Jetzt ist es 18.07 Uhr gleich und jeden Dienstag um diese Zeit etwa laden wir Expertinnen und Experten ein, die wissen, dass es ernst um unsere Welt steht, die aber auch Ideen haben, wie wir doch nochmal eine gute Wendung hinbekommen könnten. Heute sprechen wir mit Benjamin von Brackel über Kipppunkte. Ist die Welt noch zu retten? Das Radio 3 Klimagespräch.
Kipppunkt, das ist eins der großen Schlagwörter beim Thema Klimawandel. Die Vorstellung, dass sich das Klima nicht allmählich verändern sollte, sondern ab einem bestimmten Punkt kippen könnte, treibt Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen um.
Die Klimajournalisten Benjamin von Brackel und Thoralf Staud haben ein Buch geschrieben, das diese Kipppunkte unter die Lupe nimmt, von ihrer Entdeckung bis zu den Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen. Am Kipppunkt heißt das Buch und ich kann jetzt Benjamin von Brackel herzlich willkommen heißen auf Radio 3. Hallo.
Als Titelbild hat Ihr Buch einen kippelnden Plastikgartenstuhl. Bitte beschreiben Sie uns doch nochmal, wie dieses Kippeln funktioniert und warum Sie dieses Bild gewählt haben. Ja, das haben wir ganz bewusst gewählt. Genau, wenn man den Stuhl langsam nach hinten drückt, dann passiert lange Zeit erstmal nichts. Aber ab einem bestimmten Punkt...
fängt eine Eigendynamik an und der Stuhl kippt, wenn man ihn noch ein ganz kleines Stückchen weiter nach hinten drückt. Und dann kippt er um und genauso funktionieren auch Teile des Erdsystems beziehungsweise das Klima. Also erstmal passiert eine ganze Weile lang gar nicht so viel und dann auf einmal, zack, fällt der Stuhl um. Genau richtig, ja.
Sie beschreiben im Prolog von Ihrem Buch ein Zukunftsszenario, wie unsere Erde aussehen würde, wenn bestimmte Kipppunkte tatsächlich eintreten würden. Und das ist ein Horrorzustand. Unerträgliche Hitze im Süden, eisige Schneestürme in Europa, für immer überflutete Inselstaaten und Küstenregionen. Wollten Sie jetzt gleich zu Anfang damit die Leser aufrütteln?
Also aufrütteln war gar nicht unser Ziel. Wir wollten dem Leser Orientierung bieten. Vielleicht beschreibe ich das so, ich schreibe schon seit ein paar Jahren über Kipppunkte für diverse Zeitungen und eigentlich hat
habe ich immer dieses irritierende Gefühl bekommen, dass es eben so aufrüttelnde Warnungen gibt in den Studien vor Kipppunkten. Aber gleichzeitig gibt es immer wieder Klimaforscher, die dann sagen, okay, man weiß noch gar nicht so viel über die Kipppunkte und ob es die überhaupt gibt. Wer weiß? Und ich fand das wahnsinnig unbefriedigend und wollte ein Gefühl dafür kriegen, was es mit den Kipppunkten tatsächlich auf sich hat.
Und das heißt, ich wollte nicht aufrütteln, ich wollte wirklich klarkriegen, wie ernst ist es wirklich. Sie beschreiben auch, wie die Wissenschaft diese Kipppunkte überhaupt erst entdeckt hat. Und die Beschreibung liest sich ja wirklich wie ein Krimi. Und da gibt es so einen Moment, der eine besondere und schwer zu erforschende Erkenntnis gebracht hat, die die Wissenschaftler im Eis gesehen haben. Was war diese besondere und so schwer zu erforschende Erkenntnis?
Das war Anfang der 90er Jahre, da haben Glaziologen auf dem höchsten Punkt Grönlands in das Eis reingebohrt, also in Eisbohrkern gezogen.
Und mit diesem Eisbockern konnten die quasi in die Vergangenheit zurückreisen und sich anschauen, ob sich das Klima gewandelt hat in der Vergangenheit und ja, wie schnell. Das war der ausschlaggebende Punkt. Also in der ganz weit entfernten Vergangenheit. Ganz weit entfernt, also die letzten 10.000 Jahre, unser Holozehn und dann rein in die Eiszeit. Und die haben eben festgestellt, dass der Übergang von der letzten Eiszeit bis in unser Holozehn
Das ging wahnsinnig schnell und die haben herausgefunden, das hat gerade mal drei Tage bzw. nur ein, also drei Tage, drei Jahre, das wäre zirkus, drei Jahre bzw. ein Jahr gedauert. Und das hieß sozusagen Temperatursprung auf Grönland um 15 Grad. Und das ist Wahnsinn, das war eine Revolution.
Die Forscher haben Kipppunkte entdeckt, die auf eine natürliche Art und Weise entstanden sind, also ohne Eingreifen des Menschen, wenn man so will. Heute sehen wir aber Kipppunkte hingegen, die menschengemacht sind, ausgelöst durch die Erderwärmung. Welche Kipppunkte sind die, die nach Ihren Recherchen unumkehrbar sind und am frühesten eintreffen werden?
Da sind vor allem zwei zu nennen. Also einmal haben wir die tropischen Korallenriffe. Die drohen schon relativ früh umzukippen. Also der IPCC-Report sagt dazu, dass bei 1,5 Grad Erwärmung ungefähr 70 bis 90 Prozent aller Korallenriffe wahrscheinlich verschwinden werden. Bei 2 Grad sind es praktisch alle 99 Prozent erwärmt.
Und zur Erinnerung, wir sind gerade auf einem Kurs von 2,7 Grad. Das heißt, von den tropischen Korallenriffen müssen wir uns wahrscheinlich verabschieden. Wenn ich noch ein anderes Element nennen darf, den westantarktischen Eisschild. Das ist ein Rieseneispanzer auf der Antarktis. Und der hat wahrscheinlich seinen Kipppunkt, so ergaben unsere Recherchen, auch schon überschritten.
Im Laufe der nächsten Hunderte von Jahren wird er wahrscheinlich abschmelzen und sich der Meeresspiegel um mehrere Meter heben. Und welche Folgen wird das nach bisherigem Stand haben? Genau, wie gesagt, der Meeresspiegel wird sich heben und das werden wir deutlich zu spüren bekommen. Also vielleicht nicht wir persönlich, aber unsere Kinder und vor allem deren Kinder. Also das fängt gemächlich an, aber wird dann immer schneller und schneller.
Ja, genau. Das ist das Erbe, was wir sozusagen hinterlassen. Sie haben es vorhin eingangs schon gesagt, dass es auch Kontroversen gibt oder gab unter den Wissenschaftlern, Forschende, die etwas zurückhaltender sind und die nicht die Apokalypse sehen wollen, damit die Menschen nicht in Angststarre verfallen und solche eben, die diese Weltuntergangsszenarien beschwören, damit die Menschen aufgerüttelt werden. Als Laie weiß man da nie, wie man da eher folgen sollte. Wie schätzen Sie das ein?
Genau, das war unser Ausgangspunkt und wir wollten sozusagen herausfinden, okay, wer hat mehr Recht, sozusagen die Alarmisten oder die, die eben ein bisschen abwiegeln und sagen, okay, es ist alles nicht so schlimm. Und man kann tatsächlich durchaus einiges sagen zu den Kipppunkten. Also man kann schon ungefähr einschätzen, wann ist welches Element dran und wie ernst ist die Situation. Den westantarktischen Eisschild habe ich zum Beispiel genannt.
Gleichzeitig sind die Warnungen, dass wir sozusagen so einen Klima-Dominoreffekt kriegen und am Schluss Venus-artige Bedingungen auf der Erde, die sind nach allem, was wir gelesen haben, übertrieben. Also das wird uns nicht ereilen. Wir sind nach wie vor selber verantwortlich dafür, welches Klima wir bekommen.
Selber verantwortlich, das ist der Stichpunkt, weil wir auf Radio 3 wollen in den Klimagesprächen ja nie nur Dystopien entwerfen, sondern auch Handlungsmöglichkeiten eben besprechen. Ist es denn noch möglich, diese Kipppunkte abzuwenden oder zu verlangsamen, wie ich sie jetzt verstanden habe? Den Eisschild nicht, die Korallenriffe wahrscheinlich auch nicht, aber andere?
Genau, was uns helfen kann, sind ausgerechnet wieder Kipppunkte, aber eben nicht im Erdsystem, sondern Kipppunkte in der Gesellschaft oder der Technologie. Und die Idee dahinter ist so ein bisschen, dass man...
dass schrittweise Veränderungen in der Energiewende einfach nicht mehr ausreichen, um diese Risiken, über die wir gerade gesprochen haben, jedenfalls noch einzudämmen. Das heißt, wir brauchen exponentielles Wachstum. Erneuerbaren Energien, exponentielles Wachstum. Erneuerbare Energien, genau. Elektroautos, Solarenergie, Wind, Wasserstoff und so weiter.
Und das, so meinen einige Forscher, kriegt man eben damit, indem man gezielt positive Kipppunkte ansteuert und dafür sorgt, möglichst schnell eine Technologie über den Berg zu kriegen. Und dann, so die Theorie, muss man sich nur noch zurücklehnen und zuschauen, wie die Technologie prosperiert.
Ihr Ausblick am Ende des Buchs kann schon ein bisschen Hoffnung machen. Also wenn sich die Staaten der Erde, vor allem die reichen Staaten des globalen Nordens zusammenreißen würden und wirklich das Ziel einer klimaneutralen Wirtschaft erreichen, da könnte das Schlimmste verhindert werden. Wie realistisch ist das denn aus Ihrer Sicht?
Tja, wenn man sich jetzt gerade umschaut in der Welt, nach Amerika schaut, genau, wenn neue fossile Projekte dort genehmigt werden in Kanada. Kanada soll sozusagen freigegeben werden für die Ölexploration. Und auch in Europa wird gerade versucht, am Verbrenner aus zurückzudrehen. Ja, das macht natürlich nicht so hoffnungsvoll. Genau, wir müssen abwarten, wie es weitergeht.
Das einzig Positive ist, dass sich die Energie nicht mehr aufhalten lässt und man muss hoffen, dass eben diese positiven Kipppunkte tatsächlich gesucht werden.
Das Klimagespräch auf Radio 3, heute mit Benjamin von Brackel. Danke fürs Kommen. Am Kipppunkt heißt das Buch. Benjamin von Brackel und Thoralf Staudt haben es geschrieben, wo das Klima zu kollabieren droht und wie wir uns noch retten können. Erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch. 384 Seiten, kostet 20 Euro.