Deutschlandfunk, Büchermarkt. Die Webseite lyrikline.org ist ein seit vielen Jahren etabliertes Portal für Poesie. Mehr als 15.000 Gedichte von 1.700 Autorinnen kann man dort abrufen, außerdem fast 25.000 übersetzte Gedichte von 3.800 Übersetzern.
Das Projekt, getragen vom Berliner Haus für Poesie und zahlreichen auch internationalen Partnern, will Lyrik zugänglich machen. Und zwar nicht bloß als Text, die Gedichte sind alle auch hörbar, gelesen in der Regel vom Autor. Es gibt verfilmte Gedichte, Dichterinnen im Videoporträt und so weiter.
Jetzt kommt ein weiterer Inhalt hinzu und der interessiert uns hier für die Bücher für junge Leserinnen und Leser. Auf kinder.lyriklein.org gibt es seit diesem Frühjahr auch Kindergedichte. Katharina Schultens leitet das Berliner Haus für Poesie, das auch diese Seite betreut. Und ich habe sie gefragt, Frau Schultens, die Lyriklein-Seite wurde ja damals eingerichtet mit Blick darauf, dass sich Lyrik, wie es dort heißt, in einer gewissen Schräglage befinde, dass es ihr an Wahrnehmung mangele.
Die Kinderlyrik hingegen erlebt ja gerade einen gewissen Boom. Warum bekommt auch sie jetzt Platz auf Lyriklein?
Also uns war ganz wichtig, dass hier in den verschiedenen Sprachen, das sind ja mehr als zehn Sprachen, in denen man diese Gedichte dann hören kann, die Kinder auch selber einfach was entdecken können mit einem kindgerechten Zugang. Weil diese Gedichte, die wir jetzt auf dieser speziellen Website für Kinder haben, die waren vorher alle auch schon auf der großen Schwester, also der normalen Lyric Line, aber eben nicht so, dass die Kinder die da unmittelbar hätten finden können. Und das Schöne an dem Projekt ist eben, dass es nicht...
nur in Anführungszeichen die spezialisierten Kindergedichte sind, also die klassischen Kinderbuchautoren, jemand wie Paul Marr oder Christine Nöstlinger, die wunderbare Kindertexte geschrieben haben, sondern dass wir versucht haben, bei den in Anführungszeichen Autorinnen und Autoren für Erwachsene die Gedichte zu finden, die sich für Kinder eignen.
Also Gedichte von Mascha Kalliko, die geeignet sind, dass ein Kind zwischen acht und zwölf das Gedicht lesen oder hören kann. Gedichte von jemand wie Martina Hefter, die letztes Jahr den Buchpreis bekommen hat. Oder Jan Wagner, einem der wichtigsten deutschsprachigen zeitgenössischen Lyriker.
Aber natürlich Friederike Mayröcker, Ernst Jandel, Robert Gernhardt, die Klassiker oder Inga Christensen, wichtige dänische Dichterin, die einfach ganz tolle Sachen geschrieben hat, die sich für Altersgruppen außerhalb sozusagen der Erwachsenen eignen, weil wir die Kinder natürlich beobachten.
frühzeitig an die Lyrik ranführen wollen. Es gibt Kategorien auf der Website. Also man kann natürlich schauen, kann sagen, okay, ich möchte jetzt lustige Gedichte lesen oder ich möchte Tiergedichte lesen oder ich möchte Gedichte lesen, die spielerisch mit der Sprache umgehen. Aber es gibt zum Beispiel auch Kategorien Gedichte über Mut oder Kummer im Gedicht oder
Und obwohl es sehr viele Lehrerinnen und Lehrer gibt, die sich da weiterbilden und die sich sehr viel Mühe geben, das so zu machen, dass es auch Spaß macht, gibt es halt immer noch in der Schule einen sehr analytischen Zugang zu Lyrik. Also dass man Lyrik kennenlernt in der fünften, sechsten Klasse als etwas,
wo man dann ein Schema drüber legt und sich anschaut, welches Reimschema hat das und welche Metaphern sind da und was bedeutet das dann. Und mein großer Sohn, der selber so einen naturwissenschaftlichen Zugang zu den Dingen hat, der kam dann nach Hause und sagte, ja Mama, ich habe jetzt verstanden, was du da den ganzen Tag machst auf der Arbeit. Das ist ja ganz einfach mit den Gedichten. Da nimmt man sich dann so ein Schema und das legt man da drüber und dann hat man das Gedicht verstanden. Da habe ich gesagt, nee.
Du hast das Gedicht dann analysiert, aber das heißt noch lange nicht, dass du es verstanden hast und die Frage ist ja sowieso, ob man es überhaupt verstehen sollte oder müsste. Also dieser emotionale Zugriff auf den Text, der sich natürlich durchs Hören auch nochmal sehr viel mehr ergeben kann, als durchs reine analytische Lesen, der war uns hier einfach ganz wichtig.
Sie haben gerade schon gesagt, es richtet sich vor allem dieses Lyrik-Kleinportal für Kinder an Kinder von acht bis zwölf Jahren. Aber gerade jüngere Kinder haben doch auch viel Spaß an gereimten Texten. Warum kommen die Texte für jüngere Kinder nicht vor? Dadurch, dass es mehrsprachig ist, es ist alles Mögliche dabei, es ist arabisch, türkisch.
Litauisch, Deutsch, Englisch, alle möglichen Sprachen, dann ist es, wenn die das in der fremden Sprache hören, natürlich wichtig, dass sie die Übersetzung, die immer mit dabei ist, mitlesen können. Es ist aber natürlich möglich, auch für jüngere Kinder, dass sie sich einfach die Gedichte, die dann auf Deutsch da vorhanden sind oder in ihrer eigenen Sprache, wenn jemand eine andere Sprache als Deutsch zur Verfügung hat, da dann auch direkt anhören können. Es ist eigentlich ältere Grundschule und
Und für die jüngeren Kinder, die brauchen dann schon eine Vermittlerin, Vermittler. Also die können die Webseite dann noch nicht direkt selber nutzen im selben Maße wie jemand, der dann schon flüssig lesen und auch navigieren kann. Obwohl die Navigation sehr, sehr gut gemacht ist. Das hat Andreas Töpfer gestaltet. Es ist bunt. Es gibt Figuren, die dann immer zu diesen einzelnen Kategorien passen, die sich auf der Seite dann auch irgendwie bewegen.
Das ist schon einfach so, dass es tatsächlich Spaß macht, darauf sich zu bewegen. Selbst acht-, neunjährige Kinder, ältere Grundschulkinder suchen jetzt aber wahrscheinlich nicht von selbst ihre Seite auf. Wie wollen sie denn ihre Zielgruppe überhaupt erreichen? Also wir sind in einer Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek, dem Lyrikkabinett und dem Deutschen Bibliotheksverband und geben da seit vielen Jahren die Lyrik-Empfehlungen heraus und seit letztem Jahr erstmalig auch die Lyrik-Empfehlungen für Kinder.
Da werden sozusagen elf Lyrikbände ausgesucht, aufbereitet. Da gibt es Handreichungen zu. Die gehen in die Schulen, in die Erzieherausbildungsstätten, in die Lehrerausbildungsstätten. Das heißt, da erreichen wir sozusagen die Zielgruppe derjenigen, die Literatur, Sprache vermitteln in Kita und in Schule.
Und die weisen wir natürlich auch auf die Kinderlyriklein hin. Das heißt, als Lehrerin oder als Lehrer oder als Erzieherin, Erzieher kann man diese Webseite halt auch einfach als Ressource begreifen, wenn man was Lustiges machen möchte in der Schule oder der Kita. Im Moment, Frau Schultens, ist die Auswahl auf dem Portal ja noch recht klein an Gedichten. Wenn ich mir allein die von Ihnen schon erwähnten Lyrik-Empfehlungen für Kinder anschaue, dann fehlen da eine Menge Namen. Wie geht es jetzt weiter mit dem Ausbau des Portals? Es soll ja mehr hinzukommen.
Ja, also wir werden da kontinuierlich weiter daran arbeiten. Ich kann vielleicht an der Stelle mal dazu sagen, dass die allgemeinen Kulturkürzungen für sowas nicht hilfreich sind. Sie haben ja eben aufgezählt bei der großen Lyric Line, wie viel da tatsächlich einfach an Material drin ist. Also wie viele tausende Aufnahmen, das sind zehntausende Aufnahmen, das nutzen pro Jahr 2,5 Millionen Menschen weltweit. Das ist eine wirklich richtig große Reichweite, die wir da haben. Und jetzt kann ich mal sagen, wie die Ressourcen dafür aussehen. Das ist eine Person, die das im Backend macht.
Das heißt, wir werden hier weiter so viel daran arbeiten, wie wir können. Aber das ist ein wichtiger Punkt, den Sie ansprechen. Also dieses, das dann zu erhalten und irgendwie weiter zu pflegen, ist halt was, wofür man nicht unbedingt Projektgelder kriegt. Und daran hakt es natürlich bei solchen Projekten leicht, gerade in einem Klima, wo allgemein dann eher Geld weggenommen werden soll und gekürzt wird.
Frau Schuldens, kommen wir mal zu einem zentralen Aspekt von Lyric Line, der das Portal auch unterscheidet von einem Gedichtband, nämlich das Hören. Die Gedichte sind dort ja zu hören, in der Regel aufgenommen von der Autorin, vom Autor. Und deswegen hören wir mal in ein Gedicht einfach rein. Das ist von Nora Gommringer, Daheim. Daheim.
Mama und Papa und Kind und Kindschwester und Kinderbruder und Kinderonkel und Hoppe Hoppe und Falle Falle in den Grab und Gefressen von Raben und Angesabbert vom Hund und Meerschwein und seine kurzen Beinchen verschwinden im Schlund und Gelber Vogel im Käfig und Nachbar und Nachbars Frau und Putze und Putzes Mann und Mamas Lover und Papas Blonde und Papas Blondes Helles und Mamas Tabletten und Hundes Hitz und Nachbars Katze und Idylle in der Reihe.
Das Gedicht Daheim von Nora Gommringer. Jetzt sind nicht alle vortragenden Dichter und Dichterinnen auf Lyriklein natürlich so geniale Performerinnen wie Nora Gommringer. Was würden Sie sagen, Frau Schultens, was bringt es denn generell zusätzlich zum Text, dass man auf ihrer Seite Gedichte hören kann?
Es ist einfach ein Unterschied, übrigens auch dazu, wie jetzt beispielsweise ein Schauspieler oder eine Schauspielerin so einen Text lesen würde, die überperformen solche Texte oft. Man hat die Stimme der Person, die diesen Text geschrieben hat und man lernt diesen Text anders kennen, weil man einfach einen Menschen sprechen hört. Also man hört jemandem beim Denken zu.
Und bei Nora Gomringer zum Beispiel bekommt man einfach wahnsinnig viel Energie. Das ist ja eine Naturgewalt, wie sie liest und wie sie performt. Wenn man dann jemanden lesen hört, der einfach sehr viel ruhiger ist, dann bekommt man vielleicht Skepsis oder man bekommt vielleicht Angst.
Zärtlichkeit, die vermittelt wird, auch über eine Stimme. Und einem Menschen beim Denken über dessen Stimme zuhören zu können, finde ich eine ganz wertvolle Sache, weil man darüber auch nochmal lernt, wie unterschiedlich Sprache als Ausdrucksmittel sein kann. Und dass Sprache eben nicht nur ein Mittel ist, um Informationen zu
zur Verfügung zu stellen, sondern dass die Art und Weise, wie wir sprechen, was wir sprechen, mit uns als Person, mit unserem Charakter, mit unserem Denken zu tun hat. Und das ist für Kinder ganz wichtig. Sprache ist dein Ausdrucksmittel. Auf der Erwachsenenseite von Lyriklein gibt es ja auch viel Videomaterial und heutige Kinder, die sind natürlich bildaffin. Ist denn in diese Richtung auch etwas geplant?
Also im Moment nicht, weil wir finden, es gibt zu viel Bild. Es ist auch eine Überforderung, gerade jetzt beispielsweise auf TikTok, wenn immer das Bild dazukommt, weil das Bild natürlich teilweise auch einfach die Inhalte überlagert. Wir gehen eigentlich jetzt gerade eher wieder zurück auf Hörformate, auf Podcast-Formate und versuchen sozusagen diesen inneren Raum, der sich öffnet, wenn man einfach nur zuhört, den wieder stärker zu aktivieren.
Ich kann vielleicht fürs Bild noch darauf hinweisen, dass wir natürlich in anderen Formaten, zum Beispiel mit Filmen und mit Bildern, mit Lyrik arbeiten. Wir haben ja das Zebra Poesie Film Festival und da gibt es eben auch eigene Kinderprogramme. Da gibt es sogar eine Kinderjury, die den besten Poesie-Film für Kinder auswählt. Wir decken diese ganze Bandbreite ab, aber bei der Kinder Lyrikline geht es erstmal tatsächlich darum zu hören.
Ist denn, Frau Schultens, auch für die Kinderlyriklein-Seite eine so ausgedehnte Zusammenarbeit mit internationalen Partnern geplant, wie bei den Erwachsenen? Ja, also natürlich. Wir bekommen ja regelmäßig Gedichte von den internationalen Partnern rein und da schauen wir natürlich jedes Mal, ob da Gedichte dabei sind, die sich für die Kinderlyriklein eignen.
Aber das ist tatsächlich eine Ressourcenfrage, wie viel wir da leisten können. Ich bin sehr froh, dass wir es jetzt in diesem Umfang schon mal hinbekommen haben. Und wir werden das sicherlich nicht verkümmern lassen. Dafür ist das Projekt einfach zu schön und hat auch tatsächlich schon Begeisterung ausgelöst bei vielen Vermittlerinnen und aber auch bei den Kindern, die bei uns regelmäßig im Haus sind, zu Kursen und zu Workshops und so. Katharina Schultens, Leiterin des Berliner Hauses für Poesie.