Deutschlandfunk, Büchermarkt. Missverständnisse entstehen in der Regel dadurch, dass Menschen Gesten und Gesagtes unterschiedlich interpretieren. Beim Spiel Stille Post entstehen Missverständnisse durch akustische Verluste. Gleich zwei neue Bilderbücher nehmen dieses Spiel nun als Grundlage für ihre Geschichten.
Im Leporello von Nele Palmtag und Rieke Drust wird dabei nicht geflüstert, sondern laut in das Setting einer Stadt gebrüllt. Andrea Tuschka und Rebecca Stellbrink führen mit ihrem Bilderbuch in den Wald, wo die Freundschaft zwischen einer Haselmaus und einem Braunbären beinahe zerbricht. Jan Drees hat sich beide Bücher angesehen.
Wenn in einer Firma über fünf Abteilungen hinweg Informationen weitergegeben werden, kommen am Ende lediglich 20 Prozent der ursprünglichen Nachricht an. Das Phänomen der stillen Post, eigentlich ein Kinderspiel, ist in unserer Zeit bedeutsam geworden, denn wie bei der stillen Post weitergereichte Fake News fluten die Informationshorizonte nahezu aller Menschen.
Die oft absichtlich gestreuten Falschmeldungen werden ausgeschmückt, angereichert. Sie sinken als toxisches Sediment auf den Nährboden unserer Demokratie.
Dass Instagram und Facebook fortan auf Faktenchecks verzichten, ist ein Dilemma. Kinder können bereits früh vertraut gemacht werden mit dem Phänomen des höheren Sagens als erste Fake-News-Desensibilisierung. Beispielsweise mit Andrea Tuschkas Bilderbuch Stille Post. Sie erzählt die Waldgeschichte von Bär und Maus, die in großen Streit geraten. Beide waren felsenfest davon überzeugt, Recht zu haben.
und keiner wollte auch nur eine Tannenzapf-Wurflänge nachgeben. Der Bär flüchtet, die Maus schmollt, möchte aber unbedingt das letzte Wort haben und dieses letzte Wort dem einstigen Freund mitteilen, mithilfe anderer Tiere. »Bär, ich mag dich gar nicht mehr. Komm bloß nie wieder hierher!«
»Ich war im Recht bei unserem Streit. Und mir tut überhaupt nichts leid.« »Wir bibbernden Biber, Hasen mit der verstopften Nase, murmelndes Murmeltier, fast taube-taube und maulenden Maulwurf kommt natürlich der entgegengesetzte Wortlaut beim brummelnden Bären an.« »Bär, du weißt, ich mag dich sehr. Bitte komm doch wieder her. Du hattest Recht bei unserem Streit. Und mir tut es furchtbar leid.«
So endet die Geschichte heiter und gibt dennoch einen ersten Eindruck von den Folgen möglichen Falschhörens. Illustratorin Rebecca Stellbrink hat die stille Postbilder aus vielen kleinen Stückchen zusammengesetzt. Diese Snippets wurden mit Aquarell und Akkordeon
Acrylfarbe koloriert, ein vager Diorameneffekt entsteht. Das auf diese Weise durchaus aufwendig gestaltete Buch ist eine künstlerisch eigensinnige Collage in beinahe 3D auf der inhaltlichen Ebene, zudem eine Fabel über Entschuldigungen und über einen seltenen Moment alternativer Fakten, der ausnahmsweise nicht zum Streit, sondern zur Versöhnung führt.
Sie mussten beide zugeben, dass es ganz schön anstrengend gewesen war, wütend zu sein. Und überhaupt kein schönes Gefühl. Die Freunde nahmen sich vor, nie wieder im Streit auseinanderzugehen. Dann aßen sie den Honigkuchen, grinsten wie zwei Honigkuchenpferde und plauderten über Gott und die Welt.
Denn diese war ja jetzt wieder in allerbester Ordnung. Als Erwachsener denkt man möglicherweise an das berühmte Interview des Nachrichtenmagazins Der Spiegel mit dem Philosophen Theodor W. Adorno aus dem Mai 1969 mit der wunderbaren Feststellung, Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung, worauf Adorno lapidar antwortete, mir nicht.
Wenig ist in Ordnung, auch dieser Tage. Die Menschen wirken oft aufgekratzt, aggressiv, wie der bärtig-langhaarige Zausel, der im zweiten Stille-Post-Buch ausruft. »Ihr könnt euch mal gehackt legen!«
Sie und Texterin Riek Drust haben jahrelang auf St. Pauli in Hamburg gewohnt. Sie haben oft erlebt, dass jemand auf der Straße plötzlich unverblümt brüllt, ohne dass für Umstehende sogleich erkennbar ist, weshalb dieser Mensch ausrastet.
So ist es auch in diesem Leporello. Das stille Postkinderspiel wird umgedreht, es wird gebrüllt. Alle Personen, die den kurzen »Ihr könnt euch mal gehackt legen«-Gefühlsausbruch des bärtigen Zausels erleben, hören einen anderen Wortlaut. Der Fahrradhändler denkt hier, beschwere sich jemand, er habe ein Kackleben. Die Streifenpolizistin hört »Kack«.
Er will sich nackt ins Gras legen. Der Straßenmusikant, er will, dass wir was abgeben. Und so geht es weiter vom Lieferanten mit der Sackkarre über die Friedensdemonstrantin bis zur alten Gattin, die ihren Mann im Rollstuhl vor sich herschiebt. »Er kann den schweren Sack heben? Er würde Pies ne Chance geben. Er will mal meinen Mann pflegen.«
Gestalterisch ist dieses Leporello anspruchsvoll. Auf zweimal einem Meter werden die Szenen fortlaufend gezeigt. Stiftzeichnungen auf freien Farbflächen mit sehr kräftigen Tuschefarben, die in die jeweils nächste Szene ragen.
auf diese interessante Weise eine Geschichte erzählen, die uns erinnert, bei Zeiten hören wir nur, was wir hören wollen, nicht nur, wenn es weiter geflüstert, sondern auch, wenn es wie hier überdeutlich gebrüllt wird und der bärtige Zausel statt »Ihr könnt euch mal gehackt legen« eigentlich anmerken wollte »Na hört mal, ich mag Zeltfäden«.
Jan Drees über Hört mal, Untertitel Brülle Post Leporello von Nele Palmtag und Rieke Drust, Kunstanstifter Verlag ab drei Jahren. Und Stille Post von Andrea Tuschka und Rebecca Stellbrink, erschienen bei Bohem ebenfalls ab drei.