie vorauszusehen war, ihr Vertrag nicht erneuert. Nun erst fängt sie an, an Agenten und Direktoren in der Schweiz und Österreich zu schreiben. Angesichts des Überangebots emigrierender Künstler bieten sich ihr geringe Chancen. Ohne Berufsaussichten aber will sie nicht fort. Soll ich mich von den Nazis zwingen lassen, bestenfalls Stubenmädchen in einem Schweizer Hotel zu werden? Alles ist tausendmal besser als das, was dich hier erwartet.
Sie stehen auf dem Fernbahnhof Zoo, die drei Freunde. Neben dem Zug, der Kurt in sein Wiener Engagement führen wird. Glaubt mir doch, ich weiß, warum ich auskneife. Bleibt nicht hier, bitte. Schlimmstenfalls können wir auch zu dritt von meiner Wiener Gage üben. Ich werde beim jüdischen Kulturbund spielen können. Onkel Louis ist ja auch noch da und viele unserer Freunde. Überhaupt, hältst du Wien denn für so sicher? Dann ist ihr einziger und bester Freund fort und Lilly und Gregor gehen stumm nach Hause.
Sie drängt sich an ihn. Wann heiraten wir? Du bist doch verrückt. Wir müssen es tun, Lilly. Ich bringe dir Unglück. Nein, ich liebe dich doch. Aber wir müssen doch nicht heiraten. Doch. Was wird, wenn wir ein Kind kriegen, Lilly? Gut. Sie heiraten. Ein Junge wird geboren. Die Nürnberger Ehegesetze werden erlassen. Mischehe. Ersten Grades.
Menschlichstes unter zoologische Begriffe eingeordnet. Durch Gregors künstlerische Stellung bleibt die kleine Familie vor persönlichen Unannehmlichkeiten so gut wie verschont. Sie verbergen sich, treffen kaum Freunde, leben in einer fiktiven Welt. Es gelingt immer seltener. Was täglich von außen hereindringt, was sie von anderen sehen und von anderen hören, ist bedrückend und oft herzzerreißend. Einmal auf dem Heimweg. Ein Aufmarsch sperrt minutenlang den Verkehr.
Fahnen, Musik, lärmender Gesang, Auflösung des Einzelbewusstseins. Die stockende Menge auf den Gehsteigen sieht stumpf zu. Sie sprechen mit Onkel Louis. Ich bleibe. Was soll aus denen werden, die nicht weg können, wenn wir aktiven Mutigen ausreißen? Was wird aus dir, wenn die aktiven Mutigen erschlagen werden? So weit ist es noch nicht. Und wer sagt euch, dass es nicht endlich mal besser wird?
Ein paar Tage nach diesem Gespräch wird Onkel Luis verhaftet. Eine Erklärung wird nicht abgegeben. Seine Frau erleidet einen schweren Herzanfall. Sie stirbt in Lillys Armen. Nach vier Wochen wird der alte Sanitätsrat wieder freigelassen. Abgezerrt, noch schweigsamer als sonst. Nie spricht er über seine Erlebnisse im Lager. So oft es ihm seine Arbeit erlaubt, steht er am Grab seiner Frau. Immer noch ist ihnen persönlich nichts geschehen.
Aber sie erleben, wie die Zeichen wachsen, die Überhebung auf der einen Seite, die Ohnmacht und Angst auf der anderen. Gregor Maurers Ehe ist seiner Karriere nicht eben förderlich, sagt man Fehrenbach von offizieller Stelle. Das beeindruckt Gregor weit weniger als Lilli. Sie fühlt sich unsagbar elend und verzichtet immer öfter darauf, sich mit ihm öffentlich zu zeigen. Sie geht nun noch nicht mehr ins Theater.
Nicht einmal, wenn er spielt. Sie wird nervös und reizbar, zieht ihn manchmal mit in die Depression. Er stürzt sich in seine Arbeit. Monatelang filmt er tagsüber, spielt am Abend. In den wenigen Stunden, in denen sie sich sehen, ist er abgearbeitet und unproduktiv. Er merkt meist nicht, was Lilly diese Stunden bedeuten.
Was sie berechtigt ist, von ihnen zu verlangen. Ihre Einsamkeit, die sie asketisch übertreibt. Die vielen Verehrerinnen, die ihn bedrängen. Oft ist Lilly zerfetzt vor Eifersucht. Sie verbirgt sie vor ihm. Er kann sich ihrer hysterischen Laune nicht erklären. Sie bedrücken ihn. Ihre Reizbarkeit steckt ihn an. Du hast mich überhaupt nur aus deiner dummen Anständigkeit heraus geheiratet. Nicht, weil du mich liebst, sondern weil du dich verpflichtet fühlst. Ich habe immer gewusst, dass du mich nicht so lieben kannst, wie du den anderen geliebt hast. Musik
1938, Österreich. Wien wird besetzt. Ein Brief von Kurt. Er bittet um Geld. Sie sehen alles vor sich. Wie Kurt mit den anderen nach dem Einmarsch die Straßen reinigen muss. Die Hysterie der Wiener auf den Straßen. Die jähe Verwandlung einer Stadt. Wie Kurt geschlagen wird und über den Fluss ins Ghetto ziehen muss.
An einem Herbstabend findet die Premiere eines Films statt, in dem Gregor eine Hauptrolle spielt. Bitte komm doch mit, Lilly. Komm diesmal mit. Ich will, dass du diesen Film siehst. Nicht heute, Gregor. Nicht zur Premiere, wo uns alle anstarren und wo ihr nachher alle zusammen feiern müsst. Warum solltest du nicht auch an der Feier teilnehmen? Frag doch nichts. Du weißt, wir müssen alles vermeiden, was provoziert. Ich gehe morgen oder übermorgen, wenn ich im Publikum nicht auffalle.
Du nimmst mir alle Lust. Ohne dich mag ich auch nicht gehen. Aber du musst doch. Das ist sehr wichtig. Du darfst nicht fehlen. Du sitzt in letzter Zeit sowieso jeden Abend hier herum. Das muss dir doch langweilig werden. Geh, sei vergnügt, das wird dir guttun. Wird Frau von Koch auch da sein? Ich weiß nicht. Möglich, ich denk schon. Warum fragst du? Greta von Koch ist eine geschiedene Frau. Reich und sehr schön. Sie verkehrt viel mit Künstlern. Man sieht sie bei jeder Premiere. Gregor sitzt mit Frau von Koch in der Loge.
Wo ist Lilly? Zuhause geblieben. Ihre alte Migräne. Sie lässt schön grüßen. Zuhause. Das Buch, in dem Lilly gelesen hat, ist aus ihrer Hand gefallen. Sie sieht starr in das Licht der Taschenlampe. Sie sieht auf die Uhr. Du, das war ein ganz großer Erfolg, dass du nicht da warst. Warst du zufrieden mit dir? Das weiß ich doch nie genau, ehe ich mit dir drüber gesprochen habe. Feiert ihr?
Macht's dir was aus, wenn ich noch zur Frau von Koch gehe? Ich bleib nicht lang. Bitte sag, wenn's dir nicht recht ist. Doch, ist mir recht. Ich bin sowieso schläfrig. Gute Nacht. Gute Nacht, Lilly. Ich komm bald. Sie räumt den Tisch ab, den sie für ihn gedeckt hatte. Gregor ist fröhlich, tanzt und trinkt. Gregor? Sie bleiben doch noch auf einen Cocktail. Ich sollte nicht. Also nur für ein Viertelstündchen. Warum lügt ihr beide?
Ich glaube keinen Augenblick an Lillys Migräne. Aber vielleicht habt ihr recht, es ist wohl ganz klug so. Ich bewundere ihre Haltung, Gregor. Das könnte nicht jeder. Dieses Eintreten für einen geliebten Menschen. Wie gefährlich ihr lebt. Und wenn ihr kein Kind hättet, würdet ihr euch dann anders verhalten? Nein, natürlich nicht. Ich meine, in Lillys Interesse. Wäre es denn nicht besser für sie, wenn sie zunächst mal in die Schweiz ginge? Gregor!
Mir könnt ihr nichts vormachen. Ihr quält euch jede Stunde. Herrgott, jetzt machen Sie es mir doch nicht so schwer. Er liebt Lilly. Er liebt sie doch über alles in der Welt. Aber es ist kaum zu ertragen, in dieser Zeit zu leben. Ohne Ablenkung. Mit Bewusstsein leben zu müssen, täglich ihrer Schrecken gegenwärtig zu sein. Keine Beziehung zu geistigen Dingen mehr haben zu können. Ohne Kontakt zu sein. Zugeschneit. Eingemauert.
Wenn er sich wenigstens betäuben dürfte, wie es alle anderen in ihrer Verzweiflung tun. Mal ausgehen, leichtsinnig sein, wenigstens für eine Weile alles vergessen. Warum tun Sie es denn nicht? Das geht nicht. Sie könnten es sich leichter machen. Sie bringen ein Opfer. Nein, ich liebe doch meine Frau. Wie wunderbar Sie sind. Sind Sie verrückt? Nein, nur ein bisschen betrunken. Das ist herrlich. Ich bin schrecklich betrunken. Entsetzlich grauenhaft.
Großartig betrunken. Jetzt küsse ich sie auch. Das sind Autos. So viele? So schwere? Lastautos. Sie schlagen den Juden die Fenster ein. Gregor rast los. Ohne Mantel, ohne Hut. Wild durch die gespenstischen Straßen. Trupps vor großen Läden. Endlich erreicht er seine Wohngegend. Sie ist menschenleer.
Keuchen stürzt er die Treppe hinauf. Nichts in der Welt wird uns trennen. Niemand wird dir und dem Jungen etwas tun, solange ich es verhindern kann. Und dann, Gregor? Dann wollen wir sterben, ja. Lili? Ja. Und dann kommt der Krieg. Er beginnt, indem die einen die Straße mit Lärm erfüllen, die anderen in ihren Zimmern wortlos am Radio sitzen. Die Lichter verlöschen. Dunkel breitet sich aus über Deutschland. Über Europa. Gregor wird eingezogen. Er. Er.
Der den Krieg hasst, wird Soldat. Im unheimlichen Dämmern dieser abgeblendeten Lampen auf dem Bahnsteig nehmen sie Abschied. Nun lässt er sie ohne Schutz zurück. Und wenn... Ich bleibe leben. Ich verspreche dir, ich bleibe leben. Der Hunger beginnt. Eines Tages steht sie mit dem Jungen in der langen Kette der Frauen vor der Tür des Gemüseladens. Stunden, Stunden. Der Junge langweilt sich und spielt Fußball mit einer leeren Schachtel. Haben Sie was von Ihrem Mann gehört? Ja.
Leider nichts Gutes. Oder doch, also wie man's nimmt. Er liegt mit Typhus im Lazarett. Aber er schreibt schon wieder selbst. Und nur, dass das Schlimmste vorüber und dass er nun außer Gefahr ist. Wozu dit allet? Der Wind hat die Schachtel auf den Fahrdamm getrieben. Der Junge springt ihr nach. Achtung! Der Junge liegt direkt vor der Stoßstange eines Autos. Er starrt vor Schreck. Während Lilly besinnungslos hinrast, ist ein blonder Mann aus dem Auto gesprungen und hat den Jungen aufgehoben. Tut dir was weh?
Na Gott sei Dank. Und Sie könnten auch besser aufpassen. Als er ihr Gesicht sieht, verstummt er. Auch sie wird totenblass, als sie ihn erkennt. Es ist so unwahrscheinlich, dass er vor ihr steht, getrennt durch alles, was in dieser Zeit geschieht. Lily. Sie reißt den Jungen aus seinen Armen. Wie geht es dir? Was hörst du von Gregor? Willst du mir nicht die Hand geben? Sie dreht sich langsam um, das Kind im Arm und lässt Blum stehen. Lily ist allein. Im Dämmer eines frühen Winterabends klingelt es.
Als sie öffnet, erschrickt sie vor der schäbigen Gestalt im dunklen Treppenhaus. Lässt du mich nicht rein? Das ist Kurzstimme. Sie zieht ihn rasch in die Wohnung, schließt die Tür ab, umarmt ihn. Sein vertrautes Gesicht. Unrasiert, abgezerrt, seine Augen tief in den Höhlen. Er scheint kleiner geworden zu sein. Sein Anzug ist zerlummt und schmutzig. Einen Mantel hat er nicht an.
Ihre Hände, die sich ineinander verkrampft haben, zittern. Du hast Hunger. Komm in die Küche. Er erzählt beim Essen, wie er in Wien verhaftet wird und in ein Lager gebracht werden soll, wie er einen Beamten besticht und beim Transport entflieht. Als er über Vorarlberg ins Schweizerische will, greifen ihn die österreichischen Gendarm auf und liefern ihn an Deutschland aus. Er soll nach Oranienburg. Es gelingt ihm, aus dem fahrenden Zug zu springen.
Mitleidige Bauern geben ihm Kleider. Gib mir bitte die Adresse von Onkel Louis. Er wird Leute kennen, bei denen ich mich verstecken kann. Das machen wir morgen. Jetzt musst du erst mal schlafen. Du fällst ja um vor Müdigkeit. Danke. Ich möchte aber lieber so bald als möglich wieder weg aus der Wohnung. Es ist doch zu gefährlich für dich. Das ist jetzt Nebensache. Nein. Ich weiß schon, warum ich das sage. Ich glaube, jemand hat mich gesehen heute Morgen auf dem Lehrter Bahnhof. Da ging ein Kollege an mir vorbei. Ein Kollege? Wer? Also, Gallenkamp.
Der? Hat er dich erkannt? Er sah mich nicht an. Ich bin nicht sicher. Herr Rhein. Heil Hitler, Herr Regierungsrat. Gar in Kampf, betritt das Zimmer. Sie sagten, es sei dringend. Da ich es eilig habe, schießen Sie los. Hinter dem Schreibtisch der jüngste Regierungsrat des Theaterreferats, Herr Dr. Heinz Blum. Weil es sich um einen früheren Schauspieler handelt. Ich wollte auch nur Ihren Rat in einem Gewissenskonflikt. Es handelt sich nämlich um einen Nicht-Arier. Um wen?
Ja, was wollen Sie? Reden Sie nicht so unklar rum. Ich habe heute Morgen auf dem Lehrterbahnhof jemanden gesehen, von dem es heißt, er wäre in Wien verhaftet worden. Was macht er dann hier in Berlin? Er wirkte wie ein Flüchtling. Wie soll ich mich nun verhalten? Kann ich es verantworten, den früheren Kollegen anzuzeigen? Natürlich. Worauf warten Sie? Ich bin doch kein Denunziant. Quatsch. Sie haben Ihre Pflicht als Deutscher zu tun. Keine Humanitätsduselei, bitte. Wie heißt der Mann? Er war früher bei uns am Neuen Theater.
Kurt Bechstein heißt er. Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen. Warum in Däubels Namen kommen Sie damit zu mir? Das ist Sache der Gestapo. Damit habe ich mich gar nicht zu befassen. Ich dachte nur... Ich dachte nur, weil wir...
Wird sowas nicht von der Theaterleitung begutachtet? Blödsinn. Und außerdem... Also wenn ich mal kurz so drüber nachdenke, was ich so für Rollen gespielt habe, fällt mir auf, dass es eigentlich immer einzelne Personen sind, die sich in Kontexten bewegen, die man sowohl als Opfer als auch Täter lesen kann. Und ich glaube, dass so eine Zerrissenheit von Figuren oder von einzelnen Personen in verschiedenen Kontexten mich interessiert, wie man sowas rausarbeiten kann und in welche Richtung man dann sowas rausarbeiten kann. Also so Entscheidungen treffen.
Und außerdem, warum kommen Sie erst jetzt damit? Sie hätten ihn gleich heute Morgen auf den Bahnsteig verhaften lassen sollen. Nun wird er sicher über alle Berge sein. Vielleicht ist es tatsächlich zwecklos, jetzt noch eine Meldung zu machen. Naja, ich meine, wenn man nach ihm forschen wollte, ich könnte mir schon denken, wen er hier in Berlin aufsuchen würde, wenn er sich hier verbergen wollte. Er hat hier gewisse Freunde, die selber in speziellen Umständen... Hören Sie auf! Was fällt Ihnen denn ein? Melden Sie das gefälligst bei der zuständigen Stelle. Tun Sie, wozu Sie sich verpflichtet fühlen. Ich habe hier weiß Gott Wichtigeres zu tun.
Natürlich bleibst du hier! Du kannst in diesem Zustand doch nicht noch eine Nacht im Freien verbringen. Hier sucht dich niemand. Sie kommen.
Sie schauen zum Fenster hinauf. Der mit dem großen Hut ist Gallenkamp. Versteck dich! Sie würden mich finden, dann seid ihr mit mir verloren. Dass die Wohnung keinen Hinterausgang hat! Ich renne in den obersten Stock, versuche du sie in der Wohnung zu halten. Vielleicht gelingt es mir dann auf die Straße zu kommen. Er ist schon auf der Treppe, huscht nach oben. Lautlos schließt sie die Tür hinter ihm. Es klingelt. Sie öffnet die Tür.
Sie wünschen? Ja, entschuldigen Sie, gnädige Frau, eine unangenehme Sache. Sie kennen mich doch noch nicht. Ist ein gewisser Bechstein bei Ihnen? Bechstein? Meinen Sie den Schauspieler Kurt Bechstein? Ja, genau der. Ich denke, der ist in Wien. Sie scheinen nicht zu wissen, dass Bechstein gesucht wird, weil wir... Halten Sie hier keine Reden. Sie behaupten also, er wäre nicht hier. Bitte lassen Sie uns rein. Haussuchung. Wenn's sein muss. An der verschlossenen Wohnungstür vorbei hastet Kurt die Treppen hinab.
Unten ruhig am wartenden Auto vorbei. Er verliert sich unter den Menschen im kalten Dunkel der Straßen. Ich warne Sie, wenn der Mann sich zeigt, haben Sie sofort Meldung zu erstatten. Entschuldigen Sie, gnädige Frau, es ist mir rasend unangenehm, aber... Sie haben sich nicht zu entschuldigen. Kommen Sie. Am nächsten Abend erscheint Onkel Luis. Du kannst ruhig sein. Er ist in einem Vorort draußen bei guten Leuten. Gib mir nur etwas Geld für ihn, wenn du kannst. Und wieder ist Lilly ein wartendes Glied in der Kette. Vor der Tür Nummer 19 der Kartenverteilungsstelle.
Markenausgabe für nicht-arische Familienmitglieder von Militärpersonen. Vorne an der Schranke steht Frau Halwig mit ihrer Tochter. Kaum wiederzuerkennen, beide. Abgehärmt, bleich, in schwarzer Kleidung. Der Name? Halwig, Oranienburger Straße 12. Zweimal. Halwig, Oranienburger Straße 12. Warten Sie mal. Ihr Mann ist doch gefallen, was? Dann kommen Sie noch her?
Sie wissen doch, dass Sie nicht mehr zu dieser Stelle gehören. Ein Uniformierter nimmt Frau Halwig am Arm. Nee. Bitte. Was wollen Sie von Mutter? schreit das Mädchen. Ruhe. Keine Dummheiten.
Da ihr Vater nicht mehr am Leben ist, wird die Frau verschickt. Lassen Sie Mutter los! Das dürfte Ihnen ja bekannt sein. Seien Sie froh, Freundin, dass Sie da bleiben dürfen. Lassen Sie Mutter los! Schreien Sie nicht so! Das Mädchen klammert sich heulend an die halb ohnmächtige Frau. Sie wird mitgezerrt ins Nebenzimmer. Sie stehen alle wie Wachsfiguren. Die Tür fällt krachend zu. Weiter, weiter. Das hat ja keinen Zweck. Der Nächste, bitte. Wein doch nicht, Mutti. Der Vati ist ja noch nicht tot. Der kleine Junge presst Lillys Hand. Musik
Es wird Frühling und Gregor kommt wieder nach Hause. Als arbeitsverwendungsfähig aus dem Lazarett entlassen. Arbeitsverwendungsfähig, das heißt, das Theater kann ihn nun reklamieren. Lilly vergisst alles, was sie erlebt hat. Alles, was noch kommen kann. So versunken ist sie in das Glück, ihn bei sich zu haben. Fehrenbach begrüßt ihn stürmisch. Großartig, dass Sie wieder da sind. Wir sind alle stolz auf Sie, Gregor.
Natürlich kriegen Sie Ihren Vertrag. Ich brauche Sie ja, wie es Liebe brot. Und das Promi hat angerufen. Man erwartet Sie auch da. Ich weiß nicht wer, Theaterabteilung. Gehen Sie am besten heute noch hin. Guten Tag, Gregor. Bitte, setz dich. Komm, rauch eine Zigarette. Eine englische. Kriegsbeute. Du warst im Feld. Ich beglückwünsche dich dazu. Die Arbeit hier ist furchtbar. Unerträglich. Seit Monaten melde ich mich an die Front.
Sie lassen mich aber nicht weg. Ich bin froh, dich wiederzusehen. Hat Lilly dir erzählt, dass wir uns mal getroffen haben? Hör zu. Es ist eine schlimme Sache. Ich habe mir die Erlaubnis ausgewirkt, selbst mit dir reden zu dürfen. Eben weil es so schlimm ist. Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, dich persönlich davon zu unterrichten und mit dir zu beratschlagen, was am besten zu tun ist. Was meinst du, Heinz? Ich weiß nicht, ob du schon davon gehört hast. Himmler hat jetzt auch für den Kultursektor gewisse Befugnisse erlangt. Das heißt, es gibt Fälle, in welchen unser Dr. Goebbels machtlos ist.
Das ist eine dumme Geschichte. Du weißt ja, wie ich zu Lilly stand und stehe. Wir müssen sehen, wie wir aus der Sache herauskommen. Ihr wollt mich nicht mehr auftreten lassen. Ich fürchte, du missverstehst mich. Deshalb rede ich ja mit dir. Nimm doch die Zigarette. Ich habe schlaflose Nächte hinter mir. Glaubst du, es fällt mir leicht, hier vor dir zu sitzen? Also, Auftrittsverbot? Wie du willst. Nächster Tage soll eine Anordnung ergehen.
Personen, die in Misch-Ehe leben, verlieren ihre Zugehörigkeit zur Kulturkammer. Also, genau das, was ich sagte. Du bist nicht der Einzige. Allein in Berlin haben wir am Theater einen Dutzend solcher Fälle. Na, das weißt du ja wohl. Was gedenkst du zu tun? Ich denke, du wolltest mir raten. Das tue ich. Es gibt nur einen Rat. Lass dich scheiden. Ich danke dir sehr. Wie stellst du dir die Zukunft meiner Familie vor? Daran ist gedacht worden. Wir haben uns weiß Gott den Kopf zerbrochen.
Diese Fälle am Theater sollen anders behandelt werden als sonst üblich. Sei also beruhigt. Die geschiedenen Frauen, zumal wenn sie Kinder haben, kommen weder nach Theresienstadt noch sonst in ein Lager. Das glaubt der Doktor durchsetzen zu können. Wir sind dabei, bestimmte Abmachungen zu treffen. Die Frauen sollen nämlich alle in Italien untergebracht werden. Ich weiß schon. Und eines Tages wird es kein Aufsehen mehr machen, wenn meine Briefe sie nicht mehr erreichen würden. Schämst du dich nicht, Heinz? Bist du verrückt? Sollen wir dich nebenan hören? Ja!
Solmann, wie kommst du dazu, mir so einen gemeinen Vorschlag zu machen? Du nutzt unsere Freundschaft aus. Ich verbitte mir dieses. Du vergisst, dass ich als dein Vorgesetzter vor dir stehe. Vorgesetzter? In diesen Dingen gibt es nur die Autorität des Charakters, nicht die des Vorgesetzten. Voll Teufel. Hast du Angst, ich würde dir an die Kehle springen? Brauchst nicht auf deine Klingelknöpfe zu drücken. Ich beschmutz mir meine Hände nicht. Das wäre wohl alles. Auf Wiedersehen an der Front. Gregor weiß, dass alles nun zu Ende ist.
dass alle Opfer umsonst gebracht waren. Im wirren Zug seiner Visionen sieht er, wie er in ein Arbeitsbataillon eingereiht wird, wie Lilli delegiert wird, wie man sie von dem Kind trennt, ihren Abtransport mit 30 Kilogramm Gepäck, der Güterwagen ins Ungewisse, das Tor des Lagers, Stacheldraht, Wachtposten, sein Gesicht nass von Schweiß, seine Augen glänzend fiebrig. Lilli weiß alles, als sie Gregor sieht. Sie ist die Ruhige. Nun ist es soweit. Ja, Liebster. Es ist alles ganz einfach.
Sie gehen umschlungen durch die kleine Wohnung. Der Junge liegt schon im Bett. Es ist alles ganz einfach. So wenig mehr zu tun. Und eigentlich schon vorbereitet. Beide sind heiter und klar. Sie fühlen ihre Liebe, die größer ist als alles, was sie in der Welt kennengelernt haben. Gregor setzt sich zum Schreiben an den Tisch. Nur die kleine Lampe brennt. Es ist sehr still. Lebt wohl, liebe Freunde. Lilly und der Junge schlafen schon. Neben ihm liegt eine Glasröhre mit Tabletten. Halb leer. Wir sind nicht traurig. Vergesst das nicht.
Es ist alles ganz einfach. Gregor geht an die Tür und blickt lange ins Schlafzimmer. Auf die beiden unbeweglichen, ruhig atmenden Gestalten. Und vergesst auch nicht, dass wir selber schuld waren. Haben wir nicht immer gesagt, das geht vorüber? Gregor schließt die Wohnungstür ab. Auf dem Zettel draußen steht: "Vorsicht Gas!" Ihr werdet das bessere Leben führen, wenn ihr wisst, dass nichts vorüber geht. Gregor verstopft Fenster und Türen. Führt den vorbereiteten Gasschlauch bis ins Schlafzimmer. Vielleicht sterben wir nicht vergebens.
Vielleicht überlegen es sich die Herren noch einmal, ehe sie weitergehen. Die Totengräber schaufeln am offenen Grab einen Wagen mit drei Särgen, zwei großen und einem kleinen. Wahrscheinlich werden sie euch verbieten, uns auf dem Friedhof zu begleiten. Das ist ja auch ganz gleich. Ihr steht ja immer bei uns. Die Sirene geht. Die Männer blicken zum Himmel, werfen fluchend ihre Schaufeln auf die Erde und hasten weg. Der Wind fegt über den leeren Ort.
Darf ich deinen Text lesen? Nein, nichts geht vorüber. Es kommt auf jeden Augenblick an. Die Verantwortung ist immer da. Der Kampf darf nie aussetzen. Gegen die Müdigkeit, gegen die Nachgiebigkeit, gegen die Zugeständnisse, aus denen sich das Netz weben ließ, in dem sich ein ganzes Volk fing.
Gegen die Eigenliebe. Gegen die Selbstzucht. Gegen die Launen. Gegen die leicht Beruhigten. Gegen uns selbst. Gegen dich. Du. Es wird schon nicht so schlimm.
Hörspiel nach einer Novelle für einen Film von Hans Schweikart in der Bearbeitung von Christine Nagel und Carsten Ramm. Mit Manuel Bittorf, Paulina Bittner, Franziskus Claus, Robert Pflanze, Tim Freudensprung und Linda Blümchen. Musik Peter Ewald. Ton Nikolaus Löwe und Benjamin Ino.
Regieassistenz Felix Lehmann. Regie Christine Nagel. Dramaturgie Juliane Schmidt. Eine Produktion des Rundfunk Berlin-Brandenburg 2019.