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Uwe Timm - Der Zustand der Demokratie ist erschreckend

2025/3/9
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Kulturfragen

AI Chapters Transcript
Chapters
Uwe Timm diskutiert den besorgniserregenden Zustand der Demokratie in Deutschland und die Herausforderungen von rechtspopulistischen Bewegungen.
  • Uwe Timm sieht die Demokratie in einem prekären Zustand aufgrund des Aufstiegs der AfD.
  • Er betont die Bedeutung von Handlungen statt nur Worten, um die Demokratie zu verteidigen.
  • Timms Sorge gilt auch der Sprache, die die Gefährdung der Demokratie spiegeln kann.

Shownotes Transcript

Am Mikrofon begrüßt Sie Cornelia Zetsche mit Blick auf unser Land und den Rest der Welt zwischen Freiheit und Sicherheit, Populismus und Rechtsextremismus, Demokratie, Reality-Show und Ratlosigkeit.

Wir wagen einen großen Bogen, wollen über Demokratie und Sprache sprechen, über Kontinuitäten und Disruptionen, Weltmächte, koloniales Erbe und Literatur natürlich, aus der Perspektive eines Schriftstellers, der in drei Wochen am 30. März seinen 85. Geburtstag feiert und gefeiert wird, ein Alltagsforscher und Archäologe deutscher Geschichte seit einem halben Jahrhundert,

der anhand persönlicher Geschichten deutsche Geschichte erzählt, der in rund zwei Dutzend Büchern dem Widerstreit zwischen gehorsam und persönlicher Verantwortung nachspürt, auch der Frage nach Utopien und was aus ihnen geworden ist. Wir treffen uns fünf Tage vor der Sendung in seiner Münchner Altbauwohnung am Englischen Garten und zeichnen auf. Willkommen im Deutschlandfunk und danke, dass wir hier sein dürfen, Uwe Thimm. Ja, willkommen kann ich nur sagen, auch willkommen hier.

Sie wurden, Uwe Timm, 1940 in Hamburg geboren, vom Vater preußisch streng erzogen, wurden Kirschner, holten am Braunschweig-Kolleg

Das Abitur nach mit Benno Ohnesorg, der in studentenbewegter Zeit von einem Polizisten erschossen wurde, 1967. Sie waren aktiv in der Studentenbewegung, lebten in Paris und Rom, reisten von Argentinien bis Afrika, pendeln heute zwischen Berlin und München, sind aber Hamburger geblieben, muss man sagen.

Ihr Rennschwein Rudi Rüssel begeistert Kinder und Eltern bis heute. Die Entdeckung der Kürrewurst wurde verfilmt mit Barbara Sukowa. Die Spurensuche am Beispiel meines Bruders ist ihr größter Bucherfolg geworden. Moringa führt tief in die deutsche Kolonialgeschichte und Ikarien ein kapitales Werk zu einem Eugeniker im Nationalsozialismus. Das heißt, seit einem halben Jahrhundert erforschen Sie, Uwe Thimm,

Eigentlich unsere Mentalitäts- und Demokratiegeschichte. Was würden Sie sagen, in welchem Zustand befindet sich unsere Demokratie heute? In einem bedenklichen, in einem prekären Zustand. Also wenn ich mich so umsehe, ist das eher erschreckend. Erschreckend, dass die AfD 20 Prozent der Stimmen hat, was ich mir vor fünf, sechs Jahren nicht habe vorstellen können.

Aber erschreckend auch mit solchen Dingen, dass beispielsweise eine kleine Anfrage von der CDU, CSU gemacht wird über die Bürgerbewegung. Dass da jetzt plötzlich die Omas gegen rechts sich rechtfertigen müssen, woher sie Geld bekommen, das sie gar nicht vom Staat bekommen, also so aus spenden. Also das finde ich wirklich beängstigend und bedrängend auch. Aber zugleich auch eine erstarkende Zivilgesellschaft?

Unbedingt. Also ich war auf dieser großen Veranstaltung auf der Theresienwiese, da waren 250.000 Menschen versammelt damals nach der Abstimmung im Bundestag am 29. Juni.

250.000 Menschen. Und das Erstaunliche war, wie breit diese Bewegung war. Da gab es eben auch Nonnen, die gegen Rechts demonstrierten. Und das will doch was in Bayern sagen, dass das möglich ist und dass das so breit angelegt ist auch. Trotzdem 10 Millionen, 20 Prozent Menschen

wählten eine rechte oder wollen eine rechte Regierung, bekommen jetzt eine Mitte-Links-Regierung. Und dann kommt die absurde Situation zustande, dass die AfD nun den Saal der SPD beansprucht, den Otto-Welts-Saal, der benannt ist nach einem ehemaligen SPD-Vorsitzenden, der vor den Faschisten floh und emigrieren musste. Das ist pervers, das ist unglaublich.

Und ich denke, da müssten auch die SPD wirklich hart bleiben und sagen, diesen Saal, den verteidigen wir. Sollen sie ein Sit-in machen wie in alten Studentenzeiten und sich dann zur Not raustragen lassen. Also dass man das auch behauptet. Es ist einfach erforderlich,

dass es auch Praxis gibt, dass es die Tat gibt, dass man nicht nur allein redet oder programmatisch sagt oder klagt, sondern es muss etwas passieren. Also gut, sollen sich SPD-Abgeordnete in den Weltsaal setzen? Dann wollen wir sehen, was passiert. Weil Sie gerade sagten, wir sollen nicht nur reden, wir müssen auch handeln. Aber das Reden ist ja wichtig. Die Gefährdung der Demokratie zeigt sich ja zuerst in der Sprache.

Alice Weidel zitierte noch mal Alexander Gauland, wir werden sie jagen. Aber selbst wenn man die Mitte-Parteien nimmt, wie die FDP mit dem D-Day, das muss ja für jemanden, der Krieg und Zerstörung erlebt hat, wie Sie als Kind, zynisch wirken. Das ist auch zynisch, dass man so D-Day nimmt. Also als Metapher finde ich eine Geschichtsvergessenheit, die man gar nicht nachvollziehen kann. Also wer sowas schreibt ...

der gibt ja dem Vorschub, dass plötzlich alles egalisiert wird, alles beliebig wird. Also da ist wirklich ein Vergessen am Werk, das ist erstaunlich. Der realen Barbarei geht die Barbarisierung der Sprache voraus, schrieben sie mit Kollegen und Kolleginnen in der Süddeutschen Zeitung mit Blick auf das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz, das illegale Migranten stoppen soll, wenn es nach der Union geht.

Migration als Flut, als Naturkatastrophe, schrieben Sie, das ist jenseits der geistigen Brandmauer. Ja, natürlich. Das ist diese Umlegung darauf, dass das alles in eine

Naturwirklichkeit hinein transportiert wird, gegen die man eigentlich nichts machen kann, also die so überwältigend ist. Das ist natürlich Unsinn. Die zentrale Frage ist ja wirklich, wo sind die Ursachen für diese Migrationsbewegung? Und diese Ursachen werden natürlich nicht behoben.

Und das Naheliegende wäre, dass wir meine These, man müsste den Soli, der ja abgeschafft werden soll nach Willen der FDP, aber auch der CDU, der müsste eigentlich umgelegt werden. 12 Milliarden, das ist eine erkleckliche Summe in Ländern, wo man demokratische Verhältnisse hat, sagen wir mal in Namibia.

wo man wirklich etwas aufbauen könnte zusammen. Also ein Soli, der wirklich an der Fluchtursache etwas bewegt und hilft. In diesem Wahlkampf spielte Kultur überhaupt gar keine Rolle, aber alle schieben das Wort Narrativ vor sich her. Narrativ ist ja eigentlich, würde ich jetzt sagen, die Sache der Schriftsteller. Welches Narrativ bräuchte denn dieses Land? Das Land bräuchte ein Narrativ der Frage, der Kritik,

der Nachfrage und nochmals der Nachfrage und des Hinterfragens. Ganz einfach so ein Junge wie der, der den Vorsitzenden der AfD, Kupala, nachdem er sagte, deutsche Literatur müsse wieder in den Vordergrund geschoben werden, Gedichte lernen und dann fragt dieser Junge, der vielleicht 13 ist oder 14,

Sagen Sie doch mal ein deutsches Gedicht auf oder nennen Sie mir eins und dem fällt keins ein. Da steht der wirklich ohne Kleidung. Und dieses Nachfragen, dieses genaue kritische Sehen auf diese tönenden Behauptungen, das muss einfach auch in jeder sozialen Geschichte sein. Aber besonders bei Jugendlichen ist das einer dieser Beispiele, die wirklich mustergültig sind.

Der Roman Ikarian Uwe Thimm beginnt mit einem Jungen, der 1945 den Einmarsch der Amerikaner beobachtet. Die USA brachten uns Demokratie. Sie wurden allerdings mit dem Vietnamkrieg auch entzaubert. Und jetzt heißt es Deals statt Diplomatie. Wir stehen alle irgendwie noch unter dem Schock, diese Reality-TV, die sich Diplomatie nennt. Und auch unter dem Schock, dass Präsident Trump sagt,

ausschließlich der Spur des Geldes folgt mit seinem Kompagnon Elon Musk und den Rechtsstaat aushebelt, die Gewaltenteilung aushebelt mit einer Flut von Dekreten. Das kann einem Angst machen, wie fragil die Demokratie, auch so eine alte Demokratie wie in den USA ist, oder? Ja, es macht mir auch Angst. Als ich diese Rede von Trump hörte, die Inaugurationsrede, das ist natürlich fast Hitler gewesen.

Und zwar, wenn man das strukturell nach Roland Barth nimmt, also drauflegt, also eine strukturelle Ähnlichkeit, da ist die Erweiterung, Überfall von Ländern, Grönland, Panama, also der Anspruch auf andere Gebiete, die Vertreibung von Hunderttausenden Exilierten, die da inzwischen leben, die Diffamierung mit Lebensformen, die angeblich Hunde und Katzen essen, das ist wirklich Präfaschismus.

Und das ist ein Kulturkampf, der stattfindet, der zugleich ganz hart natürlich um Verteilungskämpfe geht. Das ist ja deutlich, wenn der Trump sagt, ich bin Geschäftsmann, also immer wieder in diesem Gespräch mit Zulensky. Das ist doch einfach unfasslich, dass das Geschäft selbst das bestimmt, also letztendlich das Kapital darüber bestimmt, wie die Welt beschaffen sein soll. Aber es ist noch nicht mal, dass das Kapital alleine regiert. Wenn Präsident Trump sagt,

gegen Diversity ist, gegen Inklusionsprogramme, sie würden die Kompetenz der USA mindern, dann beugen sich die Konzerne McDonalds, Meta, also Zuckerberg, Disney, Aldi Süd, Boeing, fügen sich diesem Diktum. Und bei Elon Musk gehen ja die Fantasien und nicht nur die Fantasien, sondern auch die Realität bis ins All.

Das ist richtig und insofern stimmt auch diese Analyse, dass allein letztendlich das Kapital auch die Politik bestimmt, wie wir das früher marxistisch mal gelernt haben und gelehrt haben, nicht mehr. Denn offenbar ist das einfach eine neue Qualität, die da entstanden ist, eine kapitalkräftige Qualität.

Situation von bestimmten Personen, also Oligarchen, die unmittelbar in die Politik hineinreicht und umgekehrt die Politik wieder mit diesen Leuten zusammen, also mit Trump, Musk, diese Verbindung, einen ganz neuen Status der

Macht, der ökonomischen und politischen Macht plötzlich darstellt, an die auch schwer heranzukommen ist, wenn also die Washington Post, die ja immer so diese, neben der New York Times, so eine kritische Pressewahl einknickt und nicht mehr zustimmt, der Besitzer, dass man gegen Trump sich artikulieren kann in der Redaktion, das ist natürlich richtig schon Zensur, richtige, dicke, deutliche Zensur.

Es gibt einen unglaublich interessanten Roman von Ilya Trojanow, ein Dokumentar-Roman, Doppelte Spur, der den Blick wirft auf Trumps Kontakte zu russischen Oligarchen. Im Roman heißt dieser Trump wird nie Trump genannt, er heißt Schiefer Turm. Er traf sich mit russischen Oligarchen, er wollte einen ...

Luxushotel gegenüber dem Kreml bauen. Russische Oligarchen investierten in seine Casinos. Er machte sich auch abhängig mit seinen Schulden.

Trump Tower war die Adresse von 28 Gangsterbossen, die von der FBI beobachtet wurden. Also eine exzellente Recherche. Und wenn nur 10 Prozent wahr ist, aber vieles kann man auch nachlesen im Netz, wenn nur 10 Prozent wahr ist, dann kann man eigentlich nur frieren. Oder ist man inspiriert und sagt, das ist auch ein guter Stoff zum Schreiben?

Naja, wenn man friert, muss man sich warm anziehen. Und ich denke, warm anziehen kann man sich dadurch, dass man diese Dinge jetzt auch literarisch genau bearbeitet und aufarbeitet.

Ich sitze jetzt im Augenblick an einem Projekt, das unter anderem eben auch solche Momente heraushebt, wo Machtstrukturen in der Sprache sich versammeln und wo die Sprache selbst Macht auch ausübt. Also Sprache zwingt uns zu sprechen, das ist wirklich die Sache.

harte Macht. Man muss sprechen, wenn man sich verständigen will. Viel Macht. Also Roland Barth sagt sogar, Sprache ist faschistisch. Also ich finde, das ist übertrieben. Aber sicher ist, wie bestimmte Begriffe insinuiert werden, also meinetwegen mit den Überschwemmen von Fremden und wie das verhindert werden kann, also da so eine Sensibilisierung herbeizuführen. Und dazu sind natürlich die Medien auch wieder wichtig. Und vielleicht

Es ist ja erforderlich, dass man als Literat sich mehr auch journalistischen Themen zuwenden muss. Und das bedeutet natürlich auch, zeitnah zu reagieren. Der Schriftsteller Uwe Timm antwortet heute auf Kulturfragen im Deutschlandfunk. Während Deutschland mit sich beschäftigt ist und auch Europa weiter nach rechts gerückt ist, teilen drei Weltmächte, USA, China und Russland,

Die Welt unter sich auf, das erinnert an 1945 nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch an 1883, 84 die Kongo-Konferenz in Berlin, als die Kolonialmächte Afrikas Grenzen diktierten.

Das Deutsche Reich war Kolonialmacht, von Amerika über Afrika bis in die Südsee, nach Samoa und Papua, unter intensiver Mitwirkung Bayerns. Sie haben erlebt, wie in studentenbewegter Zeit in Hamburg das Wismar-Denkmal gestürmt wurde. Hermann Wismar war Gouverneur in Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, verantwortlich für Massaker.

Bis heute gibt es eine Wismarstraße in Münchens edlem Viertelbogenhausen und noch immer 20 Straßen, die nach Kolonialverbrechern benannt sind. Sie leben hier in München. Was tun? Ja, dagegen kann nur helfen, dass das bekannt gemacht wird und dass man vor allen Dingen auch die Bewohner informiert, was das bedeutet, wenn sie ihren Straßennamen aufschreiben. Denn die haben sich ja oft oder wehren sich ja oft.

bei der Umbenennung der Straßen. Und ich denke, das ist Aufklärungssache. Die SPD war damals die Partei, 1905, bei den Wahlen, die ganz massiv den Kolonialismus angeprangert haben, Bebeln. Also es ist sozusagen ein Erbgut der SPD, dagegen aufzustehen. Das wäre überfällig, wenn das nicht so wäre. Und die Grünen sowieso. Also es ist wirklich eine politische Aufgabe und natürlich auch der öffentlichen Aufgabe.

Sie haben 1978 in Moringa eben den Völkermord der Herero beschrieben. Und ja, und es bewegt sich wenig. Im Museum Fünf Kontinente schätzt man, dass 30 Prozent des Bestands Raubgut sind.

Ja, das muss zurückgegeben werden, was zurückverlangt wird auch. Ich meine, das ist ja so wechselwirkig, muss man auch sagen. Also das, was für die Länder wichtig ist, also beispielsweise für Togo oder Kamerun, da müssen sie sich überlegen, was wollen wir genau haben. Und da muss das zurückgegeben werden. 1978, als der Moringa erschien,

Da waren die Menschen noch überzeugt, dass die Deutschen gute Kolonialherren waren. Das Bewusstsein, dass das Völkermord war in Hereros und Namas, war nicht da. Also im Gegenteil, wenn ich da Lesungen hatte, wurde ich als Nestbeschmutzer bezeichnet.

Da hat sich doch vieles geändert. Aber nochmals, so etwas wie der Soli müsste eigentlich umgelenkt werden. Nun wäre es nur ein Teil, Ausgleich für das, was das Deutsche Reich an den Kolonien damals verdient hat. Also Kamerun, Tanzania, Deutsch-Ostafrika.

Südwestafrika, also dem heutigen Namibia, das wäre zum Beispiel möglich, wirklich Milliardenbeträge dahin zu geben und für Universitäten, für Schulen, aber auch für Industrie, also Unterstützung zu leisten, was wirklich Fluchtursachen verhindern würde. Die Bundesregierung hat

Diesen Mord an den Herero als Völkermord akzeptiert, aber nicht die Schuldfrage, damit keine Restitutionsansprüche kommen. Genau. Und das ist natürlich auch das Unglaubliche, dass das stattfindet, dass man sich so rumklemmt um eine Sache. Und natürlich hat es jetzt eine Vereinbarung gegeben mit Namibia.

Aber da sind diejenigen, die nun wirklich betroffen waren, die Herero und die Nama, nicht mehr richtig einbezogen worden. Und das ist dann intern wieder ein Konflikt. Innerhalb von Namibia zum Beispiel sind sehr stark die Owambos vertreten, 90 Prozent oder drüber. Und die Völker, die wirklich darunter damals gelitten haben und den Aufstand getragen haben, nämlich die Herero und die Nama,

die wurden nicht richtig berücksichtigt und deshalb protestieren die und sagen, wir müssen unmittelbar die Gelder bekommen und die dürfen nicht irgendwie so verteilt werden. Tatsächlich ist Deutschland oft in der Klemme, was die Vergangenheit angeht, auch in Nahost? Ja klar, das ist wirklich ein großes Problem, das ist richtig. Also die Deutschen haben mit dieser unfasslichen Veränderung

Mit diesem Holocaust, mit der Shoah haben sie natürlich eine Schuld auf sich geladen. Und die ist auch so, dass man da als Deutscher, ich jedenfalls irgendwie, immer scheuer auch da die Stimme zu erheben, wo man sieht, dass da viele Probleme sind. Jetzt zum Beispiel in der Reaktion von Israel in Palästina, wo die offenbar jetzt wieder einmarschieren wollen. Aber ich habe da einfach...

Zurecht denke ich Hemmung. Mit dem Bruder, den ich zwar nur eine einzige Erinnerung hatte, aber der sogar bei der SS war, soll man da jetzt plötzlich drum herumkritteln. Das verbietet sich einfach nicht. Ich denke, das ist wirklich so, dass man sagen muss, man muss unbedingt zu diesem Staat Israel stehen.

Uwe Thimm, Sie gehören noch zur Kriegsgeneration. Sie haben den Krieg als Kind erlebt. Sie haben gerade von Ihrem Bruder gesprochen. Ihr Bruder hat sich mit 18 zur Waffen-SS gemeldet und ist mit 19 in der Ukraine gefallen, wie man so sagt. Was empfinden Sie, wenn Sie heute Kriegsbilder sehen? Und auch bei der Debatte, sollen wir kriegstüchtig oder friedensfähig werden?

Ja, ich meine, das ist einfach fürchterlich. In meinem Leben, also jetzt 85 Jahre alt werdend, hätte ich mir das nie vorstellen können. Meine erste Erinnerung sind diese brennenden Straßen, die brennenden Bäume in der Osterstraße. Da wurde ich als Dreijähriger im Kinderwagen durchgeschoben und habe die

diese Bilder vor Augen und ich habe die Toten vor Augen, die da lagen. Dann die Angriffe, die Bombenangriffe, im Keller sitzen, die Angst zu spüren der Erwachsenen, die viel größer war, weil man das als kleines Kind nicht so abschätzen kann. Schließlich diesen Einmarsch, 1945 im April in Coburg, wohin wir evakuiert wurden, nachdem wir ausgebombt worden waren,

zu erleben, wie plötzlich die Mentalität sich geändert hat. Also für mich einschneidend das Erlebnis, dass plötzlich die Erwachsenen zu mir sagten, du darfst nicht mal Heil Hitler sagen und du darfst auch nicht mehr die Hacken zusammenschlagen, wenn du die Hand gibst. Uwe Thimm, jemand wie Alexander Kluge, der ein paar Jahre älter war und den Krieg bewusster noch erlebt hat,

war in der Ukraine von Anfang an für Friedensverhandlungen. Würden Sie sagen, wir müssen kriegstüchtig sein, um uns wehren, um unsere Freiheit, unsere Demokratie verteidigen zu können? Oder müssen wir friedensfähig sein angesichts dieser vielen Toten? Ja, ich bin für Friedensfähigkeit natürlich, das ist klar. Man hätte wirklich...

in einem sehr frühen Zeitpunkt das machen können, was der Stahner jetzt gemacht hat, dass er mit Macron, also Frankreich und England, den Vorschlag macht, erst mal überhaupt einen Vorschlag macht, einen Monat Waffenstillstand, das wäre ja so eine Ausgangsbasis. Also so sollte eigentlich Politik funktionieren und nicht gleich mit den nächst höheren Waffen, die eingesetzt werden sollen.

Ich denke wirklich, da sind auch massive Fehler gemacht worden, auch in diesen Selbstlauf hinein. Uwe Thimm, Sie beschreiben, auch da kann man darauf hoffen, dass Literatur was bewirken kann. Am Beispiel meines Bruders, diese Situation des Krieges und des Bruders. Die Leipziger Buchmesse Ende des Monats steht vor der Tür und hat das Motto »Worte bewegen Welten«. Nochmal die Frage, was kann Literatur, was können Bücher?«

Also Worte bewegen die Welten, das ist natürlich sehr großmäulig gesagt. Das ist leider nicht so. Das ist einfach das Erschreckende auch daran, sieht man das, dass viele dieser SS-Führer, die die Einsatzgruppen geleitet haben, also wo zigtausend Menschen, Juden erschossen wurden, dass die hoch gebildet waren, Hölderlin lasen, Mozart hörten, Beethoven hörten, richtig?

Das ist, glaube ich, die tiefe Einsicht, dass Literatur, oder das ist die Hoffnung, sonst würde man natürlich nicht schreiben, also dass die eine Sensibilisierung herbeiführen kann für Sprache, für Umwelt, auch für Macht natürlich. Aber das hat Jean-Henri ja gesagt, der im KZ war, dass die Sprache, die Literatur nicht anwesend war und dass die nicht helfen konnte, das zuzumachen.

Ist das erschreckend daran? Ihr Roman Rot beginnt mit dem Unfall des Jazzkritikers und Beerdigungsredners Thomas Linde, der sein Leben rekapituliert. In der Tasche Dynamit, mit dem sein Freund die Siegessäule in die Luft sprengen wollte. Also man könnte sagen, das ist so eine Art Selbstbefragung. Wie sieht Ihre Selbstbefragung zum 85. Geburtstag aus? Gibt es die?

Die gibt es schon, aber so in knappe Worte zu fassen, ist das schwer. Ich denke, dass ich in meinem Schreiben weiterarbeiten muss an diesem Grundstrom, der mich bewegt, dass ich mit der Sprache über mich und über die Welt nachdenke und ganz zentral auch über Machtverhältnisse nachdenke und eine Gegenwelt überlege.

in der Sprache schaffen kann, dann das ist, glaube ich, so ein Moment, was wirklich Literatur leisten kann, dass es so ein utopisches Moment hat. Jedes Buch, egal welches, wenn es einen aufklärerischen Impetus hat, schafft ja eine Gegenwelt. Also schon als Erzählung, als Roman weiß man, das ist ja nicht die Realität, in der man sich bewegt, aber trotzdem kann man sich in dieser Realität bewegen, richtig?

Und insofern ist das, glaube ich, so ein Moment der Freiheit, also der Freiheit auch der Vorstellungswelt. Und es ist auch so ein Moment der Befreiung von den Zwängen, die einfach durch die Zeit, durch auch Tod gegeben sind. Man hat einen Moment des Schreibens als Autor und die vermittelt sich zum Leser, in der man in einer Wirklichkeit ist, die eine Möglichkeit aufzeigt, es könnte ganz anders sein.

Da wären wir wieder beim Utopie-Gedanken, der Ihr Werk durchzieht. Ja, natürlich. Also zumindest diese Utopie, dass man in Freiheit und selbstbestimmt leben kann. Und es braucht die Utopie, dass zum Beispiel die Aufklärung, so wie ich sie verstehe, erhalten bleibt. Dass dieses Projekt Aufklärung, wie Habermas zu Recht gesagt hat, noch gar nicht zu Ende gekommen ist, sondern weitergeführt werden muss.

Klar, wie jetzt im Augenblick gerade Widersprüche, beispielsweise China oder Russland, die sagen, also diese Form der Utopie, also diese abendländische Form, das ist ganz falsch, das ist Degeneration sogar. Da kann man nur sagen, nein, das muss verteidigt werden, dieses Subjekt als freies Subjekt zu sehen, im Mittelpunkt auch zu sehen, als selbstbestimmtes Subjekt.

Das Projekt ist noch nicht zu Ende. Im Zentrum ist immer noch die Frage der Gleichheit. Also diese alte Revolutionäre aus der französischen Revolution kommen in die Vorstellung der Gleichheit auch, der Menschen. Das sagt der Schriftsteller Ove Thimm, der am 30. März 85 Jahre jung wird. Seine Bücher erschienen bei Kiepenheu und Witsch. Und ich bedanke mich sehr für das Gespräch, Ove Thimm. Ja, und ich bedanke mich auch.

Hier geht es gleich weiter mit Kultur heute, das dürfen Sie nicht verpassen. Am Mikrofon der Kulturfragen war heute Cornelia Zetsche.