Deutschlandfunk Büchermarkt
Am Mikrofon Jan Dries. Ich begrüße Sie zu einer Sondersendung aus dem österreichischen Klagenfurt, wo seit vorgestern und bis zum morgigen Sonntag die 49. Tage der deutschsprachigen Literatur stattfinden. 14 Autorinnen und Autoren lesen unter anderem um den Bachmann und den Deutschlandfunkpreis. All diese Preise werden am Sonntagvormittag verliehen. Die Lesungen haben nun stattgefunden. Wir haben alles gehört.
Wir sitzen nun, und nicht wie sonst stehen, wir sitzen nun vor dem Aufnahmewagen, vor dem Ü-Wagen des Deutschlandfunks. Wir, das sind meine Kollegin Wiebke Poromka, ich grüße Sie. Schönen guten Tag. Und vom SWR Baden-Baden, Carsten Orte. Hallo.
Heute haben vor der Jury gelesen Nora Osagio-Bare, Almutina Schmidt, Tara Meister und Boris Schumatzki. Wir haben heute etwas bessere Bedingungen, Wetterbedingungen als noch vor zwei Tagen. Es ist ein wenig angenehmer hier in Klagenfurt, aber wir haben uns hingesetzt, denn es waren schon durchaus anstrengende Tage.
Wir haben gesagt, wir reden heute mal über alle vier Texte und wir reden darüber, wie die Jury über diese Texte gesprochen hat. Also Meta-Meta-Kommunikation, aber wir machen es unterhaltsam. Also bleiben Sie die kommenden 25 Minuten bei uns. Beginnen Sie mit uns mit Nora Osagio-Bahre.
mit Daily Soap vor wenigen Wochen ihren Debütroman bei Kein und Aber vorgelegt. Eine Geschichte, die Alltagsrassismus mit Boulevardmedien verbindet. Kurz umrissen, als das Familienunternehmen Banal und Bodeca einem heftigen Shitstorm ausgesetzt ist, soll eine Reality-Show das Business retten mit einer Sendung, in der ausschließlich schwarze Darsteller auftreten.
In Klagenfurt, jetzt heute, blieb Osagio Bahre im gesellschaftskritisch inszenierten Trash-TV-Kosmos und das klang dann so. Daughter Issues. Väter, die ihre Töchter vernachlässigen, gibt es wie Sand am Meer. Sie vergessen Geburtstage, machen Überstunden und verbringen das Wochenende in einer Bar. Manche holen sogar die berühmt-berüchtigten Zigaretten und kehren nie zurück.
Was geschieht, wenn wir einem Vater eine Million anbieten, unter der Bedingung, den Kontakt zu seiner Tochter für immer abzubrechen? Wird er durch das Geld zum ersten Mal erkennen, wie sehr er seine Prinzessin wirklich liebt? Oder wird er danach greifen, ohne mit der Wimper zu zucken? Wir finden es heraus in Daddy Issues – Die schlimmsten Väter der Welt.
Ich atme zum ersten Mal tief ein und aus und kröne meine Präsentation mit einem frisch gebleachten Lächeln. Die fünf um den Konferenztisch sitzenden Männer blicken mir entgegen wie ruhende Wachhunde. Ich bin geübt darin, die Stille in einem Raum richtig einzuschätzen. Deshalb weiß ich auch, dass ich gerade den nächsten Reality-Hit gepitcht habe.
Ein Ausschnitt aus dem Text von Nora Osagio-Bahre. Heute zur Eröffnung des dritten Tages hat sie diesen Text gelesen. Was ist das für eine Geschichte, Wiebke Koromka? Im Grunde ist in diesem Ausschnitt schon realisiert,
relativ viel, ich würde fast sagen alles dieses Textes klar geworden. Es gibt ein gesellschaftlich relevantes Thema, wie auch schon in dem Debütroman der Autorin, da war es Rassismus. Hier sind es Väter, die ihre Töchter vermeintlich oder die ihre Töchter vernachlässigen als ein
Natürlich eine gesellschaftliche Diagnose, die sehr wohl von Relevanz ist und das wird überführt in eine oder soll überführt werden in ein Reality-Format, um das sozusagen nochmal zu beweisen, wie so quasi Dschungelcamp-mäßig, welcher Vater nimmt dann doch das Geld und welcher entscheidet sich für seine Tochter.
Und Texte, die so auf einer Idee beruhen, haben ja oft das Problem, und das hat, finde ich, dieser Text auch, dass es dann im Grunde beim Durchdeklinieren dieser Idee bleibt. Und es ist vielleicht nicht zu viel gesagt, dass dieser Text im Grunde auch so ein bisschen funktioniert wie so eine Vorabendserie oder so ein Trash-Format. Es gibt noch einen Dreh am Ende, der natürlich all das dann nochmal in sein Gegenteil verkehrt. Wir haben es dann nämlich, das ist auch nicht so viel verraten, wahrscheinlich mit einem Text,
sehr wohl, sehr zugewandten Vater zu tun, der eher der Leidende in einer Familienkonstellation ist. Und das ist dann so ein bisschen die Auflösung am Ende. Das war doch ein sehr eindimensionaler Text, würde ich sagen. Und ich finde ihn auch ein bisschen ärgerlich insofern, als es ja wichtig ist, über solche Themen zu sprechen, aber eben nicht auf diese Weise. Es ist ein Text, der...
unterschiedlich angekommen ist, auch bei der Jury. Nach jeder Lesung wird über den jeweiligen Text gesprochen. Wenn Sie wiederum diesen Text lesen möchten, auf der Seite des Bachmann-Preises sind all diese Texte hinterlegt.
Gesprochen in der Jury hat natürlich auch Brigitte Schwenz-Harrant. Die haben wir hier noch gar nicht gehört in den letzten Tagen und deshalb machen wir das jetzt. Die Kollegin Brigitte Schwenz-Harrant zu Nora Osagio-Bahre. Bitte sehr. Ich verstehe die Einsetzung der Bildwelt aus einem Film auch ganz.
die nämlich weitergeht, nachdem dieses Filmkonzept vorgestellt wird, geht es eigentlich weiter wie in einem Film. Das hat mich am Anfang, muss ich sagen, gestört. Es wird, wie gesagt, immer wieder aufgebrochen. Aber ich finde, dass die Sprachwelt teilweise an allen Stellen dann so klischeehaft bleibt. Also zum Beispiel, dass die Tränen auf die Tischplatte kullern, war mir dann schon zu viel und auch
wie das Herz da hüpft und dass der Grölanfall kommt und dass man theatralisch schlucht, da gibt es dann bei so Stellen, da weiß ich nicht genau, ob sich das nicht auch mit dieser Bewegung im Text hätte wegbewegen müssen zu einer anderen Sprache, damit ich rauskomme. Das tut es meiner Meinung nach nicht. Ich hoffe, ich habe das jetzt nicht zu kompliziert gesagt, aber ich hätte da ein paar Einwände.
Die Einwände von Brigitte Schwenz-Harrant heute in der Jury-Diskussion. Carsten Otte, können Sie diese Einwände teilen? Ja, absolut. Wie Bromka hat das vorhin schon gesagt, dieser Text, der in einem, ich würde mal sagen, Frauenmagazin-Style gehalten ist, strotzt vor unglaublich ausgestellten Vergleichen. Da gibt
Es gibt einen Blick, der so schwer ist wie ein Rucksack. Ein Herz hüpft wie ein übermütiger Raver. Ein junger Landsmann ist so frisch wie eine importierte Mango. Und so könnte ich immer weitermachen. Dieser Text ist sprachlich...
Sehr, sehr einfach gestrickt. Es ist so etwas wie ein literarisches Malen nach Zahlen. Am Ende spielen auch Drogen eine große Rolle. Da wird dann eine Line Koks gezogen und ich dachte, naja, vielleicht sollten wir das auch mal ausprobieren und dann Literaturkritik auf Koks machen.
Wir probieren das nicht aus, sondern wir haben von der Buch Wien hier stehen alkoholfreie Cocktails. Die Buch Wien wirkt hier mit dem schönen Satz, der Meister bringt Margaritas. Almutina Schmidt, 1971 in Göttingen geboren, las mit fast...
Eine Geschichte, den dritten gegenwartsdiagnostischen Text dieses Bewerbs nach dem unmittelbaren Vorgänger, Daughter Issues von Nora Osagibare und Josefine Riecks Dinner Freitagabend des gestrigen Tages. Die ignorante Ich-Erzählerin berichtet zwar von einer anderen Frau, von Martina, und kreist dennoch ausschließlich um sich selbst. Das merkt man sofort. Wir hören mal kurz hinein. Fast eine Geschichte.
Ich hatte nicht gewusst, dass Martina Rettungsschwimmerin war. Die Kinder planschten in der Elbe, boden unter den Füßen, aber die Wellen wurden höher. Ich wäre kaum fähig gewesen, ein davontreibendes Kind aus der Strömung zu holen. Martina teilte meinen Respekt vor dem Fluss, trotz Rettungsschwimmabzeichen, von dem ich bei dieser Gelegenheit ganz beiläufig erfuhr. Jahre zuvor hatte ich sie im Treppenhaus sagen hören, wenn man was tun könnte. Und nun war sie Rettungsschwimmerin und fand nichts dabei.
Die Sonne stand bereits schräg, die Kinder hüpften und schrien, Martina knifft die Augen zusammen, blinzelte an mir vorbei in Richtung Wasser. Hier wird viel aneinander vorbeigeblinzelt in dem Text von Almutina Schmidt. Wir haben den Anfang gehört. Wie geht es denn weiter, Herr Orte?
Vielleicht muss man von der weg sagen, dass es sich hier um so eine Art Erzählmosaik handelt. Da werden eine ganze Reihe von beinahe Geschichten hintereinander gestellt, ineinander verflochten. Ort des Geschehens ist ein Mehrfamilienhaus, ich glaube in Hamburg, wenn ich das richtig verstanden habe, jedenfalls irgendwo an der Elbe.
Und damit ist auch schon das erzählerische Strukturprinzip vorgegeben. Es gibt viele Nachbarn, die mal deutlicher, mal schemenhafter porträtiert werden. Da ist etwa, wir haben es gerade gehört, Martina, die offensichtlich Rettungsschwimmerin ist und da ist Sibylle, von der wir ziemlich am Ende des Textes erfahren, dass sie schwer krank ist. Es gibt...
Viele Alltagsschilderungen mit Beziehungsproblemen. Es werden gemeinsame Ausflüge geschildert, aus denen dann eben doch keine Freundschaften entstehen. Und das ist eigentlich das Thema dieser Erzählung. Die Nachbarn ringen um Nähe, bleiben aber auf Distanz. Und im Mittelpunkt gibt es eine Ehegeschichte, die auch von Entfremdung handelt, weil nämlich die Eltern von Care-Arbeit erschöpft sind. Oft werden die Probleme dann nur angedeutet, um sie dann wieder schnell wegzuwischen. Ein zentraler Satz in diesem Textgeflecht lautet folgendermaßen.
Kaum hatte ich etwas begriffen, war es auch schon nicht mehr wahr.
Jurymitglied Thomas Stressle ist Literaturwissenschaftler, ein ordentlicher Professor, so nennt man das. Und deshalb ist es ihm nonchalant gelungen, Almutina Schmidts Sache einzuordnen. Bitte sehr. Es ist wirklich eine traditionsreiche literarische Methode. Und wenn ich für einmal hier eine Referenz an die Schweizer Literatur machen darf, dann noch eine männliche, aber ich mache es trotzdem. Es ist ein bisschen Peter Bixl Extended.
Peter Bixl hat sehr viele Texte geschrieben, wo es genau um die Frage geht, was ist eigentlich eine Geschichte? Es gibt einige Texte, das sind dann ganz kurze Texte von Peter Bixl, der übrigens vor ein paar Monaten gestorben ist, kann man ja auch nochmal erwähnen, wo es dann am Ende heisst, ob das eine Geschichte ist, Fragezeichen.
Und das hier ist eine ganze Auslegeordnung an Mikrodramen, die aber alle irgendwie zusammenhängen, weil die Leute ja im selben Gebäude wohnen, wo man sich immer fragt, ist das eigentlich jetzt schon eine Geschichte? Und diesen Punkt haben sie eigentlich in dem Titel ganz klar aufgegriffen. Oder fast eine Geschichte oder eben fast eine Sammlung, eine Fast-Sammlung von Fast-Geschichten.
Da hört man den ausgeruhten Schweizer Thomas Stressle, der redet über Peter Bixl. Er erklärt aber gar nicht, wer Peter Bixl ist. Wir reden derzeit viel in der Branche, auch im Sender über Schwellenabbau, auch in der Literaturkritik.
Wo positioniert sich denn dieser Bachmann-Preis? Also für wen ist das etwas? Ist das etwas, was alle hören können oder ist diese Einlassung von Thomas Stressle doch schon wieder typisch für eine Art von Literaturbetrachtung, die...
höchst avanciert genannt werden kann. Ja, André, ich gucke Sie jetzt fast ein bisschen verwundert an und überlege, ob Sie das jetzt wirklich, diesen Kommentar von Thomas Stressler, als eine hohe Schwelle bezeichnen würden. Er nennt einen Namen, Peter Bixl. Er macht auch einen kleinen Kontext auf und sagt, es ist ein Schweizer Schriftsteller gewesen, ist der gerade verstorben ist. Er erzählt sogar etwas über das Schreiben von Peter Bixl. Und für all jene, die Peter Bixl nicht kennen,
bereitet er ein paar Anknüpfungspunkte. Und das Interessante ist doch, wenn man etwas hört, was man nicht gleich in voller Gänze schon selbst überhaupt weiß, dann guckt man nach, dann informiert man sich, dann hat man einen Anker und geht dem nach. Und wenn wir sozusagen nur das reproduzieren würden, was andere schon wissen, oder ich nur das hören würde, was ich schon weiß, da wird doch mein Interesse sofort aufhören. Ich finde, genau das ist auch
auch die Qualität, um jetzt zu Ihrer Frage zu kommen, dieses Wettbewerbs, dass der natürlich für alle zugänglich ist, die sich interessieren und die bereit sind, ein Interesse aufzubringen. Und ein Interesse ist natürlich auch immer oder zumeist mit einer gewissen Mühe verbunden, sich nämlich dem, was man da hört...
mit dem sich zu beschäftigen. Ich würde dem anschließen wollen und sagen, das Gute an den Tagen der deutschsprachigen Literatur ist ja gerade die Niederschwelligkeit. Wir alle haben die Texte in der Hand. Wir sitzen im Garten oder im Studio, wir können das alles nachlesen und wir reflektieren das auch immer wieder. Ein Text ist ein Gesprächsangebot und natürlich ist es auch so, dass man am Abend weiterspricht
über all die vorgetragenen Werke. Und wenn man mal einen Namen noch nicht kennt, dann ist das in der Tat die Aufforderung nachzulesen. Ich sehe das auch als ein äußerst niederschwelliges Angebot. Der Jurist Carsten Otte über das, was ich gesagt habe als Anwalt des Teufels. Und Sie haben natürlich vollkommen recht. Jeder kann das hier hören. Jeder kann dem folgen. Jeder kann sich danach informieren.
Wir haben, glaube ich, relativ großen Spaß. Wiebke Poromka versucht gerade nicht allzu laut zu lachen und hält das Mikrofon schon weg. Während wir uns also hier allerhand lustige Gedanken machen und ich mir auch Gedanken mache, ob das, was hier stattfindet, teilweise zu hermetisch sein könnte. Seien wir mal ehrlich, es gibt Professionen, die sind wesentlich komplizierter als die Literatur. Wir haben hier den promovierten Physiker Thomas Bissinger gehört und heute an diesem Tag Tara Meister, auch eine Doppelbegabung, diese Frau,
Sie ist Schriftstellerin und sie ist Gynäkologin und macht gerade ihren Facharzt. Sie hat gelesen und zwar nicht nur gelesen, sondern größtenteils aus dem Kopf vorgetragen, Wakashu. So heißt ihr Coming-of-Age-Text und der spielt an auf jene im alten Japan der Edo-Zeit verwendete Bezeichnung für einen adolescenten Jungen. Und das klang so. Wakashu oder das verletzte Kitz.
auf einem der Nachbarshöfe. Es hatte im Feld gelegen, der Bauer hatte es nicht gesehen, hat es mit dem Meer angefahren und ihm ein Bein abgetrennt. Sie legten das Reh in eine Kiste und in die schmale Nische zwischen Herd und Tür. Wir Kinder durften es füttern, eine Weile lang. Wenn ich die Erwachsenen fragte, was mit ihm passieren würde, schwiegen sie. Ein Tier mit drei Beinen ist kein Tier mehr. Irgendwann war das Kitz verschwunden.
Hier wird bei Tara Meister ein Kitz in eine Kiste gepackt. Und zwar ganz anders als bei Ferdinand Schmalz, der hier ja auch schon gelesen hat und in seinem Reh-Ragout-Text von einem toten Rehkitz gesprochen hat. Was ist das für ein Text, Wiebke Koromka? Das ist ein Text, der sich in der Kiste befindet.
Das ist ein Text über sexualisierte Gewalt, über Versehrtheit und eben eine Versehrtheit nicht nur dieses Rehs, das steht ja wie ein Bild am Anfang, sondern die Versehrtheit weiblicher Körper. Das ist ein Text, der in einer ländlichen Region spielt.
in dem immer wieder gesagt wird, die Mädchen gingen auf die Felder und kamen vielleicht aus diesen Feldern nicht zurück. Das ist auch immer so ein bisschen in fast einem Märchenton gehalten. Dann aber wieder sehr konkret. Es geht um Mädchen, die aufgefordert werden, sich beim Rausfahren mit dem Traktor auf die Schöße der Fahrenden zu setzen, also Gewalt aufzunehmen.
Erfahrungen, sexualisierte Gewalterfahrung in jungen Jahren, in der Jugendlichkeit. Und jetzt probiert diese Erzählerin, sich das Vermögen der Zärtlichkeit, der Lust an der Sexualität zurückzuerobern.
Und damit ist es ein Text unserer Zeit, denn es ist wahnsinnig schwierig in unserer heutigen Zeit der Pornografisierung und unserer Zeit der Boulevardisierung überhaupt noch so etwas wie Unschuld zu finden. Und anders als bei Almutina Schmidt ist die Frauenfigur hier auch keine Rat- und Rastlose, keine, die allein um sich kreist, sondern stattdessen eine, die eine Idee hat von dem, was Care-Liebe ist. Das hat mich wahnsinnig berührt, auch erinnert.
an das biblische Hohelied, an den mittelalterlichen Minnesang. Aus der Ferne hört man Heinrich Heines Loreley und selbst die Butterblume kann noch als Hinweis auf Dublin gelesen werden. Klaus Kastberger, der Juryvorsitzende, sagte in der Diskussion, Naja, es ist natürlich klarerweise ein Text aus der Geschichte der Empfindsamkeit. Mir macht dieser Text um diese Empfindsamkeit, die ja eine sehr, sehr lange Tradition hat, gerade auch in der Literatur, eigentlich zu viel Theater-
Diese Zärtlichkeit ist für mich eigentlich auch teilweise die zärtlich-heckerte Erzählung, nämlich eine ausgestellte Zärtlichkeit. Es ist so ein Hin und Zurück, zu viel, zu wenig. Ich bin froh, wenn endlich einmal die Zunge einer Kuh auftaucht, da kann ich mir was vorstellen irgendwie.
Ich glaube, der Text evoziert eigentlich auch all das, auch das, was in den Interpretationen gesagt worden ist. Er benennt es eigentlich auch nicht genau. Für mich geht er teilweise auch nicht weit genug. Alles ist in so einem Weichzeichner-Ton eingebettet. Und ich habe schon die Empfindung, und da müssen wir aufpassen literarisch, dass diese Behutsamkeit von Texten sehr leicht auch zu Betuligkeiten werden kann. Und das ist für mich hier ganz eindeutig der Fall.
Klaus Kastberger, noch so ein Professor Karsten Otte. Welches Argument greift er hier auf, wenn er sagt, man kann sich das alles nicht so recht vorstellen? Welche Resonanz bringt das bei Ihnen?
Also ich kann mir das alles sehr gut vorstellen, das ist auch gar nicht mein Problem. Ich glaube auch die Struktur des Textes ist gut nachvollziehbar, auch wenn wir es oft mit so einer geheimnisvollen Projektion haben. Wir wissen nicht ganz genau, ob Wakashu jetzt eine menschliche Figur ist oder nur ein Gegenüber, das gewissermaßen die Erzählerin spiegelt.
Leider muss ich auch Herrn Kasperger recht geben, was die sprachliche Ausgestaltung angeht. Mir ging es auch so, dass diese Art von ausgestellter Zärtlichkeit mir streckenweise auf die Nerven ging, ganz einfach, weil es ständig in diesem Ton gehalten ist und es wirkt oft sehr, sehr geheimniskrämerisch. Also das ist ein Text...
dem ich auch attestieren würde, dass ich ihn, sagen wir mal, wenn etwas länger ginge, dass man daran arbeiten müsste. Ich habe gehört, es ist ein Ausschnitt, aber es ist ein doch sehr hermetischer Text, was nicht schlimm ist, aber er penetriert immer den Hörer mit denselben sprachlichen Mitteln. Wobei die große Stärke, da würde ich Ihnen widersprechen, Carsten Otte, dieses Textes ist ja, dass er auf Gewalterfahrung mitführt.
Zärtlichkeit reagiert und wenn sie jetzt sagen, das war ihnen zu viel, dann ist ja genau das diese Kraft des Textes, dass er diese Zärtlichkeit mit so einer Vehemenz durchsetzt und behauptet und sich da gar nicht irritieren lässt. Also das würde ich für den Text in Anschlag bringen.
Das sei alles schon so lange her, dass ich nicht mehr aus Moskau komme, sagte Boris Schumatzki im Porträtvideo, das vor seiner Lesung lief. Es war der letzte Auftritt dieser 49. Tage der deutschsprachigen Literatur. In diesem Video ergänzte Schumatzki, ich zitiere, ich komme aus der Geschichte, man denkt da sofort an Peter Handkes Selbstverortung, ich bin ein Schriftsteller, ich komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes. Wir hören mal hinein in den Text von Boris Schumatzki.
der den Titel hat, hat Kindheitsbenzin. Kindheitsbenzin. Ich ist wossene, pervonachalne, karotke, nadivne Para. Wiss denzdeit, slovne, chrustalne, illuchisarne Vechera. Statt zu schreiben, könnte ich fliegen. Ich könnte meine Mutter noch einmal sehen, bevor sie allein stirbt. Aber ich schreibe. Als ich 16 war und für die Abschlussprüfung lernte, sagte ich zu ihr, manchmal wünsche ich mir, dass sie mich verhaften.
dann hätte ich Zeit, einen Roman zu schreiben. Mama hat nichts dazu gesagt und heute weiß ich, was sie damals schon wusste. Wenn ich zu ihr fliege und sie mich dort verhaften, dann werden sie mir ihre Sprache beibringen. Zuerst das Wort "prepissat" wörtlich einschreiben, in ihre Welt verprügeln.
Ein Ausschnitt aus Kindheitsbenzin von Boris Schumatzki ist ein kurioser Titel, denn was ist das überhaupt, Kindheitsbenzin, Carsten Otte? Das ist gewissermaßen der literarische Motor in dieser Erzählung, denn Boris Schumatzki präsentiert uns einige Kindheitssplitter aus einem autoritären System.
Er hat Erfahrungen gemacht, schon als kleiner Junge im autoritären Russland. Und dieses Kindheitsbenzin, das wirkt noch nach. Er lebt mittlerweile in Berlin. Und der Text beginnt, wir haben es gerade gehört, mit einer Entscheidungssituation der Erwachsenen.
Erzähler könnte zu seiner sterbenden Mutter nach Moskau fliegen, aber er bleibt erst einmal in Berlin, denn er möchte nicht in die Fänge dieses Putin-Regimes geraten. Er gilt als Mutterlandsverräter. Der Erzähler stellt sich dann im Folgenden vor, wie es wäre, wenn er dann von Grenzbeamten am Flughafen kontrolliert werden würde. Und das ist ohnehin, sagen wir mal literarisch, eines der zentralen Muster. Es gibt nämlich sehr viele Grenzübergänge in diesem Text.
Der Erzähler hat zum Beispiel tödliches Gift in der Tasche und er könnte das zum Einsatz bringen. Es gibt mediale Übergänge. Dieser ganze Text arbeitet auch auf der sprachlichen Ebene mit Übergängen und das macht ihn dann wirklich, sagen wir mal, zu einem literarischen Kunstwerk. Ich finde, das ist ein preiswürdiger Text.
Ein preiswürdiger Text, das sagte auch die Jury oder relativ viele aus der Jury. Jurymitglied Thomas Stressle beobachtete bei Schumatzki eine erzählerische Sprachreflexion über Muttersprache, Mördersprache, Exilsprache. Maradenius griff auch extrem hoch, sah hier den möglicherweise besten Beitrag, also eventuell den Bachmann-Preisträger, den wir dann zum Abschluss gehört haben, kurzfristig.
Kurz in zehn Sekunden, Vipri Poromka, würden Sie dem zustimmen? Ja, das ist ein großer Text über Sprachreflexion, auch darüber, wie autoritäre Systeme Sprachen verändern und Gewalt in Sprache einfließt. Und ein Text darüber, wie wir vielleicht im Moment auch die Welt nach Sprache ordnen. Weil natürlich das Russische im Moment bei vielen von uns eher einen Moment des Verdachts aufruft. Und dem ist natürlich Boris Schumatzki auch ausgesetzt. Vielleicht hat er gerade deswegen seinen Text aufgerufen.
Russisch begonnen. Vielen Dank, Wiebke Poromka. Das war der Büchermarkt vom dritten und abschließenden Tag des Bachmann-Wettlesens im österreichischen Klagenfurt. Morgen geht es weiter. Ab 11 Uhr findet die Preisverleihung statt. Um 16.10 Uhr melden wir uns noch mal vom Büchermarkt und sprechen dann dort mit den Preisträgern. Am Mikrofon verabschieden sich von Ihnen Wiebke Poromka, Carsten Otte und Jan Dries.