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Verkannte Autorin - Wer hat Angst vor Marlen Haushofer?

2025/3/14
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Lange Nacht

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Shownotes Transcript

Gibt es Kriterien für literarische Qualität? Ich glaube schon, dass es sie gibt. Aber sie sind kontext- und zeitgebunden. Das macht es manchmal schwierig, Bezugspunkte eines Werkes, Perspektiven einer Autorin oder eines Autors und auch die Originalität eines Textes zu erkennen. Zumal auch die Art und Weise, in der wir lesen, kontext- und zeitgebunden ist.

Denn machen wir uns nichts vor. Wir finden unsere Lektüre nicht im luftleeren Raum, sondern folgen Anregungen, Empfehlungen, Lesen, Interessen geleitet. Dabei sind wir aus meiner Sicht durchaus in der Lage, ein eigenes und unabhängiges Urteil zu entwickeln. Aber auch darin sind wir kontextabhängig. Zum Beispiel, wenn wir einem verbreiteten Urteil widersprechen.

Die österreichische Schriftstellerin Marleen Haushofer ist eine Autorin, deren Werk erst lange nach ihrem Tod ernsthaft wahrgenommen wurde. Ihre Werke verdienen eine offene Begegnung, eine unabhängige Lektüre. So finde ich. Natürlich kontextgebunden. Geboren 1920 in Oberösterreich, gestorben 1970 nach einer Knochenkrebserkrankung in Wien.

hat Marlen Haushofer schon von Jugend an geschrieben, aber lange gebraucht, ehe sie Kontakte in der literarischen Szene in Wien aufbauen und erste Werke publizieren konnte. Sie ist Teil einer Zwischenkriegsgeneration, die wie sie noch sehr traditionsgebunden aufgewachsen ist, bevor Faschismus und Krieg die Autorität der Tradition nachhaltig in Verruf gebracht haben. Marlen Haushofers Distanz zum literarischen Betrieb

korrespondieren ein eigener Stil und eigene Themen. Sie hat einen scharfen Blick für die Lebenswirklichkeit der Frauen ihrer Generation und ungewöhnliche Mittel, sie auszudrücken. Seien Sie gespannt auf die Lange Nacht über Marlen Haushofer von Eva Pressler. Mein Name ist Hans-Dieter Heimendahl. Ich bin der Redakteur der Lange Nacht. Sie erreichen mich wie immer unter langenacht.deutschlandfunk.de.

Nächste Woche erwartet sie an dieser Stelle eine lange Nacht über den Paragrafen 218, über das Abtreibungsrecht in Deutschland, das beinahe von der Ampelkoalition noch geändert worden wäre. Aber dann kam es doch nicht mehr dazu und blieb die schwierige, angebliche Kompromissregelung des Paragrafen 218 in Kraft. Es war sehr knapp. Seien Sie gespannt.

Sie können alle langen Nächte der letzten Monate auch in der Deutschlandfunk-App nachhören. Und wenn Sie uns abonnieren, können Sie keine Sendung mehr verpassen. Bis nächste Woche. Wer hat Angst vor Marleen Haushofer? Vielleicht jene etwas zart beseiteten Leser und Leserinnen, die einmal in den Roman Die Wand hineinschnupperten?

und sich schockiert konfrontiert sahen mit den Themen totale existenzielle Isolation, Dämonen der Seele, Umweltkatastrophe und Untergang der Zivilisation. Marlen Haushofer war ein eher stilles, distanziertes Wesen,

Und ihre Scheu vor Menschen zu sprechen, führte sie auf einen anderen Lebensweg als zum Beispiel ihre Zeitgenossinnen Ingeborg Bachmann oder Friederike Mayröcker, die sich im ganzen deutschen Sprachraum mit ihren Texten bekannt machten. Schmerz erfüllt die eine, toll kühn, ja toll wütig und in bedingungsloser Rauschhaftigkeit die andere und dafür gefeiert wurden. Wer hatte also Angst vor wem?

In ihrem Schreiben war diese österreichische Schriftstellerin Jahrgang 1920 keineswegs scheu, sondern sehr mutig, aufregend, die Grenzen der Realität sprengend, atemberaubend zeitkritisch und hellsichtig. Und auch witzig. Kinderbücher verfasste sie nicht anstatt ernsthafter Prosa, sondern zusätzlich und zwischendurch, wenn sie sich eine Erholungspause gönnte. Immerhin erhielt Marleen Haushofer dafür dreimal den Kinderbuchpreis der Stadt Wien.

Doch der ganz große Ruhm blieb ihr verwehrt. Bis heute. Unerklärlich. Bis heute. Ich näherte mich vorsichtig mit ausgestreckten Händen dem unsichtbaren Hindernis und tastete mich an ihm entlang, bis ich an den letzten Felsen der Schlucht stieß. Hier kam ich nicht weiter. Auf der anderen Seite der Straße kam ich bis zum Bach. Und jetzt erst merkte ich, dass der Bach ein wenig gestaut war und aus den Ufern trat. Er führte aber nur wenig Wasser.

der ganze april war trocken gewesen und die schneeschmelze schon vorüber auf der anderen seite der wand ich habe mir angewöhnt das ding die wand zu nennen denn irgendeinen namen musste ich ihm ja geben da es nun einmal da war auf der anderen seite also lag das bachbett eine kleine strecke fast trocken und dann floss das wasser in einem rinnsaal weiter offenbar hatte es sich schon durch das durchlässige kalkgestein gegraben die wand

konnte also nicht tief in die Erde reichen. Eine flüchtige Erleichterung durchzuckte mich. Ich mochte den gestauten Bach nicht überqueren. Es war nicht anzunehmen, dass die Wand plötzlich aufhörte. Denn dann wäre es Hugo und Luise ein Leichtes gewesen, zurückzukommen. Plötzlich fiel mir auf, was mich im Unterbewusstsein schon die ganze Zeit gequält haben mochte, dass die Straße völlig leer lag. Irgendjemand musste doch längst Alarm geschlagen haben.

Es wäre natürlich gewesen, hätten sich die Dorfleute neugierig vor der Wand angesammelt. Selbst wenn keiner von ihnen die Wand entdeckt hatte, mussten doch Hugo und Luise auf sie gestoßen sein. Dass kein einziger Mensch zu sehen war, erschien mir noch rätselhafter als die Wand. Es ist dieser Roman »Die Wand« von 1963, der Marleen Haushofers Namen noch am ehesten im Gedächtnis verankert.

Er löst bei denjenigen, die sich auf ihn einlassen, Schauer der Faszination aus. Er hat es immerhin zu filmischen Ehren geschafft und zu einigen Wiederauflagen. Um diesen Roman wird es ausführlich in der dritten Stunde dieser langen Nacht gehen, nachdem sich in den zwei Stunden vorab ein facettenreiches Bild seiner rätselhaften Schöpferin enthüllt und dieser andere, etwas schräge Lebensweg der Marleen Haushofer entfaltet haben wird.

Sieben Jahre nach ihrem großen Wurf, todkrank, schrieb diese Beschwörerin des inspirierenden Alleinseins eine Art Requiem, adressiert an, ja, an wen? An ihr verborgenes, verheimlichtes, abgespaltenes Seelen-Ich? An das Leben selbst? »Mach dir keine Sorgen. Du hast zu viel und zu wenig gesehen, wie alle Menschen vor dir. Du hast zu viel geweint, vielleicht auch zu wenig.«

»Wie alle Menschen vor dir.« »Gleich hast du zu viel geliebt und gehasst.« »Aber nur wenige Jahre.« »20 oder so.« »Was sind schon 20 Jahre.« »Dann war ein Teil von dir tot.« »Genau wie bei allen Menschen, die nicht mehr lieben oder hassen können.« »Du hast viele Schmerzen ertragen.« »Ungern.« »Wie alle Menschen vor dir.« »Dein Körper war dir sehr bald lästig.« »Du hast ihn nie geliebt.« »Das war schlecht für dich.« »Oder auch gut.«

»Denn an einem ungeliebten Körper hängt die Seele nicht sehr.« »Und was ist die Seele?« »Wahrscheinlich hast du nie eine gehabt.« »Nur Verstand.« »Und der war nicht bedenkend der Gefühle.« »Oder war da manchmal noch etwas anderes?« »Für Augenblicke? Beim Anblick von Glockenblumen?« »Oder Katzenaugen?« »Und des Kummers um einen Menschen?« »Oder gewisse Steine, Bäume und Statuen?« »Mach dir keine Sorgen.«

Auch wenn du mit einer Seele behaftet wärest, sie wünscht sich nichts als tiefen, traumlosen Schlaf. Der ungeliebte Körper wird nicht mehr schmerzen. Blut, Fleisch, Knochen und Haut, alles wird ein Häufchen Asche sein. Und auch das Gehirn wird endlich aufhören zu denken. Dafür sei Gott gedankt, den es nicht gibt. Mach dir keine Sorgen.

Alles wird vergebens gewesen sein, wie bei allen Menschen vor dir. Eine völlig normale Geschichte. Dieser letzte Text, den Marleen Haushofer verfasst, der erschüttert Daniela Striegel, die Biografin, gerade weil ihm jedes Selbstmitleid fehlt, weil diese Lebensbilanz für die Vergangenheit wie für die Zukunft auf jeden Trost verzichtet.

Sein Resignieren hat etwas Souveränes. Das Ich, das spricht, das Du, das angesprochen ist, scheint zum Schritt durch die Wand bereit, ohne jemand anderem die Schuld zu geben. Seelenruhig verzichtet es auf seine Individualität, auf das Bewusstsein seiner Einmaligkeit.

Durch die Datierung und durch die Unterschrift hat Marleen Haushofer diesen Brief an sich selbst für eine vergessliche Zwillingsschwester

tatsächlich als ihren letzten Willen bekräftigt und offensichtlich zur Veröffentlichung bestimmt. Am 21. März 1970, drei Wochen vor ihrem 50. Geburtstag, stirbt Marleen Haushofer in Wien. Aber hoffen wir fröhlich auf 1970. Sie stirbt an Knochenkrebs. Verflixte Verkalkung.

Ich habe vor Weihnachten eine sehr tückische Grippe bekommen und liege schon seit sieben Wochen. Ganz langsam wird es besser. Der Prozess ist gutartig und ich bin auch sehr glücklich davon gekommen. Ihr Zustand ist hoffnungslos.

Als ich noch jung war, stellte ich mir oft vor, wie ich mich zum Sterben in eine Höhle zurückziehen wollte, um nie gefunden zu werden. Im Spital beginnt die Hölle. Dieses Nicht-Allein-Sein-Können und bis zum letzten Moment mit Spritzen gequält zu werden, ist ein unmenschlicher, würdeloser Tod.

Für mich, die Erzählerin, ist das immer eine schreckliche Vorstellung gewesen. In der Klinik entschließt man sich am 10. März zu einer Operation des Rückenmarks, um mit einer Durchtrennung der Nerven, die die Hüfte versorgen, die Schmerzbahn zu unterbrechen. Die Operation misslingt. Marleen Haushofer wird mit Schmerzmitteln vollgepumpt.

Eine Infektion führt zu einer Gehirnhautentzündung. Sie leidet unter Krämpfen und fällt ins Koma. Malin Haushofer, meine Zwillingsschwester, hat sich zu einem langen Schlaf zurückgezogen. Und wir wollen Ihnen diesen schlafsüchtigen Wesen von Herzen gönnen. Da sie nichts von ihrem Glück weiß, wird sie es ja kaum genießen können. Wenn Träumen ein Beruf wäre, hätte ich es längst zum Obertraummeister gebracht.

Wer war Marleen Haushofer? In der ersten Stunde dieser langen Nacht geht es um eine ganz besondere Kraft, eine ursprüngliche, für Marleen Haushofer extrem entscheidende Macht, die Macht der Kindheit. Das elterliche Haus im Wald und die Freiheit dort, Welt von klein auf an mit allen Sinnen zu entdecken, das ist der Urgrund dieses Lebens, das sich nur in Texten spürte und artikulierte.

Deshalb wollen wir diese Texte, dieses Leben vorab aus verschiedenen Perspektiven betrachten und einkreisen. Sie lebt ein kurzes Leben, ein rätselhaftes, widersprüchliches Leben, ein komplexeres, tiefgründigeres, als es scheint, ein zerrissenes, verpasstes, ein reduziertes, ungelebtes Leben, ein angepasstes, ein ordentliches, ein verdrängtes Leben, ein vergessenes Leben,

Ein gespaltenes, ein Doppelleben, ein doppeltes Doppelleben, ein depressives Leben, ein Traumleben, ein tragisches Leben, ein falsches Leben im Richtigen. Stichwort Ordnung, ordentliches Leben. Ich übertreibe nicht. Marlene Krisper, die Zeitgenossin und Essayistin in Steyr. Die Ordnung ist wirklich ein beherrschendes Thema bei Marleen Haushofer. Als Schutz vor sich selbst?

Weil sie Angst hatte, ein bisschen verrückt zu sein? Marleen muss sich einreden, dass Schreiben etwas Ordentliches ist und keine, wie sie es nennt, unbürgerliche Ausschweifung. Also in Wirklichkeit bot Schreiben für sie den Ort, um ihre unbürgerlichen Ausschweifungen in der Verkleidung ihrer Protagonistinnen auszuleben. Alle meine Romanfiguren sind Abspaltungen von mir selbst. Ja, es ist wahr.

Ich schreibe nie über etwas anderes als über eigene Erfahrungen. Das heißt, die Fassade bürgerlicher Ordnung niederreißen, ihren Weg kompromisslos und radikal zu Ende gehen, wenn es sein muss, bis zur tödlichen Konsequenz. Wie zum Beispiel in der parabelartigen Geschichte vom Menschenmann, in der die radikalste Abrechnung mit dem Wesen Mann geschieht.

Er wird als Zerstörer der Weltordnung einer Wölfin zum Fraß vorgeworfen und nützt so wenigstens dem Kreislauf der Natur. Und als in der Wand ihrem wunderbaren Hauptwerk gegen Ende zu unvermittelt ein Mann als Gewalttäter auftaucht, da erschießt ihn die Frau kurzerhand. »Eigene Erfahrungen?« »Alle meine Personen sind Teile von mir, die ich gut kenne.«

Kommt einmal eine mir wesensfremde Figur vor, versuche ich nie in sie einzudringen, sondern begnüge mich mit einer Beschreibung ihrer Erscheinung und ihrer Wirkung auf die Umwelt. Ich denke, dass im weiteren Sinne alles, was ein Schriftsteller schreibt, autobiografisch ist. Es ist ein zerrissenes, verpasstes, ein ungelebtes Leben.

Ein reduziertes Leben. Sabine Seidel, die Literaturwissenschaftlerin. Ja.

Davon werden wir im Laufe der Sendung noch ausführlicher hören. Ja, mein Blick ist ein pessimistischer Blick auf dieses Werk. Das reduzierte Leben ergibt sich aus einer textspezifisch-variablen Mischung von eingeschränkter Mobilität, problematischem Umgang mit der Zeit und gescheiterter Intersubjektivität.

Im Zentrum der haushoferischen Erzählwelten steht in der Regel ein Individuum, das seine Existenz in dem ihm zugeordneten Raum als entfremdet und defizient, also unzulänglich erlebt. Dabei handelt es sich nicht um eine materielle, sondern um existenzielle Fremdheit. Es ist ein verdrängtes, ein falsches Leben? Verdrängtes, ja.

Zwingend mit der Ordnung verknüpft ist die haushofische Verdrängung. Um Ordnung zu halten, muss man verdrängen, vor allem die Erinnerung. Lebenslängliche Verdrängungsakrobatik ist die logische Folge.

Es ist kein Tabubruch mehr, wenn man zum Beispiel festhält, dass Christian, der erste Sohn von Marleen Haushofer, unehelich zur Welt kam. Das ist heutzutage keine Sensation mehr, aber zu Marleens Studentenzeit und auch noch zu meiner, ich bin Jahrgang 1940, da bedurfte es schon eines ungeheuerlichen Mutes, deswegen nicht zu heiraten.

»Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin eine von denen, die heiraten mussten,« so hieß das wortwörtlich. Nach einer überstürzten Verlobung wurde noch überstürzter geheiratet, aber hauptsächlich wurde geschwiegen, wegen der vermeintlichen Schande.

Marleen Haushofer konnte oder wollte den Vater ihres Kindes nicht heiraten. Es war eine flüchtige Affäre mit einem Studienkollegen, über die sie ihr Leben lang nicht sprechen konnte oder wollte. Christian kommt am 31. Juli 1941 in Bayern in einem Heim für ledige Mütter zur Welt.

Marleen Haushofer verheimlicht diesen Sohn ihren streng katholischen Eltern, vor allem ihrer Mutter. Wie beschwerlich ist es, mit Mama umzugehen. Sei vorsichtig, warnt eine innere Stimme. Sei ja nicht zu übermütig, stöhnt die kleine Protagonistin Meta im Kindheitsroman.

Christian wird bis zum sechsten Lebensjahr von der Mutter einer Freundin vom Arbeitsdienst aufgezogen.

Die Schwere dieser Entscheidung trägt Marleen Haushofer ihr Leben lang allein. Aber gleich drei Monate nach der Geburt ihres Sohnes heiratet sie dann einen anderen Mann, den angehenden Zahnarzt Manfred Haushofer. Der akzeptiert, er verzeiht ihr diesen Fehltritt.

weil er Marleen wohl liebt, und zwingt sie damit in eine daraus erwachsene Dankbarkeit und permanente Haltung des Verdrängens. Ein lähmendes Gefühl, das Marleen zeitlebens begleiten wird. Sie heiratete diesen Mann, teils weil sie müde und allein war, teils aus Dankbarkeit. Er war ein Mensch, auf den man sich verlassen konnte, heißt es in der Erzählung »Schreckliche Treue«. Ein programmatischer Titel, den sie einem Erzählband verpasst.

Das kurze Leben der Marleen Haushofer. Es ist ein vergessenes Leben? Weil sie so viele Notate, Skizzen, Manuskripte, Tagebücher nach kurzer Zeit vernichtet hat? Weil sie so vieles verschwiegen, weil sie ihre Spuren verwischt hat?

So wie Marleen selbst des öfteren Tagebuchaufzeichnungen verbrennt, tun das auch ihre Protagonistinnen. Das Verbrennen alter Briefe, Tagebücher und Fotos ist geradezu deren Lieblingsbeschäftigung. Wenn die morbide und widerwärtige Vergangenheit in Flammen aufgeht, treten nach einer Art Selbstreinigungsprozess Erschöpfung und vor allem große Erleichterung ein. »Ich wusste, dass ich dort oben in der Mansarde ein Stück Vergangenheit zu liquidieren hatte«,

Zwar hatte ich nicht das Gefühl, es handelte sich um meine eigene Vergangenheit, aber jede Vergangenheit gehört ja liquidiert. Das ist ein schmerzlicher Prozess, vor dem ich mich mein ganzes Leben lang drücke. Heißt es in dem Roman Die Mansarde. Die Texte der Marleen Haushofer wurden zur Zeit ihrer Entstehung und zu Lebzeiten der Autoren nur sehr verhalten rezipiert und rezensiert und rasch vergessen. Das stimmt.

Wobei ihre Texte nicht selten als wenig innovativ abgeurteilt wurden, als provinziell und hausbacken, vor allem als eskapistisch. Im Jahrzehnt nach dem Tod der Autoren setzt sich diese geringe Beachtung ihrer Werke fort.

So erstaunt es kaum, dass die Autoren etwa in der 1974 publizierten Schrift »Positionen im deutschen Roman der 60er Jahre« nicht aufgeführt wird. Auch in dem 1980 erschienenen Sammelband »Neue Literatur der Frauen« wird ihr Name an keiner Stelle erwähnt.

Ab Mitte der 80er Jahre setzt dann, nach der erneuten Auflage von die Wand, eine breitere Rezeption der haushoferschen Texte ein, die sich kontinuierlich fortgesetzt hat.

Wobei man allerdings einräumen muss, dass ihre Würdigung in literar-historischen Kompendien nur sehr zögerlich und oft beiläufig erfolgt. Nun, Marleen Haushofer gehört zweifellos zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der österreichischen Nachkriegszeit. Petra Lundström, ebenfalls Literaturwissenschaftlerin. Sie zählt unter anderem als Inspiration für Elfriede Jelineks Werke.

1969. Da ist Marleen Haushofer bereits todkrank. Sie hat höllische Schmerzen. Ihr geht es sehr schlecht.

Es geht in der Mansarde darum, dass die Protagonistin eines Tages Post mit ihren eigenen 17 Jahre alten Tagebuchaufzeichnungen bekommt. Nun muss sie sich mit einer längst vergessenen Zeit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen.

Die plötzliche, unerklärliche Taubheit dieser Protagonistin war damals der Grund dafür, dass ihr Ehemann Hubert sie weggeschickt und damit von ihrem dreijährigen Sohn getrennt hatte. Sie sollte isoliert in den Bergen genesen und wieder normal werden. Dank des Kontaktes zu einem fremden Mann, genannt X, einem vermutlichen Gewalttäter, bricht die Protagonistin endlich aus ihrer Isolation aus.

Nach anderthalb Jahren in den Bergen kann sie wieder hören und zu Mann und Kind heimkehren. Sehr bemerkenswert dabei ist, Täter und Opfer, Bürger und Familienmitglieder müssen, ohne dass die alten Untaten je aufgeklärt oder entschädigt worden wären, Seite an Seite im gleichen Haus weiterleben. Haushofers Bücher wurden in vielen Rezensionen als triviale, tragische Frauenliteratur abgetan.

Wörter wie Altbacken, Altspätzisch und Biedermeierlich wurden verwendet. Der traditionelle Alltag der Hausfrau wurde noch nicht als literaturfähig betrachtet. Aber es geht eben nicht nur um diesen Hausfrauenalltag. Heute zählt Haushofer zu den wichtigsten Schriftstellerinnen der österreichischen Nachkriegsgeneration und wird unter anderem mit Ingeborg Bachmann und Friederike Meyröcker verglichen.

Es ist also ein Leben im Fluchtmodus, das sich oberflächlich als bürgerliches Hausfrauenleben und Mutterdasein tarnt, hinter der Fassade aber ganz im Schreiben verkriecht, auszuleben und zu vergewissern versucht und selbst immer wieder auslöscht und vergessen macht, bis die Schriftstellerin kurz vor ihrem Tod diesen literarischen Kniff anwendet und sich selbst ihre verschollenen Tagebuchnotizen zukommen lässt.

Es ist das Leben einer Schriftstellerin auf der Folie jener bleiernden Zeit, der Nachkriegszeit der 1950er und 60er Jahre, mit all ihren reaktionären Wertvorstellungen und starren Rollenfixierungen. Die Vergangenheit wird totgeschwiegen mit dem unausgesprochenen Einverständnis einer ganzen Generation.

Von jeher ist es mein Bestreben, ein fast triebhafter Drang, Gegensätze zu versöhnen, Harmonie zu erzeugen und die große Schizophrenie zu heilen. Nur ich bin zu schwach dazu und brauche zu viel Kraft, um nicht selber dieser Spaltung zu verfallen. Dieses Doppelleben ist Teil einer größeren, alles überwölbenden Trostgeschichte nach dem letzten großen Weltkrieg, die da lautet

Alle können darin Teil einer endlosen Steigerung, eines unwiderstehlichen wirtschaftswunderlichen Fortschritts sein. Aber ist es nicht doch auch und vor allem ein gesellschaftskritisches, ein kreatives, ein visionäres Leben, das sich im Schreiben demaskiert und aufbegehrt, mit dem leisen, weisen Verdacht, dass dieses Narrativ, diese nationale Trostgeschichte nicht funktionieren kann?

nicht funktionieren wird, dass es irgendwann gegen die Wand fahren wird? Spätestens mit diesem dystopischen Roman »Die Wand« und der gnadenlosen endzeitlichen Isolation und der existenziellen Zurückgeworfenheit auf sich selbst im Einklang mit der Natur wird deutlich, wie wach, wie sensibel, wie hellsichtig, wie kulturkritisch, wie vorausschauend, kurzum, wie visionär diese Schriftstellerin Marleen Haushofer war.

Der Stoff zur Wand, der muss immer schon da gewesen sein. Ich habe ihn mehrere Jahre in mir herumgetragen. Es war alles vorgezeichnet in meinem Kopf. Es wurde ihr klar, dass sie immerfort anderen Leuten zuliebe Dinge tat, die sie nicht tun wollte, heißt es im Roman Die Tapetentür. Und in Wir töten Stella Vor Jahren war mir etwas geschehen,

das mich in einem reduzierten Zustand zurückgelassen hat. Als einen Automaten, der seine Arbeit verrichtet, kaum noch leidet und nur für Sekunden zurückverwandelt wird in die lebendige junge Frau, die er einmal war. Und dann gibt es noch das andere, das mich mit Furcht erfüllt, mit Entsetzen, mit dem Gefühl, im nächsten Augenblick werde etwas auf mich zuspringen und die unsichtbare Wand zerschlagen.

Ich weiß, das darf nicht geschehen, aber immer wieder drängt es sich an mich. Es starrt mich an aus den fremden Gesichtern auf der Straße, erhebt sich im Geheul eines Hundes, steigt mir im Fleischerladen als Blutgestank in die Nase und berührt mich als eine kalte Hand. Etwas muss mir vor Jahren geschehen sein. Seither glaube ich es nicht ertragen zu können, dass...

unfassbar für mein Hirn und Herz gut und böse eins sind. Um dieses Wissen zu ertragen, bedürfte man der Lebenskraft eines Riesen. Aber die Riesen kommen gar nicht in diese Lage. Eine handfeste Keule ersetzt ihnen das Denken. Sie ziehen es vor, zu leben. Immer müssen die Denkenden darauf verzichten, zu leben. Und die Lebenden haben es nicht nötig, zu denken. Die erlösende Tat wird nie getan werden.

Denn der, die Kraft hätte, sie zu tun, weiß nicht, dass er sie tun muss. Und der Wissende ist unfähig zu handeln.

Es ist das kurze Leben einer sehr stillen, zornigen Rebellion, die Marleen Haushofer zerstörerisch in die Seele, in die Knochen fährt. Es ist das tragische Leben eines scharfen Geistes im intuitiv-kreativen Tagtraum-Modus. Wenn Träumen ein Beruf wäre...

hätte ich es längst zum Obertraummeister gebracht. Mein Verstand, diese Gedanken, ewig unruhigen Gedanken, sie meandern und erleuchten, sie quälen und erleichtern. Sie schaffen Bilder, Welten in meinem Kopf. Ein Leben außergewöhnlich und unverstanden.

Es ist ein Flirt mit dem Tod, verschleiert, versteckt hinter vermeintlich einfacher Sprache, die doch so raffiniert, so plötzlich und so packend Abgründe aufreißen kann, mit Sätzen, in deren Tiefe Leser und Leserinnen zu ertrinken drohen.

Tiefe, emotionale, autoaggressive Abgründe. Ach, mein Zorn ist längst verraucht. Heißt es in der Novelle Wir töten Stella. Geblieben ist nur das Grauen, das mich ganz beherrscht und in dem ich wohne, wie in einem verhassten Raum. Es ist in mich eingedrungen, es hat mich ganz durchtränkt und begleitet mich überall hin. Es gibt keine Flucht.

Es ist die leise Rebellion eines außergewöhnlich sensiblen, durchlässigen Wesens. Gegen das Hausfraudasein, das Ehefraudasein, das Nur-Mutter-Dasein. Gegen die in Stein gemeißelten Rollenmuster einer erstarrten Gesellschaft. Gegen die Verhältnisse einer paternalistischen Unterdrückungsfürsorge. Es ist die Rebellion eines ewig kindlichen, staunend fantasiebewegten Kopfes und einer traurigen Seele.

Ich habe überhaupt kein Seelenleben mehr. Wahrscheinlich bin ich doch verrückt. Das kleine Mädchen, von den großen Meta genannt, sitzt auf dem Grund des alten Regenfasses und schaut in den Himmel. Der Himmel ist blau und sehr tief.

Manchmal treibt etwas Weißes über dieses Stückchen Blau. Und das ist eine Wolke. Meta liebt das Wort Wolke. Wolke ist etwas Rundes, Fröhliches und Leichtes. Meta sitzt strafweise im Regenfass. Sie hat die Großen bei der Heuernte gestört und geärgert. Sie ist zweieinhalb Jahre und kann nicht über den Fassrand blicken. Eingefangen, festgehalten und eingesperrt zu werden, ist das Schlimmste, was es gibt.

Sie wirkt an einem Brocken aus Schmerz und Wut, der immer wieder vom Magen in die Kehle steigt und sich nicht schlucken lässt. Ein schreckliches Unrecht ist ihr geschehen. Sie hat eine Weile gebrüllt, jetzt weint sie still vor sich hin. Die Großen sind böse. Sie wird sie einfach fortschicken. So, jetzt sind sie weit weg. Und Meta will sie nie wieder sehen. Sie ist ganz allein.

Er mattet vom Weinen, rutscht sie zu Boden und sitzt auf Moospolstern und kleinen Steinen. Sie fängt an, das Holz abzuschlecken. Es schmeckt vertraut und ein wenig bitter. Der Brocken in ihrer Kehle löst sich, fließt zurück in den Leib und versickert. Das alte Fass ist brav und zum Liebhaben.

Aus seinen Rissen, in der Glut vergangener Sommer entstanden, wachsen kleine Moospflanzen und bilden Polster für eine feuchte, gekränkte Wange. Das kurze Leben der Marleen Haushofer beginnt ländlich-idyllisch am 11. April 1920 im oberösterreichischen Frauenstein als Tochter eines Revierförsters.

Das Forsthaus im dunklen, waldreichen Effertsbachtal am Fuße des Sengsengebirges in 500 Metern Höhe wird für Maria Helene Frauendorfer... Ja, tatsächlich. Sie, die ein so rätselhaftes Frauenleben führen wird, ist eine geborene Frauendorfer aus Frauenstein. Das Forsthaus im Wald wird der Mittelpunkt der Glückseligkeit. Es war der Inbegriff eines Zuhauses und kindlicher Geborgenheit für sie.

Es sei kein besonders gemütliches Haus gewesen, weshalb sie wohl später auch eine Vorliebe für ungemütliche Wohnungen entwickelt hat. Es war für sie das einzige Haus auf der Welt. Ja, und nirgendwo anders habe sie sich je zu Hause gefühlt. Aber hier brütete sie auch ihre Dämonen aus, ihre Ängste, ihre Albträume.

Bei Tag gibt es Schutz und Sicherheit und liebt Meta. Aber nachts gleitet es zurück in eine ganz andere Zeit und strahlt die Schreckung längst vergangener Tage aus. Dann verwandelt es sich in einen Feind, schreibt sie. In Metas Gespensterangst wird das Haus sogar zum Verräter.

Haushofer schildert den Weg des kleinen Mädchens, ihrem alter Ego, zur dunklen Mehlkammer auf dem Dachboden als wahren spießroten Lauf. Über die Stiege in den ersten Stock, den langen Gang entlang, mit klopfendem Herzen über die zweite Stiege hinauf zum Dachboden und zu den Mansarden, dann die schwarze Eisentür. Diese beinahe filmische Szene schreibt sich wie eine Topografie des Schreckens ins Unbewusste ein. Ihr Leben lang wird Meta im Traum Zucker aus der Mehlkammer holen.

in einem sich endlos abspolenden Entsetzen. Doch die früheste Erinnerung der kleinen Meta, alias Marleen, spielt sich ja außerhalb des Forsthauses, im Regenfass, ab. Und diese Erinnerung deckt sich tatsächlich mit der familiären Überlieferung. Die kleine Maria war ein Häckerl, ein äußerst lebendiges und quirliges Kind. Und weil beim Heuen jede Hand gebraucht wurde und sie nicht zu bändigen war, steckte man sie in aller erzieherischen Unschuld in ein leeres Holzfass.

Nicht nur diese Episode, der ganze Roman mit dem Titel »Himmel, der nirgendwo endet« beruht auf authentischen Begebenheiten, erzählt über reale Verwandte und beschreibt im Detail die originalen Schauplätze von Marleen Haushofers Kindheit. In der ersten Fassung des Romans heißt die kleine Heldin noch Maria. Marleen Haushofer hat dann kaum mehr als die Namen der handelnden Personen geändert und das Buch selbst als Autobiografie bezeichnet. »Immer tiefer hinab gleitet das Kind«,

Jetzt liegt es auf dem Rücken. Es gibt so viel zu sehen. Die eigenen bräunlichen Knie, darüber das silbrige Holz und das Fleckchen Himmel, eine tiefblaue Gasse, die nirgendwo endet. Meta reißt die Augen ganz weit auf und die Bläue sickert in sie hinein. Das tut sie so lange, bis sie ganz dick und angeschwollen ist und der Himmel verblasst. Dieses Spiel ist nicht ganz geheuer. Meta schließt die Augen und schickt die Bläue wieder hinauf.

Das ist sehr anstrengend und sie wird müde und leer davon. Als sie endlich die Augen aufschlägt, leuchtet der Himmel wieder tiefblau. Meta ist ganz und gar getröstet und immerfort wispert das alte Fass seine unverständlichen Geschichten. Wäre es kein genanalytischer Unsinn, so könnte man sagen, dass der kleinen Maria Helene Frauendorfer Wald und Flur geradezu im Blut lagen.

In dieser Familie gibt es seit Generationen nur Förster, Jäger und Verwalter. Und in grauer Vorzeit einen wilden Landvogt, heißt es über Metas väterliche Verwandtschaft. Und tatsächlich waren in der Linie der mütterlichen Vorfahren schon der Ururgroßvater Förster und der Urgroßvater Jäger. Ihre Welt, das ist das Forsthaus mit seinen Menschen und Geräuschen?

Das ist der Wald mit seinen belebten pflanzlichen und tierischen und manchmal auch außerirdischen unheimlichen Reizen. Ihr kindlicher Kopf ist mittendrin. Es ist die Welt des magischen Denkens im unnachahmlichen Stil des magischen Realismus eingefangen. Das Funkeln ihres Geistes, hier in der Natur wird es entzündet. Ein aufblitzender Gedanke springt zum nächsten über. Jeder sinnliche Eindruck ist wie das elektrische Feuern eines Neurons,

das wieder andere Neuronen zum Feuern anregt. Es ist ein Rausch, ein Zauber. Sie weiß genau, wie alles schmeckt. Besonders gut sind junge Fichtennadeln, Baumharz und der süße Saft, den sie aus den Blüten saugt. Im Frühsommer entbrennt sie in wilder Liebe zu den Pfingstrosen und zittert vor Begierde, die roten Blätter zusammenzudrücken und zu zerbeißen. Aber sie tut es selten. Es tut der Rose weh. So legt sie nur die Wange an die Blätter.

Und ihr Herz pocht vor Verlangen und Entzücken. Den Birnbaum und die Steine darf sie drücken, so viel sie will. Und sie tut es auch. Aber sie träumt Tag und Nacht davon, einmal in das Rosenherz zu fassen. Ganz fest, bis ihre Hand feucht wird vom Saft der zerquetschten Blätter. Der Gedanke ist schön und schauerlich. Meta starrt ihre Hände an. Ein bisschen Sand haftet darauf und ein bisschen Gras grün.

Plötzlich sind sie zwei fremde, böse Tiere, die sich zuckend hin und her bewegen, immer auf der Suche nach einem Ding, das sie zerdrücken können. Meta fürchtet sich. Sie versteckt ihre Hände auf dem Rücken und versucht, nicht an sie zu denken. Ein großes Sausen hebt an und die Gräser stecken ihre Spitzen starr in die Luft. In dieser grünen Hölle denkt Meta nicht daran, ins Haus zu laufen. Dann hört das Brausen auf und sie ist in der Nähe des Hauses.

Und durch die enge Lidspalte sieht Meta die Gräser befreit hin und her schwanken. Etwas Böses war da und ist wieder weggegangen. Sicher war ein Zauberer in der Nähe. Es wirkt, als hätte die von Marleen Haushofer installierte kleine Erzählerin früh geheimnisvollen Kontakt mit William James gehabt. Jenem Psychologen, der Ende des 19. Jahrhunderts den Stream of Consciousness beschrieb. Das Rattern der Gedankenmaschine als innerer Monolog.

Eine literarische Technik, die der irische Schriftsteller James Joyce Anfang der 1920er Jahre erstmals konsequent anwendete, weiterentwickelte und somit die moderne Literatur begründete. Marleen Haushofer erzählt aus der Perspektive der zweijährigen Meta als latent auktoriale Erzählinstanz. Sie lässt ihre Gedanken, ihre Eindrücke, ihre Assoziationen ungehemmt strömen und strömen. Die ganze Welt strömt auf Meta ein.

Tausend Gerüche bedrängen ihre Nase, tausend Geräusche ihr Ohr. Und die kleinen Hände tasten glattes, raues, feuchtes, trockenes, heißes und kaltes. Ein Fetzen Samt, ein schiefriges Holzscheit, Riesenhaut und Hundefell, die scharfe Glätte der Gräser und die ganz andere Glätte von Kieselsteinen. Und da ist auch noch der eigene Leib, der sich schmerzlich krümmt.

Oder die kleinen Finger und Zehen wollen vor Freude schreien. Die Welt ist ein großes Durcheinander, das sie, Meta, in Ordnung bringen muss. »Himmel, der nirgendwo endet«, diesen Kindheitsroman bringt Marleen Haushofer erst drei Jahre nach ihrem Hauptwerk die Wand heraus. Noch 1966 leuchten diese konfabulierten Kindheitseindrücke stark wie eben erlebt. Oder ist es doch eher eine Abrechnung?

Eine bittere, eine verzweifelte Rückschau vor ihrem baldigen Krebstod nur wenige Jahre später, von dem sie schon eine Ahnung hat. »Himmel, der nirgendwo endet« wird Marleen Haushofers liebstes, ihr wichtigstes Buch. »Meine Bücher sind alle verstoßene Kinder«.

Außer es ist das einzige ihrer Werke, das sie nicht verstößt. Apropos verstoßene Kinder. Das ist eine Aussage, die man doch unwillkürlich mit der sechs Jahre langen Weglegung ihres Sohnes Christian assoziiert. In der Mansarde spricht die Erzählerin über ihren kleinen Sohn, den sie sich selber weggenommen habe. Einspruch.

Haushofer's Texte sind nicht nur alle verstoßene Kinder, wie die Autorin immer wieder gerne zitiert wird, wobei hier sofort der mütterlich-weibliche Gebäraspekt in den Vordergrund rückt. Sie sind Produkte des Literatursystems der 50er und 60er Jahre, das in je Autoren spezifisch unterschiedlicher Weise auf die vorgängige historische Katastrophe, den Zweiten Weltkrieg, reagiert.

und sich angesichts dieser mehr oder minder deutlich vom Literatursystem der Vorkriegszeit abhebt. In diesen beiden Dekaden schreiben etwa Autoren wie Max Frisch und Heinrich Böll Romane, veröffentlicht Luise Rinser, um auch eine zeitgleich schreibende Frau zu nennen, zahlreiche Erzählwerke.

Zeitgleich zu Haushofers Eheroman »Die Tapetentür« wird 1957 Martin Walsers Roman »Erstling – Ehen in Philipsburg« publiziert. Marleen Haushofer wird aber kaum je im Kontext zeitgleich schreibender männlicher Autoren, von denen viele zu Lebzeiten einen hohen Bekanntheitsgrad erreichen, rezensiert. Lieber sieht man sie als unzeitige und schüchterne Wegbereiterin der Frauenliteratur.

Ich meine, das Dilemma der Haushofer-Forschung liegt über Jahrzehnte in einer sich gegenseitig verstärkenden Mischung aus biografistischen und feministischen Interpretationsansätzen. Doch die Sache ist viel komplexer.

Meta, alias die junge Marleen Haushofer, alias die 46 Jahre alte Schriftstellerin und Verfasserin des Kindheitsromans, steht ständig auf Kriegsfuß mit ihren inneren Dämonen, ihren Ahnungen, Ängsten und Befürchtungen, ihrer Todessehnsucht, ihren kreisenden Gedanken, ihrer reichen Fantasie, ihren starken, tobenden, unterdrückten Gefühlen.

Alles ist Kampf, das merkt die kleine Meta Marleen schon früh. Auch die Kindheit. Das Schlachtfeld verändert und verlagert sich im Laufe der Zeit in den Körper, in die Ehe, in die Familie, in die Bücher. Als Kriegerin... Kriegerin? War ich nie. Als Kriegerin hinter der Wand, als taffe Abenteurerin einer sogenannten Robinsonade, wird sie endlich den anhaltendsten Erfolg haben. Nach ihrem Tod.

Zu Lebzeiten gibt es keinen echten Frieden. Meta mag kein braves Kind sein. Eine stille, tiefe Abneigung gegen alles, was brav ist, wächst in ihr und wird von Tag zu Tag hartnäckiger. Wenn Vater brav sagt, ist es etwas anderes. Es klingt dann wie, spielen wir einmal braves Kind, nur so zum Spaß. Er zwinkert dazu mit einem Auge und alles wird lustig, sogar das Wort brav.

Leider ärgert Mama sich darüber und ein Schatten fällt über das Spiel. Freche Antworten nennt Mama es, wenn Meta sagt, was sie denkt. Aber es ist so schwierig, nicht zu sagen, was man denkt. Manchmal gelingt es Meta, aber das ist gar nicht lustig. Alles miteinander stimmt dann plötzlich nicht mehr. Freche Antworten geben dagegen ist wundervoll, aber nur ganz kurze Zeit. Gleich darauf, wenn Mama böse wird, ist es nicht mehr wundervoll.

Auch wenn Meta Sieger bleibt und trotzt, ein dicker, schwarzer Kummer bleibt zurück. Ganz langsam wächst eine Wand zwischen Mutter und Tochter auf. Eine Wand, die sich in den Augen der Mutter und Tochter befindet.

die Meta nur in wildem Anlauf überspringen kann. Kopfüber in die blaue Schürze, in eine Umarmung, die Mama fast den Hals verrenkt und ihr das Haar aus dem Knoten reißt. »Musst du denn so wild sein? Entweder du bist verstockt oder du bringst mich fast um vor lauter Wildheit. Kannst du kein braves, sanftes Kind sein?« Meta kann kein braves, sanftes Kind sein. Verzagtheit überfällt sie und lässt ihre kleinen Arme niedersinken. Die Wand schlankt.

ist wieder ein winziges Stück gewachsen. Der Stoff, die Wand, alles war immer schon da. In mir. Groß und gelehrt muss sie noch werden. Dass sie etwas Besonderes ist, weiß sie längst. Nur die Großen haben es noch nicht gemerkt. Unmissverständlich. Und sich ihrer Überlegenheit, ihrer Außergewöhnlichkeit bewusst, schreibt Meta, alias Marleen Haushofer, es nieder in ihrem keineswegs harmlosen Kindheitsroman.

ihre lärmempfindliche und höchst geruchsempfindliche Hochsensibilität, ihre Überdurchschnittlichkeit. Marleen fiel nicht nur als Försterstochter unter den Bauern- und Handwerkerkindern in der Schule auf, sondern auch wegen ihrer überdurchschnittlichen Begabung. Sie war eine Einserschülerin, außer beim Singen, das war ihr der Überempfindlichen zu laut. Aber sie war auch rätselhaft. In der Klasse galt sie als Wildfang, bald lustig und zu jedem Wirbel aufgelegt,

bald reserviert gegenüber den Mitschülern. Sie wirkte oft melancholisch. Ihr verträumter Blick erweckte den Eindruck, sie sei nie ganz da. Ihre intellektuelle Überdurchschnittlichkeit, ihre filmreife, überbordende, häufig aggressive Fantasie, ihre scharfe Beobachtungsgabe, ihre seismografische Empfindsamkeit, auch ihre subtilen Ängste, die sie in eine ganz einsame Welt an einen gefährlich klaffenden Abgrund zu treiben drohen,

All das macht sie zu etwas ganz Besonderem, das die spätere, stille Frau Haushofer vor ihrer Umgebung mit betont bescheidenem Auftreten lebenslang zu kaschieren weiß. »Es wäre gut, mit dem Feind Frieden zu schließen. Aber dazu ist es wohl zu spät. Zu viele Nesseln modern schon auf dem Misthaufen. Sobald man eine böse Tat vollbracht hat, wird man für ewige Zeiten bestraft. Das ist auch ganz in Ordnung so. Sie muss die Rache der Besiegten hinnehmen.«

Meta friert und zieht die Tuchent hoch. Sogleich fangen die Blasen wieder zu brennen an. Wenn es doch einmal Frieden und Ruhe gäbe. Alle lieben Meta und Meta liebt sie. Kein Streit, keine Eifersucht, keine bösen Erinnerungen. Meta ist ein kleiner Engel. Abends bringt Mama sie zu Bett. Meta war den ganzen Tag brav und hat kein Grashalm gekränkt. Der Schlaf kommt sanft und bringt nur Zärtlichkeit.

Das Haus breitet seine alten Arme aus und nimmt sie auf, kühl und trostreich. Aber das gibt es wohl nur für brave Kinder. Und sie wünscht es sich ja auch nur in den schwarzen Nachtstunden und in der tiefsten Erniedrigung. Morgen wird sie erwachen, die Wunden werden verheilt sein und sie wird zu Mama etwas ganz Böses sagen, eine Ohrfeige einstecken und verstockt in die Schule abziehen. So ist das wirkliche Leben.

Kein Mensch ahnt, was für ein gutes, edles Kind Meta manchmal vor dem Einschlafen ist. Oder war es nicht edel von ihr, die Familie mit schönen Gläsern zu beschenken? Auch wenn sie diese Gläser im Kopf gemacht hat und keiner sie sehen kann? Viele Tage lang hat sie an diesen Gläsern gezaubert. Sehr glücklich ist sie dabei gewesen.

Vater hat nur blaue Gläser bekommen. Zum Weinen schön war das Glockenblumenglas. Mama haben alle gelben Gläser gehört, in denen die Sonne eingefangen war. Und Nandi, der liebe kleine Bruder, die purpurroten. Sie selber hat nur das weiße Eisblumenglas für sich behalten. Jeden Abend ist sie ermattet vor Schöpferfreude eingeschlafen, ganz leer und selig. Aber was nützt das schon?

»Kann sie vielleicht sagen, Mama, ich hab dir ein Sonnenblumenglas gezaubert?« Und eines Abends, nach einem Streit mit Mama, ist es ausgewiesen. Nicht einmal ein gewöhnliches Wasserglas kann Meta jetzt zaubern. Ihre Kraft ist dahin. Nie wieder wird ihr etwas so Wunderbares gelingen. Dumm und müde starrt sie auf die Wand. Sie legt die blasenbedeckte, brennende Hand an die kühle Mauer und hört ein zartes Knistern. »Das Haus schläft auch nicht.«

Es kann ja nicht schlafen, wenn Meta sich hin und her wirft im Bett. Gemeinsam werden sie auf das Ende der langen schwarzen Nacht warten. Bis zu meinem 14. Lebensjahr war ich ein todunglücklicher Mensch. Man hatte mich zu den Ursulinen nach Linz gegeben.

Der Übergang von der vollkommenen Freiheit im und rund um das Elternhaus zum Klosterleben führte zu schwersten Depressionen. So beginnt die zweite Stunde dieser langen Nacht über das Rätsel Marleen Haushofer. Dieser Wechsel hinter Klostermauern bedeutet für die Schülerin gleichsam die Vertreibung aus ihrem Garten Eden. Es ist der erste Schritt hinein in die bürgerliche Umzäunung der Domestikation. Musik

Bis zu meinem 14. Lebensjahr war ich ein todunglücklicher Mensch. Man hatte mich zu den Ursulinen nach Linz gegeben. Der Übergang von der vollkommenen Freiheit im und rund um das Elternhaus zum Klosterleben führte zu schwersten Depressionen. Es war wie eine Verbannung. Für die 10-jährige Marleen bedeutete der Eintritt ins Internat im Herbst 1930 die große Zäsur ihrer Kindheit.

Es gab zwar auch im nähergelegenen Steyr ein Gymnasium für Mädchen, doch täglich zwei Stunden hin und zurück, das kam nicht in Frage. Außerdem entsprach das Internat in der Landeshauptstadt Linz so ganz dem Geschmack der strengen Katholikin Maria Frauendorfer. Marleen Haushofers Mutter soll tiefreligiös gewesen sein, bis zur Bigotterie. Sie bezeichnete sich selbst stolz als Tatkatholikin. Schule und Internat wurden vom Orden der Ursulinen privat geführt.

Der Ruf dieses religiösen Ordens war hervorragend. Das Mädchen-Real-Gymnasium galt bald als die beste und vornehmste Mädchenschule Oberösterreichs. Die ersten 14 Tage im Internat merkt Meta gar nicht, was um sie herum vorgeht. Die Tage und Wochen kriechen dahin und sie glaubt nicht mehr, dass es das Forsthaus und seine Bewohner wirklich gibt. Sie lebt in einer unbegreiflichen kalten Welt, in der sie bestimmt bald sterben wird müssen.

Es macht ihr ohne dies nichts aus. Es gibt gar nichts mehr, was sie freuen könnte. Und immerzu muss sie kratzende, schwarze Wollstrümpfe anziehen. Sie erwähnt ihren Verdacht in keinem Brief. Wer weiß, was mit ihren Briefen geschieht. Wahrscheinlich gibt es ein großes Zimmer, in dem die Post der vielen heimwehkranken Kinder vermodert. Jeder Brief, den sie schreibt, wird zensuriert. Also ist es besser, möglichst wenig zu schreiben. Die Nonnen sollen gar nicht wissen, wie ihr zumute ist.

Freilich, sie bekommt Post von Mama. Aber diese Briefe hat sicher eine Nonne geschrieben. Die Nonnen sind überhaupt sehr schlau und erzählen immer von den Weihnachtsferien. Das tun sie bestimmt nur, um die Kinder still und fügsam zu halten. Und die anderen sind so dumm und glauben das Gerede. Die packen sogar ihre Koffer und sind voll freudiger Erwartung. Meta hat auch ihren Koffer gepackt, aber nur, um nicht aufzufallen. Sie sitzt im großen Studiersaal und hat sich ganz in sich zurückgezogen.

Dann spürt sie die Kälte nicht. Es ist gut, sich nicht zu bewegen. Nichts zu hören und nichts zu sehen. Das Leben im Kloster, es ist eine Zähmung. Zuerst geht sie äußerlich vonstatten. Mal in Haushofer werden die Locken geschoren. Mit den Krausenhaaren geht auch der Krause Sinn verloren.

Im Kloster soll der junge Löwe Meta gebändigt, ihr Löwenmut gebrochen werden. Marleen Haushofer selbst erzählte von ihrem ersten Schuljahr im Internat. Sie habe dort eine Klosterschwester gebissen. Vielleicht gab es auch jenen Tobsuchtsanfall wirklich, den sie in ihrem Roman »Eine Hand voll Leben« geschildert hat. Eine Nonne tadelt die schmutzigen Fingernägel der kleinen Elisabeth.

Worauf diese buchstäblich rot sieht und am liebsten zuschlagen würde. Und ich will schmutzig sein. Ich will schlecht sein. Lass mich los. Geh weg. Geh weg. Weg. Weg.

Sie rollt das Leben einer Frau von Mitte 40 namens Betty, also Elisabeth, auf. Als Mittelschülerin weist Elisabeth starke Ähnlichkeit mit Meta auf und trägt wie diese deutliche Züge Marleen Haushofers. Elisabeth, in deren Hirn schon früh rebellische Gedanken erwachten, erinnert sich an ihr Leben.

an das ungebärdige Kind, das sie einmal war und das um sich schlug und an den Fesseln zerrte, bis es erschöpft dastand, verlassen von jedem Trost, aber frei. Denn die Kindheit ist weder sanft noch idyllisch, sondern der Schauplatz wilder, erbitterter Kämpfe unter der Maske rosiger Wangen, runder Augen und unschuldiger Lippen.

und sie erinnert sich an die verheiratete Frau, die sie später wurde, an die heimlichen Besuche bei ihrem Geliebten und daran, dass diese Frau eben dieselben Kämpfe gegen die umschlingenden Fesseln zu kämpfen hatte wie das Kind, mit eben demselben Ergebnis.

Als Erwachsene führte Elisabeth über ein Jahr lang ein Doppelleben als verheiratete Mutter eines Kindes und als Geliebte des Geschäftsfreundes ihres Mannes. Dann brach sie aus der Trost und Freudlosigkeit beider Leben aus, indem sie einen Suizid vortäuschte und spurlos verschwand.

Ihre ganze Leistung bestand darin, an dem schmalen, geraden Weg weitergebaut zu haben, den sie als Zehnjährige begonnen hatte, an dem Weg durch den Urwald, resümiert die, nach zwei Jahrzehnten zu ihrem inzwischen erwachsenen Sohn unerkannt zurückgekehrte Frau ihren Lebensweg.

Aber, heißt es weiter, sie bereute nichts. Das Leben war schön, grauenhaft, sanft und ohne Gnade und immer stärker als das Herz, das sich dagegen stemmte. Das klingt wie eine frühe Vorwegnahme der letzten Zeilen, die die schwerkranke Marleen Haushofer anderthalb Jahrzehnte später, wenige Tage vor ihrem Tod, in ihr Tagebuch schreiben sollte.

Dieser Weg durch den Urwald also, den sie als Zehnjährige begonnen hatte, das heißt der Eintritt in die Klosterschule, wird auch in »Einer Hand voll Leben« als eine Zeit der Prüfung beschrieben. Die ersten Monate im Internat verbrachte Elisabeth wie ein Mensch, den man brutal ins Wasser geworfen hat und der jetzt um sein Leben schwimmt. Zuflucht sucht Elisabeth bei den Dingen.

Beim Maulbeerbaum im Schulhof, der für sie eine Verbindung zu ihrer magischen Welt der Pflanzen und Tiere zu Hause darstellt. Dass die Erwachsenen keineswegs unfehlbar sind, das erschüttert ihr Vertrauen. Es reizt sie aber auch zum Widerspruch und zu Tränen, bis sie zermürbt anfängt, den Konflikt zu meiden. Den ganzen Tag lang fürchtete sie sich fröstelnd vor dem eiskalten Bett, in dem sie sich nie erwärmen konnte. Während die feuchtkalte Tuchhänd sie fast erdrückte,

wuchs ihre Verzweiflung von Minute zu Minute, bis sie den Polster auf ihr Gesicht legte und zu weinen begann. Es schien Betty, als hätten diese durchfrorenden Nächte einen kleinen, eisigen Kern in ihr zurückgelassen, den niemand auftauen konnte.

weil das ein übermenschliches Maß von Wärme und Liebe gefordert hätte. Dieses Bild emotionaler Kälte und Erstarrung, das Marleen Haushofer ihrem gesamten Werk überdeutlich eingeschrieben hat, geht auf ihr eigenes Erleben als ein frierendes, einsames, heimwegeplagtes Mädchen in der Hölle-Klosterschule zurück. Eine Hölle unter Nonnen, die Marleen sich niemals als feurigen Ort, sondern klirrend vor Eiseskälte vorstellte.

Etwas zerbricht in ihr. Aus dem sensiblen, ungebärdigen Wildfang, dem lebendigen Waldkind, das ganz bei sich sein konnte, wird ein konfliktscheues, von Gott verlassenes, angepasstes, stummes Wesen, ausgesetzt in Fremdheit. Es ist nicht nur der schillernde Zauber, der erlischt,

Der kleine eisige Kern ist fortan auch der Keim zahlreicher Krankheiten. Marleen erkrankte an Schwindsucht, und zwar im Herbst 1933. Sie selbst stellte später einen direkten Zusammenhang zu den schwersten Depressionen her, die sie im Internat quälten. Ich wurde ernstlich krank und für ein Jahr aus der Schule genommen. Im Winter oder Frühling 1934, in jenem außerhalb des Internats verbrachten Jahr,

bekam Marleen dann zu Hause in Effertsbach auch noch eine lebensbedrohliche Lungenentzündung. Insgesamt ist die Anzahl der krankheitsbedingt entschuldigten Fehlstunden, die in Marleens Jahreszeugnissen auftauchen, beachtlich. Schon in der ersten Klasse waren es 104, in der zweiten 286. Dann waren es noch einmal 202 in der sechsten Klasse. Nie lag ihre Zahl unter 100.

Ja, die Lungenentzündung, an der Marleen Haushofer als pubertierende 14-Jährige erkrankt, bringt sie tatsächlich in höchste Gefahr. Die Familie bangt um ihr Leben. Plötzlich ist Marleen vom Störenfried zum Sorgenkind geworden. Aber es war mir nach dem Kranksein ein Licht aufgegangen. Ich hatte gelernt, mich nicht mehr gegen alle möglichen Hindernisse aufzulehnen. Mit dem Kopf durch die Wand, das hatte ich aufgegeben.

Aber noch etwas geschieht in dieser Zeit, in der die heranwachsende Marleen so ganz auf ihren Körper zurückgeworfen wird. Die Entdeckung der Sexualität. Und die ist nicht gerade erfreulich. Vater und Mama müssen das Abscheuliche ja auch zweimal getan haben, sonst wären sie und Nandi nicht auf der Welt. Endlich versteht Meta, warum Kinder ihren Eltern dankbar sein müssen.

An das große Opfer erinnert man sie besser nicht. Das mag im Nachhinein komisch klingen, aber eine positive oder auch nur neutrale Einstellung zur Sexualität entsteht auf diese Weise nicht. Im Gegenteil, Marleen alias Elisabeth beginnt sich vor ihrem Körper zu ekeln. Zumal die Nonnen sie mit Verhaltensmaßregeln eindecken wie während der Menstruation ihre Strümpfe nicht zu wechseln und sich nur vorsichtig zu waschen.

Elisabeth in »Einer Hand voll Leben« weiß nun, dass es sinnlos ist, sich gegen die vorgezeichnete Rolle als Frau aufzulehnen. Sie resigniert und gibt damit auch den Widerstand gegen die Erziehung zum braven Mädchen auf. Was Marleen Haushofer in ihrem Selbstbild »Dem langen Kranksein« zuschreibt, erklärt sie für ihre Romanheldin mit der unabänderlichen Festlegung auf das Geschlecht. Für sie selbst wird wohl beides zusammengewirkt haben.

und interessant und seltsam zugleich sie erhebt ihr ganz persönliches zähes festhalten am kindsein zur norm dahinter verbirgt sich wie ich finde ein pechschwarzes männerbild nur so läßt sich nämlich marleen haushofers überzeugung erklären daß der frühzeitige einbruch des geschlechtlichen sprich dieses gefallenmüssen dieses werben um den mann

eigentlich ein entsetzliches Verbrechen ist. Was im Kind an Gutem steckt, wird umgebracht. Und weiter gedacht, es kommt einem Verrat gleich. Auch dieses Thema, Verrat an anderen, Verrat an sich selbst, Verrat am eigenen Geschlecht, durchzieht das gesamte Werk von Marleen Haushofer und weist auf ihr Doppelleben hin.

Als Elisabeth das klösterliche Internat verlässt, erleidet sie erneut eine Depression. Und plötzlich hat sie Sehnsucht nach Härte, Kühle und Arbeit, nach einem Widerstand, der zu brechen wäre. Doch nichts dergleichen, keine neue Herausforderung erwartet sie.

Stattdessen entschließt sich die Romanheldin, einen Handelskurs zu besuchen. Und auch Marleen soll in jenem Herbst 1939 in Steyr einen solchen Kurs in Maschinenschreiben begonnen haben. Die Lebensenergie scheint zwar zurück, aber es blieb alles ein wenig unverbindlich. Die Trauer sanft und die Freude gedämpft und unpersönlich. Die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit ist nicht in erster Linie ein physischer Vorgang,

Für Marleen Haushofer bedeutete sie den Verlust der existenziellen Intensität, der Lebendigkeit. Und wie drückt es Meta in »Himmel, der nirgendwo endet« aus? Dieses Ausgeschlossensein aus dem Einssein mit sich selbst, aus dem Aufgehobensein in der Natur, aus der Geborgenheit der Gemeinschaft mit den Gefährten der Kindheit? Ab heute wird sie immer die Spiele der Fremden mitspielen.

»Mehr kann man nicht für sie tun.«

Marlen Haushofer hat dieses Recht ausgiebig in Anspruch genommen. Sie gehört nach dem Urteil ihres Freundes und Nachlassverwalters Oskar Jan Toschinski zu jenem Schlag von Schriftstellern, deren wichtigster Lebensabschnitt die Kindheit war. Deren erste Lebensjahre sich so stark und so nachdrücklich eingeprägt haben, dass alles Erwachsenensein für sie nur melancholisches Weitermachen, nur das Rotieren eines in Schwung versetzten Kreisels zu sein scheint. Musik

Lieber Herr Weigl, ich antworte gleich auf Ihren Brief, damit Sie sich auch nicht die geringsten Sorgen meinetwegen machen müssen. Ich bin sehr froh, dass Sie so aufrichtig zu mir sind. Dass ich ein recht schwerer Fall bin, weiß ich ja selber auch. Es stimmt nicht, dass ich nicht idyllisch sein will. Ich möchte sehr gern, aber das wäre gelogen.

Gerade diese Mischung von Dämonie und Idylle, auf die ich unentwegt stoße, bereitet mir das größte Unbehagen und fasziniert mich zugleich. Vielleicht wäre es meine Aufgabe, gerade das glaubwürdig zu gestalten. Wahrscheinlich fehlt mir dazu die dichterische Kraft. Oder ich müsste einmal ein paar Monate allein sein und Ruhe haben. Marleen Haushofer ist 32 Jahre alt, als sie diesen Brief schreibt.

Rückblende. 1939, mit 19 Jahren, hatte sie ihre Reifeprüfung abgelegt. Ein Jahr nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland wurde anschließend von den Nationalsozialisten als Arbeitsmeid nach Ostpreußen verpflichtet. Hatte 1940 in Wien das Studium der Germanistik und Kunstgeschichte begonnen, einschließlich Vorlesungen in Geschichte, Philosophie und Psychologie, die in den 90er-Jahren in Wien geöffnet wurden.

Voraussetzung für ein Studium war die Mitgliedschaft beim NSD, dem Studentenbund der NSDAP, der Sportveranstaltungen, Schulungen und Erntehilfeeinsätze organisierte. Marleen Haushofer war Mitglied und erfüllte ihre sogenannte körperliche Grundausbildung bei einem Sanitätsdienst. Vom Einsatz bei der Erntehilfe 1940 wurde sie befreit, wohl aus gesundheitlichen Gründen.

1941 hatte sie ein uneheliches Kind bekommen, von einem Medizinstudenten, dem sie in Ostpreußen begegnet war, einen Jungen, den sie für sechs Jahre in fremde Hände gab, ein Trauma und das Ende ihrer Jugend. Es scheint so, als habe das Erlebnis mit diesem ersten Verlobten

der das Vertrauen der Anfang-20-Jährigen missbraucht und den Sex wohl erzwungen hatte, als habe dieses Erlebnis Marlenes Verhältnis zum anderen Geschlecht nachhaltig geprägt, ihre Skepsis in tiefes Misstrauen verwandelt, ja ihr Grundvertrauen in das Leben erschüttert.

Immer wieder wird später in ihren Texten verschlüsselt davon die Rede sein, dass einmal etwas in ihr abgestorben, verschüttet worden sei. 1941, gleich nach der Geburt des Kindes, heiratete sie den angehenden Zahnarztmann Fred Haushofer, den sie in der Straßenbahn kennengelernt hatte, bekam 1943 den zweiten Sohn und lebt seit 1947 mit Mann und den beiden Söhnen im oberösterreichischen Städtchen Steyr.

Doch die bürgerliche Fassade, das zu Anfang durchaus gewollte und gewünschte Idyll der Kleinfamilie, bekommt bald Risse. Marleen hat begründete Ursache zur Eifersucht. Der junge Herr Doktor hat sich in der Kleinstadt schnell den Ruf eines Womanizers erworben und Marleen sucht 1948 Anschluss an die literarische Szene in Wien.

Sie nimmt Kontakt auf mit zwei Förderern junger literarischer Talente, Hermann Hakel, Lyriker und Erzähler der eine, Hans Weigel, Schriftsteller und Theaterkritiker der andere, die beide erste Texte von Marleen in Zeitungen unterbringen. »Lieber Herr Weigel,

Gerade diese Mischung von Dämonie und Idylle, auf die ich unentwegt stoße, bereitet mir das größte Unbehagen und fasziniert mich zugleich. In ihrem Wiener Freundeskreis gab Marleen sich als richtige Landpomeranze. Bescheiden, ruhig, zurückhaltend, aber auch warmherzig.

Was für ein Kaliber diese Försterstochter war, die aussah und redete, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Marlene H., Försterstochter, hohe Stirn, große Traumaugen, zwei Kinder, ländlicher Dialekt, schüchtern und verhalten, aber innerlich einheitlich und fest. Welche intellektuelle Potenz und Willenskraft sich dahinter einer vordergründigen Schwäche verbargen, das merkten die Freunde bald.

Besonders Hermann Hakel, mit dem sie bald eine Affäre begann. Und sie erkannten auch, dass sie sich von einem Moment auf den anderen in sich zurückziehen konnte. Dass sie sich ab einem gewissen Punkt einem allzu vertraulichen Umgang verweigerte. Für Erika Danneberg, die damals Lyrik schrieb und Hermann Hakel bei seiner Arbeit unterstützte, war Marleen ein Nixenwesen.

Eine Frau, die in ständiger Gefährdung an der Grenze lebte, bot in einer anderen, unter der Oberfläche liegenden Sphäre, immer bereit, in ihr Reich abzutauchen. Eine Elfe nannte sie später ein Freund, unglaublich liebenswürdig, charmant, freundlich, andererseits aber auch ein bisschen unheimlich. Wäre sie nicht so hübsch, so jugendlich und so wohlerzogen gewesen?

Hätte man auch sagen können, eine Hexe. Eine Hexe. Gerade diese Mischung von Dämonie und Idylle fasziniert mich.

Ich müsste einmal ein paar Monate allein sein und Ruhe haben zum Schreiben. Marleen Haushofer ist 32 Jahre alt, hat erste Kurzgeschichten geschrieben und einige Texte veröffentlicht, unter anderem im Jahrbuch von 1951, das der Kritiker Hans Weigel unter dem Titel »Stimmen der Gegenwart« herausgibt, als sie ihrem Mentor am 23. Juli 1952 diesen Brief schreibt.

Da hat Weigel gerade das Manuskript ihres ersten Romans gelesen. Er war großartig geschrieben. Er war lebendig, plastisch. Er hatte alles, was ein Roman haben soll. Aber er erzählte, dass irgendwo einige Frauen sind und sie es auf sorgsam ausgeklügelte Manier schließlich dazu bringen, dass ein Mann von ihnen umgebracht wird, ohne dass sie als Täterinnen belastet sind. Ende des Romans. Der klassische ungesühnte Mord. Ein Krimi?

Eine Satire dieser ach so harmlosen Hexe? Marleen Haushofer hatte eine Schwäche für Krimis, auch für Groschenromane, vor allem für Science Fiction. Eine höhnische Parabel? Ein polemisch unterhaltsames Frauenkomplott mit kriminalistischer Spannung? Ohne das erwartbare erlösende Houdanit? Hans Weigel rät Marleen Haushofer, aus Vorsicht den Roman nicht zu publizieren. Bis heute ist er verschollen.

Vermutlich hat Marleen Haushofer auch dieses Manuskript, wie viele ihrer als misslungen oder zu privat erachteten Texte, verbrannt. Über Jahrzehnte führt sie ja Tagebücher, die sie immer nur für eine gewisse Zeit aufbewahrt, um sie dann verschwinden zu lassen, zu verbrennen, auch Briefe. Nur weniges überdauert dieses Autodafé. »Weil sie sich nicht erinnern will? Weil sie sich immer neu erfinden will?«

weil sie die Zusammenhänge ihres Lebens unkenntlich machen will oder sich für ihren Groll, ihren aggressiven, hexenhaften Schadenszauber, ihre Mordlust schämt? Weil sie sich selbst ihre Arbeit, ihre Gedanken für wertlos hält? Weil sie diese depressiven Spuren verwischen will? Aus Verzweiflung? Lieber Herr Weigel, ich stehe auf einem Platz, auf den ich nicht gehöre.

»Lebe unter Menschen, die nichts von mir wissen. Und die Hälfte meiner Kraft geht schon auf in der Anstrengung, die es mich kostet, unauffällig zu bleiben. Je älter ich werde, desto klarer sehe ich, wie hoffnungs- und ausweglos wir alle verstrickt sind. Und ich bin froh für jeden, der nie zu Bewusstsein kommt. Verzeihen Sie, ich habe gar kein Recht, Ihnen derartige Dinge zu schreiben. Sie haben sehr viel Geduld mit mir.«

Sie bemängeln, dass sich in meinem Roman die Personen nicht ändern. Das beweist mir, dass ich nicht im Stand war, das glaubhaft zu machen. Gerade dass sich nichts ändert, war ja mein Thema. In den 50er Jahren gilt in Österreich teilweise noch das Ehe- und Familienrecht aus dem Jahr 1811. Weißer Wohler.

Im Wörterbuch der deutschen Sprache kann man sehen, wie die Verwendung des Begriffs Objektivität mit der Aufklärung rasant ansteigt und Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt findet. Zur selben Zeit passiert noch etwas anderes, das die moderne Gesellschaft und ihr Bildungssystem bis heute prägen wird. Im Bürgertum bildet sich ab 1800 eine neue Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern aus.

Weiblichkeit wird verknüpft mit Häuslichkeit, Körperlichkeit, Empfindsamkeit. Männlichkeit wird verknüpft mit Öffentlichkeit, Geistigkeit, Objektivität. Diese Differenz verankert sich im Sozial-, Arbeits- und Rechtssystem als Polarisierung von Heim und Welt. Demzufolge sind Frau und Mann fest verortet. Der Mann in der Welt, die Frau im Heim. Musik

Das patriarchale Modell der Versorgungsehe ist die Grundlage. Es gilt die Haushaltsführungspflicht der Frau. Der Ehemann ist das Haupt der Familie. Er kann seiner Frau verbieten, berufstätig zu sein. Gesetzlicher Vertreter ehelicher Kinder ist automatisch der Vater. Erst seit 1978 ist es Frauen erlaubt, ohne Zustimmung des Mannes einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die Sorgearbeit ist eine mentale Last. Windeln kaufen, Geburtstagskuchen backen, Sportsachen in den Turnbeutel packen, dabei prüfen, passen sie noch, wann ist der nächste Termin beim Kieferorthopäden, wie ist er nochmal, sind alle Rechnungen bezahlt, für die kranken Eltern das kranke Kind bei der Krankenkasse anrufen, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klinik, die Klin

Es sind die Frauen, die diese Dinge in ihrem Gehirn herumschleppen. Zusätzlich zu allem, womit sie sonst noch so jonglieren, wenn sie ein Labor leiten, ein Buch schreiben, eine Vorlesung vorbereiten, im Büro sitzen. Bis 1978 hat die Frau kein Recht auf eigene Persönlichkeitsentwicklung und Berufstätigkeit. Es gilt das Besitzrecht des Mannes am Körper seiner Frau.

Die Vergewaltigung in der Ehe ist bis 1989 erlaubt. Erst 1997 findet ein Frauenvolksbegehren statt mit den Zielen gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, Recht für jede und jeden auf Vereinbarung von Beruf und Familie, Unterstützung von Alleinerziehenden. Männer haben einen Körper, Frauen sind Körper.

Diese Herrschaftsideologie wirkt bis heute nach. Ein typisch weibliches Gefühl ist es doch, zu glauben, dass es nicht wirklich legitim ist, was wir machen, oder? Immer wieder heißt es in Marleen Haushofers Texten, es sei alles viel zu schwierig und man könne nicht das Geringste daran ändern. Man müsse es einfach durchstehen, alles aushalten, das Leben über sich ergehen lassen.

Mit der Zeit wird alles besser. Man muss nur stillhalten. Stillhalten, heißt es in der Erzählung Begegnung mit dem Fremden. Beißende Ironie, abgeklärter Spott, passive Kapitulation, depressive Resignation, ein stiller Aufschrei anno 1950. Fast 90% der Menschen haben Vorurteile gegenüber Frauen. Befund des Gender Social Norms Index der Vereinten Nationen im Jahr 2020.

Darin haben auch drei Emanzipationsbewegungen nichts geändert. Der internalisierte Sexismus sitzt tief. Er ist systemisch. Seit Jahrhunderten. Unsere Gesellschaft ist so durchwebt von sexistischen und misogynen Ansichten und Praktiken, dass auch Frauen nicht automatisch qua Geschlecht frei davon sind. Das Muster dahinter: Dinge, die weiblich kodiert sind, sind weniger wert. Es ist das verinnerlichte Gefühl, machtlos und inkompetent zu sein.

Was noch im 21. Jahrhundert machtvoll wirkt und der Logik der Misogynie unterliegt, gilt 1952 in der Nachkriegszeit ganz besonders. Eine gute Frau ist eine Frau, die sich kümmert, die gute Ehefrau, die sorgende Mutter. Eine schlechte Frau ist eine, die stattdessen ihren eigenen Kopf hat und einen Anspruch erhebt, etwa eine autarke Persönlichkeit, eine eigenwillige Schriftstellerin zu sein.

Wer die Strukturen mit seismografischem Feingefühl durchschaut, hat es schwer, auch im natürlich männlich dominierten Literaturbetrieb. Lieber Herr Weigel, gerade dass sich nichts ändert, war ja mein Thema in meinem ersten Roman. Tatsächlich wünsche ich mir jetzt einen handgreiflichen Erfolg nur, damit man mich endlich in Ruhe arbeiten lässt und nicht behaupten kann, dass ich meine Zeit und Gesundheit für eine fixe Idee opfere.

Im Übrigen ist die Zeit, in der ich schreiben kann, und ich schreibe sehr mühsam, für mich die erträglichste. Da bin ich manchmal für Minuten fast glücklich. Wenn wir in ein gewisses Alter kommen, befällt uns Angst. Und wir versuchen, etwas dagegen zu tun. Wir ahnen, dass wir auf verlorenem Posten stehen und unternehmen verzweifelte kleine Ausbruchsversuche. Wenn der Erste dieser Versuche misslingt, und er tut es in der Regel,

Wir töten Stella. Mit der Wahl der ersten Person Plural für die Überschrift dieses Romans, oder besser dieser Novelle, wird Stellas Tod als Kollektivverbrechen eingeführt.

Dabei handelt es sich aber nicht mehr, wie im verschwundenen ersten Roman von Marleen Haushofer, um die gemeinschaftlich ausgeführte Tat einer Gruppe, sondern um ein Bündel von subjektiven Schuldzuweisungen der Ich-Erzählerin Anna. Stella gehörte zu den Lebenden. Viel mehr als einem Menschen, glich sie einer großen Katze oder einem jungen Laubbaum. Gedankenlos und unschuldig saß sie an unserem Tisch und wartete auf das Schicksal.

Richard brauchte nur die Hand auszustrecken, um ihr Gelenk zu umfassen. Er tat es nicht, aber er lächelte, während er ruhig und voll Genuss das Fleisch auf seinem Teller zerschnitt. Richard ist der geborene Verräter. Mit einem Körper ausgestattet, der ihn zum unaufhörlichen Genuss befähigt, könnte er zufrieden leben, wenn er nicht obendrein mit einem blendenden Verstand begabt wäre. Dieser Verstand erst macht die Vergnügungen seines genusssüchtigen Körpers zu Untaten.

Worum geht es in diesem Kurzroman? Die junge Stella verbringt zum Studium einige Zeit bei Anna und ihrer Familie in der Großstadt.

Sie ist die Tochter von Annas Cousine Luise und wird dort unter Annas kühlem Blick von Ehemann Richard verführt, geschwängert und fallen gelassen und stirbt darauf bei einem wohl selbst verschuldeten Verkehrsunfall. Das Familienleben nimmt unterdessen seinen ruhigen, geordneten Gang. »Früher sah ich die Schuld nur bei Richard und ich fing an, ihn zu hassen.«

Aber jetzt weiß ich längst, es ist nicht seine Schuld, dass ich auf die Tatsache seines Vorhandenseins auf diese Weise reagiere. Es gibt so viele von seiner Art. Alle Welt weiß es offenbar und nimmt es hin. Und niemand macht ihnen den Prozess. Wer macht es, dass ich es nicht ebenso hinnehmen kann? Ich höre langsam auf zu hoffen, dass sich dieser jemand eines Tages stellen wird. Und selbst wenn er es täte, ich wüsste nichts mit ihm anzufangen. Aber das Grauen...

Und das Wissen um die Wahrheit, die man nicht wissen sollte, sind eingefügt in die Ordnung des Alltags. Ja, ich klammere mich an diese Ordnung. An die regelmäßigen Mahlzeiten, die täglich wiederkehrende Arbeit, die Besuche und Spaziergänge. Ich liebe diese Ordnung.

die es mir möglich macht, zu leben. Wolfgang war, ohne es zu ahnen, ein Werkzeug.

Ihm zuliebe, um ihn in der Illusion zu erhalten, er wachse in einer geordneten Familie auf, habe ich zu allem geschwiegen. Aber nicht nur Wolfgang zuliebe.

sondern auch einfach aus Feigheit und Bequemlichkeit. Das erzählende Ich sieht sich nicht aufgehoben und partiell entlastet in einem Verbund von Mitschuldigen, wie es angesichts des Titels denkbar wäre. Wir töten Stella, sondern fokussiert immer wieder das eigene Verhalten als schuldhafte Unterlassung.

Diese Selbstbezichtigung erleichtert sie aber nicht im Sinne einer christlichen Beichte, die letztlich zur Vergebung der Sünden führt. Mit den katholischen Ritualen tut sich die Erzählerin alias Marleen Haushofer ja generell schwer. An die Stelle von Vergebung tritt die Notwendigkeit von Rache, von Bestrafung, die die Erzählerin an sich selbst ausagiert.

Ich vertrete als Literaturwissenschaftlerin ja die These, dass Marlene Haushofer das Thema »reduziertes Leben« in ihren Büchern variiert und der biologische Tod wird hier als gelungene Ausbruchsvariante aus diesem defizienten, diesem moralisch als ganz und gar falsch empfundenen Leben betrachtet, sodass die Erzählerin konsequenterweise die tote Stella beneidet und sich an ihre Stelle wünscht.

»Stella, dieser dummen jungen Person ist gleich der erste Ausbruchsversuch geglückt. Es wäre mir lieber, ich könnte mit ihr tauschen und müsste nicht hier sitzen und ihre jämmerliche Geschichte schreiben, die auch meine jämmerliche Geschichte ist. Viel lieber wäre ich tot wie sie und müsste den kleinen Vogel im Garten nicht mehr schreien hören.«

»Stella, noch hinter der feuchten Erde geliebt und gehalten von hundert kleinen Wurzelfingern, um wie viel endgültiger bin ich tot als du?« »Es darf mich nicht wundern, wenn der Garten anfängt, mich zu zerstoßen. Die Linde weiß von meinem Verrat. Auch der sterbende Vogel weiß es. Sie wollen mich nicht mehr. Ich lese es in den Augen der Kinder. Ich spüre es, wenn ich fremde Hunde und Katzen streichle.«

Und wenn ich mich der Hyazinthe auf meinem Tischchen nähere, erstarrt sie in Abwehr und Furcht. Verrätern wird nicht verziehen, sagen mir ihre glänzenden Blüten. Und ihr Duft erinnert mich an den süßlichen Geruch, der von Stellas Bahre aufstieg. Eine nahezu jämmerliche Situation hat sich einige Jahre zuvor im Familienleben von Marleen Haushofer eingestellt.

Marleen, die mittlerweile als Assistentin in der Steirer Zahnarztpraxis ihres Mannes mitarbeitet, kann seine stadtbekannten Seitensprünge nicht mehr ertragen. Und nach gut 8,5 Jahren Ehe wird sie im Juni 1950 schuldlos von Manfred Haushofer geschieden. Aber was passiert? Nichts. In ihrem Leben änderte sich nichts.

Weder zog ihr Mann, wie ursprünglich von ihr verlangt, aus der gemeinsamen Wohnung aus, noch suchte sie sich mit ihren Kindern eine neue Bleibe. Ihr Bruder Rudolf versuchte sie dazu zu überreden, nach einer kurzen Übergangsfrist nach Wien zu übersiedeln und dort neu anzufangen. Die Wiener Freunde wollten sie unterstützen. Marleen stimmte prinzipiell zu,

schob aber den Auszugstermin immer weiter vor sich her, bis der Aufbruch zu neuen Ufern endgültig im alltäglichen Weiterwursteln versandete. Nach wie vor glaubte sie wohl ihrem Ex-Mann Rücksichtnahme und Unterstützung bei seinem beruflichen Fortkommen zu schulden. Also versorgte sie weiterhin den gemeinsamen Haushalt und betreute die Kinder, als sei nichts geschehen. Half weiterhin, selbstverständlich ohne Entgelt, in der Praxis ihres geschiedenen Mannes mit.

Niemand in Steyr erfuhr von dem Geheimnis der beiden. Sie lebten ja munter Zimmer an Zimmer weiter zusammen. Auch in Marlins Wiener Bekanntenkreis sickerte die Geschichte von der Scheidung der vermeintlich, vermeintlich biederen Steyrer Bürgerfrau erst Jahre später durch. Und später wird sie Manfred Haushofer, den notorischen Fremdgänger, sogar ein zweites Mal heiraten. Und wieder wird es niemand erfahren.

Marlen Haushofer, die Meisterin der Selbstbeherrschung, mimt es weiter in der Kleinstadtkulisse, dieses treusorgende Mutter- und Hausfrau- und Zahnarztgattin-heile-Weltrollenspiel. Nach außen und nach innen. Ein Zufall, dass die Veröffentlichung von »Wir töten Stella« und die zweite »Heimliche Heirat« in denselben Zeitraum fallen? Sicher nicht. Es ist das Jahr 1958.

Nicht ekel war es, was mich erfüllte unter dem leichten Druck seiner Hand, sondern jene Furcht, die ich nur zu gut kenne. Die Furcht vor dem oberflächlich gezähmten Raubtier, das sich bei guter Fütterung und Wartung damit begnügt, kleine nächtliche Raubzüge zu unternehmen, nach denen es wieder zufrieden schnurrend auf sein Lager zurückkehrt. Und manchmal vergaß dieses Tier, die Spuren seiner Raubzüge rechtzeitig zu tilgen.

Es roch dann nach dem fremden Parfum seiner Opfer und trug blutrote Lippenstiftflecken auf seinem weißen Hemdkragen. Natürlich hätte ich flüchten können. Natürlich hätte ich flüchten können und habe auch jahrelang mit diesem Gedanken gespielt. Aber es ist in Wahrheit unmöglich zu flüchten. Das Leben mit Richard hat mich verdorben und unbrauchbar gemacht. Alles, was ich anfing, wäre sinnlos.

Seit ich weiß, dass es gütige Mörder gibt. Rechtsvertreter, die täglich das Recht verletzen. Mutige Feiglinge und treue Verräter. Die monströse Mischung von Engelsgesicht und Teufelsfratze war mir so vertraut geworden, dass jedes reine, unbefleckte Bild nur mein tiefstes Misstrauen zu wecken vermochte.

So hat auch mich die große grüne Hand, aus der ich gekommen bin, losgelassen. Ich falle und falle und niemand wird mich auffangen. Die Verstellung daheim kostet Kraft und geht allmählich an die Substanz. Marleen Haushofers literarische Spiegelbilder zeigen die klassischen Anzeichen der Melancholie, der Depression. Sie verlieren das Interesse für die Umwelt ebenso wie ihre Liebesfähigkeit.

In ihrem Tun gehemmt sind sie in ihrer Selbsteinschätzung gnadenlos negativ. Sie schließen sich ein und von der Außenwelt ab und erleben das als Glück und Unglück zugleich, als Rettung und Gefangenschaft. Die verlorengegangene Ordnung versuchen sie durch übertriebene Ordnungsliebe im Alltag wiederzuerlangen. Und sie empfinden das Verrinnen der Zeit, das Ticken der Uhr als unerbittliches, allesbestimmendes Diktat.

Es muss einmal gesagt werden: Marlen Haushofer hätte es weiterbringen können. Ihr Unglück war ein angeborener Widerwillen gegen mühsame oder langweilige Arbeiten. Vielleicht gegen Arbeiten überhaupt.

Deshalb ist es, nach meiner Meinung, einer der wenigen bewundernswerten Züge dieser Persönlichkeit, dass sie jemals ein Buch zu Ende geschrieben hat. Man stelle sich vor, wie dieses Leben verlaufen ist, als ununterbrochener Kampf zwischen Trägheit und Ehrgeiz. Denn natürlich war sie ehrgeizig und eitel wie jeder Schriftsteller. Musik

Wahrscheinlich kann nur ich als ihre Zwillingsschwester ermessen, wie groß dieser Ehrgeiz gewesen sein muss, wenn er sie davon abgehalten hat, jeden Abend um 9 Uhr freudig mit einem Buch ins Bett zu steigen. Denn dies war zeitlebens ihr größtes Verlangen. Und je weniger sie dieses Verlangen stillen konnte, desto verlockender und gefährlicher wurde diese Vorstellung für sie.

Schlafen, nur schlafen. Auch dieses Bedürfnis, hier ironisch aufgegriffen in ihrem Vermächtnis, Nachruf für eine vergessliche Zwillingsschwester, ist ein klassisches Zeichen einer Depression. Nach der Scheidung im Geheimen erkrankt Marleen Haushofer ernsthaft psychisch und begibt sich auf Anraten von Hans Weigel in Therapie bei dessen Freund Viktor Frankel.

Der Psychiater und Psychotherapeut entwickelt in seinen Vorlesungen an der Universität Wien, in Abgrenzung zur freudschen Psychoanalyse, ein religiös fundiertes existenzphilosophisches Weltbild, nach dem existenziell sinnvolles Leiden nicht bekämpft, sondern als notwendiges Durchgangsstadium zur persönlichen Reife erkannt werden solle. Jede und jeder habe die Freiheit, ihr oder sein Leben selbst zu verantworten.

Wie lange dieser Therapieversuch andauert, muss offen bleiben. Marleen Haushofers unheldische Heldinnen trauern alle einem früheren Ich nach, dem sie untreu geworden sind, das sie verraten und preisgegeben haben. In ihnen hat sich die Autorin selbst abgebildet. Aus der kleinen Meta, die leider nie ein Pflichtmensch wie ihre Mutter werden wird, ist schließlich genau das geworden.

Als Marlenes Bruder seine Schwester 1942 zum ersten Mal nach der Heirat wieder sah, soll er sich sehr erschreckt haben. Geradezu von einem Tag auf den anderen hatte die 22-Jährige ihre bisherige Selbstständigkeit aufgegeben, um in der Fürsorge für Mann und Kind aufzugehen, eine Rolle, aus der sie sich auch über ein Jahrzehnt später nicht mehr lösen konnte.

Was sie in ihren Büchern radikal in Frage stellte, versuchte sie in ihrem Leben schlecht und recht zu bewältigen. Wahrscheinlich bin ich verrückt. Ich lebe unter Menschen, die nichts von mir wissen. Nichts von mir wissen. Nichts. Nichts von mir wissen. Diese Anstrengung, die es mich kostet, unauffällig zu bleiben. Unauffällig.

Sie hat zwar bisher neben »Wir töten Stella« auch vier Hörspiele, zahlreiche Erzählungen und zwei weitere Romane vorgelegt, »Eine Handvoll Leben 1955« und »Die Tapetentür 1957«, die beide das Thema des nicht gelebten Lebens variieren, eingebettet in schneidende Gesellschaftskritik, das Fremdheitsgefühl in der bürgerlichen Familie, das kräfteraubende Doppelleben einer Frau, die einfach aussteigt,

Deren Flucht glückt, diese gelungene Flucht sie aber dennoch nicht glücklich macht? Ja. Ja, von Mal zu Mal zwingender treten Frauen die Flucht in die Isolation der Innenräume an. Allein sein. In einem Zimmer für sich allein. Frauen, die inmitten ihrer Familie unzugängliche Inseln errichten, um ein Minimum an Überlebensfreiraum zu erzwingen.

Eine Tür hinter sich zusperren, was konnte es Besseres geben, heißt es in der Tapetentür. In einer Handvoll Leben verlässt Betty ihren Mann, ihr Kind und auch ihren Liebhaber mittels vorgetäuschten Selbstmords, um ein neues, eigenes Leben zu beginnen.

Und die namenlose Frau in der Mansarde wird taub. Sie hatte einfach vergessen, wie man hört, um sich von der lieblosen Familie abzuschotten. Es sind allesamt mutige, schonungslos scharfsichtige, visionäre, literarisierte Gesellschaftsanalysen ihrer Zeit weit voraus. Doch von Erfolg, Anerkennung, gar Durchbruch, keine Spur. Ich bin manchmal ganz verzagt.

Eine Feministin stellt man sich anders vor. Doch in Simone de Beauvoir findet Marlene Haushofer eine Verbündete.

Eine Freundin im Geiste. Das andere Geschlecht sei immer über das der Männer definiert. Anno 1951 in jedem Fall, da erscheint das Buch auch auf Deutsch. Und es bliebe in der Welt der Männer diesen Stützen der Gesellschaft stets fremd.

Der Mann sei derjenige, der Recht spreche und im Recht sei. Die Frau gehe nach der Heirat in der Familie des Mannes auf. Sie müsse ihre Individualität aufgeben, während der Mann die Seine erst durch den Besitz der Frau besiegele. Ja, das sieht, das erlebt sie genauso und spielt doch weiter mit, stumm, verschlossen, mit zunehmender leiser Verzweiflung.

Auch dass es zwei große Fallen im Leben einer Frau gäbe, die Ehe und die Mutterschaft, diesem Befund kann sie nur zustimmen. Aber ebenso wenig wie Simone de Beauvoir kann Marlene Haushofer an eine natürliche weibliche Solidarität glauben. Durchschaut sie, die Scharfsichtige, dieses Erbe des patriarchalen Systems?«

Erkennt sie den internalisierten Sexismus darin? Marleen liebte und bewunderte Simone de Beauvoir. Bestätigt der Schriftsteller Oskar Jan Tauschinski, den Marleen Haushofer 1952 kennenlernte und der ihr Nachlassverwalter wurde. Und sie fühlte sich den Vorkämpferinnen der Frauenbewegung schwesterlich verbunden. Sie war aber selbst keine Kämpfernatur.

sie war ein äußerst kritischer kühl denkender Mensch daher zu leidenschaftlicher Liebe nicht recht geeignet die Männer das sagte sie einmal waren für sie nur große traurige Tiere die Männer fliegen auf mich sie halten mich für ein Zschappau für ein Kind eine einfältige dumme Person eine Feministin stellt man sich anders extrovertierter streitbarer vor

Dennoch gibt die sphinxhafte Elfe Marleen Haushofer in »Eine Hand voll Leben« mit provokant deutlichen Aussagen zur homoerotischen Mädchenliebe und Bekenntnissen zu sexueller Freiheit ohne jede Verbrämung durch Liebe mehr als einen bemerkenswerten Kommentar ab zur Emanzipation der Frau. In diesem Buch finden sich auch klare Worte zum Verhältnis zwischen Männern und Frauen um die Jahrhundertmitte.

Worte, die die zurückhaltende Frau Haushofer wohl weder in steirer Ärztekreisen noch an Hans Weigels Tisch im Wiener Café Raimund in den Mund genommen hätte. Ihre Protagonistin Elisabeth lauscht den endlosen, unfruchtbaren Debatten ihrer Freunde, die Papierblasen zu produzieren scheinen. Sie sah den tödlichen Ernst der Männergesichter, als handle es sich um Leben und Tod und nicht um ein bloßes Spiel der Eitelkeit.

»Dass sich die Unterlegene insgeheim überlegen fühlt, ändert noch nichts an ihrer Position. Damals wusste sie noch nicht, dass ein Sklave die Sprache seines Herrn verstehen und sprechen muss, wenn er sich einigermaßen in der Welt behaupten will. Erst als sie sich, ganz der Lehre Simone de Beauvoirs gemäß, den Jargon der Männer aneignet.«

Ich habe eingesehen, dass niemand zwei Herren dienen kann und dass immer der lebende Mensch den Vorrang hat. Wenn meine Kinder 17,5 und 16 aus dem Wasser sind, in etwa drei Jahren, werde ich mich wieder meinem zweiten Herrn zuwenden. Und sollte ich dann zu müde oder total verblödet sein, so macht es auch nichts aus.

Die Probe, sich zu verleugnen?

Die Probe, die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf auszuhalten, ja gut zu heißen, sie als unabänderlich festzuschreiben? Also zusammenfassend würde ich sagen, in ihrer Prosa dominieren zweifelsohne weibliche Hauptfiguren, die sehr oft viel Energie darauf verwenden, dem Rollenbild der Hausfrau möglichst perfekt gerecht zu werden.

»Es will nicht scheinen, als ob im Laufe der Prosa-Produktion das je präsentierte Frauenbild von den ersten zu den letzten Texten hin weiblicher Autonomie entgegensteuere.« »Einspruch. Was ist mit der Protagonistin in »Die Wand«?« »Betrachtet man insbesondere die Texte der ausgehenden 60er Jahre, die ja dem feministischen Aufbruchsdenken der 70er Jahre zumindest zeitlich am nächsten kommen.«

So fällt auf, dass die Protagonistin des letzten Romans, die Mansarde, quasi eingeschlossen in ihrem familiären Gefängnis lebt und dass gerade in den späten Erzählungen gehäuft alte Hauptfiguren beiderlei Geschlechts auftreten, die nur noch reflektieren und bemüht sind, ihren Lebenszustand zu ertragen.

Der Aktionsradius der Figuren in den späten Texten ist gering, ihre Stimmung depressiv und todessüchtig. Nein, sie schreibt keine feministische Emanzipationsliteratur. Sie schreibt über ein Leben. Ich nenne es ein Leben in Abwesenheit. Sie beschreibt den Wahnsinn der Normalität, jener Normalität, die wir so selbstverständlich hinnehmen, hinnahmen, ganz besonders meine Generation.

Aber in Bruchteilen von Sekunden blitzt auch in uns Harmoniebedürftigen der Abgrund auf. Und deshalb sind wir so betroffen. Marleen Haushofers Radikalität ist deshalb so gewaltig, weil sie ganz unvorhergesehen auf leisen Sohlen daherkommt, als Nebenbemerkung im harmlos Alltäglichen verpackt. Abgründe tun sich auf, die man nie und nimmer mit dem wirklichen Leben Marleen Haushofers assoziieren würde.

Die zunehmende Radikalität zeigt sich in Titeln einiger Erzählungen. Der Wüstling. I'll be glad when you're dead. Der Menschenfresser. Wir töten Stella, wo dieser indirekte Mord an dem jungen Mädchen begangen wird. Tötungsakte auch in der Wand und der Mansarde.

Und immer schwingt etwas unbewusst Selbstzerstörerisches mit. Indem sie ihr Werk bewusst zur Hausfrauenprosa stilisierte, hat Marleen Haushofer sich von vornherein einer weiblichen Autorenschaft verschrieben. Ihre legendäre Bescheidenheit diente ihr als Schutzschild gegen allzu große Erwartungen. Sie war Ausdruck einer Verweigerung. Doch trotz allem war Marleen Haushofer sich ihres Ranges als Schriftstellerin sehr wohl bewusst. Davon bin ich überzeugt.

Mit jenem Buch, das ihr berühmtestes werden sollte, gelang ihr endgültig der Befreiungsschlag. Die Flucht aus der Mittelmäßigkeit. Die radikalste Abwesenheitsgeschichte vollzieht sich in der Wand. Im Abschiednehmen vom Klischee Frau. Im totalen Rückzug als letztem Schritt aus allen bisherigen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten. Kein Spiel mehr treiben, keine Rolle erfüllen, kein konfliktvermeidendes Arrangement mit einem Mann.

sich endlich die Freiheit nehmen, die Wahrheit zu denken, zu schreiben und zu sagen. Die Wand. Um diesen besonderen Roman wird es in der dritten Stunde dieser langen Nacht gehen. Die Wand halte ich für mein wesentlichstes Buch. Und ich glaube nicht, dass mir ein solcher Wurf noch einmal gelingen wird. Weil man nur einmal so einen Stoff im Leben findet. Hinter der Wand und in diesem Buch ist Marleen Haushofer ganz bei sich.

Und die Hörerin der Hörer sind angekommen in der dritten Stunde über dieses rätselhaft gespaltene Wesen. Dieses Buch ist entweder begeistert gelobt worden oder auf äußerste Ablehnung gestoßen. Auch um ihren letzten Roman, »Die Mansarde«, wird es gehen in dieser letzten Stunde. Wieder eine Etüde der Verdrängungskunst. Es ist der Ausklang eines verletzlichen und doch starken Frauenlebens, das bis zum Schluss vom Schreiben nicht lassen kann.

Heute am 5. November beginne ich mit meinem Bericht. Ich werde alles so genau aufschreiben, wie es mir möglich ist. Aber ich weiß nicht einmal, ob heute wirklich der 5. November ist. Im Lauf des vergangenen Winters sind mir einige Tage abhandengekommen. Auch den Wochentag kann ich nicht angeben. Ich glaube aber, dass dies nicht sehr wichtig ist.

»Ich bin angewiesen auf spärliche Notizen. Spärlich, weil ich ja nie damit rechnete, diesen Bericht zu schreiben. Und ich fürchte, dass sich in meiner Erinnerung vieles anders ausnimmt, als ich es wirklich erlebte. Dieser Mangel haftet wohl allen Berichten an. Ich schreibe nicht aus Freude am Schreiben. Es hat sich eben so für mich ergeben, dass ich schreiben muss, wenn ich nicht den Verstand verlieren will. Es ist ja keiner da, der für mich denken und sorgen könnte. Ich bin ganz allein.«

Er beginnt mit dem Anfang vom Ende.

Er beginnt mit einer Rahmenhandlung, die Rückblicke ermöglicht auf ein unfassbares Geschehen. Der Roman »Die Wand« setzt ein mit einer Schreibsituation.

Die Protagonistin sitzt am Tisch in einer Berghütte und ordnet ihre Gedanken. Ein Gedankenprotokoll im Präsenz. Ein innerer Monolog in Rheinkultur, von der ersten bis zur letzten Seite. »Ich weiß nicht genau, wie spät es ist. Wahrscheinlich gegen drei Uhr nachmittags. Meine Uhr ist verloren gegangen, aber sie war mir schon vorher keine große Hilfe. Eine winzige goldene Armbanduhr, eigentlich nur ein teures Spielzeug, das die Zeit nie richtig anzeigen wollte.«

Ich besitze einen Kugelschreiber und drei Bleistifte. Der Kugelschreiber ist fast ausgetrocknet und mit Bleistift schreibe ich sehr ungern. Das Geschriebene hebt sich nicht deutlich vom Papier ab, die zarten grauen Striche verschwimmen auf dem gelblichen Grund. Aber ich habe ja keine Wahl. Ich schreibe auf der Rückseite alter Kalender und auf vergilbtem Geschäftspapier.

Das Briefpapier stammt von Hugo Rüttlinger, einem großen Sammler und Hypochonder. In ruhigem Duktus beginnt der Einstieg in den Ausstieg, in die Geschichte eines fantastisch mutigen, ultimativen Ausbruchsversuchs. Es ist die radikalste Abwesenheitsgeschichte, die ich kenne, um in meinem Deutungsbild zu bleiben.

Zum ersten Mal beschreibt Marleen Haushofer eine aktive, eine vitale Protagonistin, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Und dieses Mal hat sie offenbar auch nicht den Drang, den Text zu verbrennen. Im Gegenteil. Es ist die Geschichte des Ausbruchsversuchs einer Frau aus allen tradierten Zwängen und reaktionären Strukturen der Zeit. Aus Geschlechterrollenzuschreibungen, Verbindlichkeiten und Doppelleben.

Eine Geschichte, die beklemmend aktuell das zähe Ringen mit sozialer Isolation und Einsamkeit, vergleichbar während einer Pandemie, literarisiert. Für die Autorin indes das imaginierte, in der Realität nie erlangte Gegenteil verheißt, Freiheit. So kann man ihn lesen, diesen Roman, der 1963 erschien.

Denn in der ersten Fassung finden sich Tagebuchaufzeichnungen, Selbstaussagen einer überforderten und mittlerweile gänzlich hoffnungslosen Frau. Eigentlich hätte ich fast alles, was ich getan habe, lieber nicht getan. Nie im Leben bin ich auch nur einen Tag frei gewesen. Ich träume immer noch davon, frei zu sein. Und jetzt weiß ich auch, dass ich eines Tages frei sein werde, nämlich nach meinem Tod. Nur werde ich es dann nicht mehr wissen. Und das kränkt mich ein wenig. Der Stoff war immer schon da.

Weil ich mich selber aufgegeben hatte, konnte ich niemandem mehr von wirklichem Nutzen sein. Niemand soll sich für Dinge opfern, an die er nicht glaubt. Mit Hugo sollte eigentlich dieser Bericht anfangen. Denn wäre seine Sammelwut und Hypochondrie nicht gewesen, säße ich heute nicht hier. Wahrscheinlich wäre ich überhaupt nicht mehr am Leben.

»Hugo war der Mann meiner Cousine Luise und ein ziemlich vermögender Mensch. Sein Reichtum stammte aus einer Kesselfabrik. Es waren ganz besondere Kessel, die nur Hugo erzeugte. Leider habe ich, obgleich ich es mir oft genug erklären lassen musste, vergessen, worin die Einmaligkeit dieser Kessel lag. Es tut auch gar nichts zur Sache. Jedenfalls war Hugo so vermögend, dass er sich irgendetwas Besonderes leisten musste. Er leistete sich also eine Jagd.«

Ebenso gut hätte er Rennpferde oder eine Yacht kaufen können. Aber Hugo fürchtete Pferde und es wurde ihm übel, sobald er ein Schiff betrat. Auch die Jagd hielt er nur des Ansehens halber. Er war ein schlechter Schütze und es war ihm zuwider, arglose Rehe zu schießen.

Er lud seine Geschäftspartner ein und die erledigten mit Luise und dem Jäger den vorgeschriebenen Abschuss, während er, die Hände über dem Bauch gefaltet, in einem Lehnstuhl vor dem Jagdhaus saß und in der Sonne döste. Er war so gehetzt und übermüdet, dass er einnickte, sobald er sich in einem Sessel niederließ. Ein riesengroßer, dicker Mann, von dunklen Ängsten geplagt und von allen Seiten überfordert. Damals

war immer die Rede von Atomkriegen und ihren Folgen. Und das bewog Hugo dazu, sich in seinem Jagdhaus einen Vorrat von Lebensmitteln und anderen wichtigen Gegenständen einzulagern. Luise, die das ganze Unternehmen sinnlos fand, ärgerte sich darüber und fürchtete, es werde sich herumsprechen und Einbrecher anlocken. Sie hatte wahrscheinlich recht damit. Aber in diesen Dingen konnte Hugo einen Starrsinn entwickeln, der nicht zu brechen war.

Er bekam Herzbeschwerden und Magenkrämpfe, bis Luise ihren Widerstand aufgab. Es war ihr im Grunde auch ganz gleichgültig. Am 30. April luden mich die Rüttlingers ein, mit ihnen zum Jagdhaus zu fahren. Ich war damals seit zwei Jahren verwitwet, meine Töchter waren fast erwachsen und ich konnte mir die Zeit einteilen, wie es mir gefiel. Alles beginnt ganz harmlos mit einem Wochenendausflug. Drei Tage in den Bergen sind geplant.

Auf der Fahrzeugjagdhütte halten die drei im Dorf, um Hugos Hund Lux vom Jäger abzuholen. Schließlich erreichen sie die Hütte, schaffen die neuen Vorräte in die Kammer und Hugo will es sich gerade im Sessel bequem machen, da drängt Luise noch einmal ins Dorf zu gehen. »Gegen halb fünf hatte sie ihn endlich soweit und zog triumphierend mit ihm ab. Ich wusste, sie würden im Dorfwirtshaus landen. Um sieben waren meine Gastgeber noch nicht zurück.«

Ich rechnete damit, dass sie vor halb neun nicht kommen würden. Ich erwachte davon, dass die Sonne auf mein Gesicht fiel. Und ich erinnerte mich sofort an den vergangenen Abend. Die beiden mussten im Dorf geblieben sein. Ich wunderte mich sehr darüber. Hugo verabscheute die kurzen Wirtshausbetten und er wäre niemals so rücksichtslos gewesen, mich allein über Nacht im Jagdhaus zurückzulassen. Ich konnte mir nicht erklären, was geschehen war. »Ja, der Stoff war immer schon da.«

Bis ich mich eines Tages für die Ich-Form entschied, war es eigentlich nicht mehr schwer. Mit diesem Buch habe ich am wenigsten Mühe gehabt. Ich musste mich nur in die Lage jener Frau im Wald versetzen. Und wenn ich ein Bild vor mir habe, geht es weiter wie von selbst. Und es war ja alles vorgezeichnet. Ich habe nichts ändern müssen. Ich kochte Tee und wärmte mich ein wenig auf und dann machte ich mich mit Lux auf den Weg ins Dorf.

Ich merkte kaum, wie kühl und feucht es in der Schlucht war, weil ich darüber nachgrübelte, was aus den Rüttlingers geworden sein mochte. Vielleicht hatte Hugo einen Herzanfall erlitten. Wie es so geht, im Umgang mit Hugo Chondan hatten wir seine Zustände nicht mehr ernst genommen. Ich beschleunigte meine Schritte und schickte Lux voraus. Freudig bellend zog er ab. Ich hatte nicht daran gedacht, meine Bergschuhe anzuziehen und stolperte ungeschickt über die scharfen Steine hinter ihm her.

Als ich endlich den Ausgang der Schlucht erreichte, hörte ich Lux schmerzlich und erschrocken jaulen. Ich bog um einen Scheiterstoß, der mir die Aussicht verstellt hatte, und da saß Lux und heulte. Aus seinem Maul tropfte roter Speichel. Ich beugte mich über ihn und streichelte ihn. Zitternd und winselnd drängte er sich an mich. Er musste sich in die Zunge gebissen oder einen Zahn angeschlagen haben. Als ich ihn ermunterte, mit mir weiterzugehen,

klemmte er den Schwanz ein, stellte sich vor mich und drängte mich mit seinem Körper zurück. Ich konnte nicht sehen, was ihn so ängstigte. Die Straße trat an dieser Stelle aus der Schlucht heraus und soweit ich sie überblicken konnte, lag sie menschenleer und friedlich in der Morgensonne. Unwillig schob ich den Hund zur Seite und ging allein weiter. Zum Glück war ich durch ihn behindert langsamer geworden.

Denn nach wenigen Schritten stieß ich mit der Stirn heftig an und taumelte zurück. Lux fing sofort wieder zu winseln an und drängte sich an meine Beine. Verdutzt streckte ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles. Einen glatten, kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte, als Luft. Zögernd versuchte ich es noch einmal und wieder ruhte meine Hand wie auf der Scheibe eines Fensters.

Dann hörte ich lautes Pochen und sah mich um, ehe ich begriff, dass es mein eigener Herzschlag war, der mir in den Ohren dröhnte. Mein Herz hatte sich schon gefürchtet, ehe ich es wusste. Ich setzte mich auf einen Baumstamm am Straßenrand und versuchte zu überlegen. Es gelang mir nicht. Es war, als hätten mich alle Gedanken mit einem Schlag verlassen. Lux kroch näher und sein blutiger Speichel tropfte auf meinen Mantel. Ich streichelte ihn, bis er sich beruhigte. Und dann sahen wir beide hinüber zur Straße.

die so still und glänzend im Morgenlicht lag. Ich stand noch dreimal auf und überzeugte mich davon, dass hier, drei Meter vor mir, wirklich etwas Unsichtbares, Glattes, Kühles war, das mich am Weitergehen hinderte. Ich dachte an eine Sinnestäuschung, aber ich wusste natürlich, dass es nichts derartiges war. Ich hätte mich leichter mit einer kleinen Verrücktheit abgefunden als mit dem schrecklichen, unsichtbaren Ding. Aber da war Lux mit seinem blutenden Maul

»Und da war die Beule auf meiner Stirn, die anfing zu schmerzen.« »Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem Baumstamm sitzen blieb. Aber ich erinnere mich, dass meine Gedanken immer fort um ganz nebensächliche Dinge kreisten, als wollten sie sich um keinen Preis mit der unfassbaren Erfahrung abgeben.« »Die Sonne stieg höher und wärmte meinen Rücken.« »Lux schlägte und schlägte und hörte schließlich auf zu bluten. Er konnte sich nicht arg verletzt haben.«

Julian Roman Pölzler, der Filmregisseur. Nach einer nicht näher beschriebenen Umweltkatastrophe findet sich eine namenlose Frau allein in den Bergen,

eingeschlossen von einer kühlen, gläsernen und unsichtbaren Wand. Weil sie den Verlauf mit Haselroten markiert, kann sie bald das ganze Ausmaß der Abtrennung von der Welt erkennen. Ja, man kann diesen Roman lesen als den genialen literarischen Einfall eines endgültigen Befreiungsschlags. Dieser Roman ist der Höhepunkt, die Vollendung des obersten Stockwerks einer speziellen weiblichen Textproduktion, wobei jedes Buch auf dem anderen aufbaut.

Die Entwicklung innerhalb des haushoferschen Werks ist gut erkennbar. Von der Figur der Meta, die ihre kindliche Zauberwelt wütend, aber erfolglos gegen eine harte Mutter verteidigt, über die energische 40-jährige Einzelkämpferin aus Die Wand bis zur Endvierzigerin aus Die Mansarde, einer Heldin der subtilen Aufarbeitung und des gnadenlosen Untergangs.

Man kann die Wand also lesen als die Geschichte einer Emanzipation, einer Selbstfindung, als eine feministische Selbstermächtigung. Man kann den Roman aber auch lesen als die Geschichte einer Entfremdung, eine Parabel der existenziellen Einsamkeit. Oder als Parabel auf eine Atomkatastrophe. Denn jenseits der Wand sind Menschen und Tiere erstarrt, versteinert, tot. Nur die Pflanzen leben noch.

So richtet sich die Bestrebung der Erzählerin nicht darauf, die Wand zu durchbrechen, zu untergraben oder zu übersteigen. Sie ist die wohl einzige Überlebende. Zur kältesten Zeit des Kalten Krieges, anno 1960. Ich nahm an, sie wäre eine neue Waffe, die geheim zu halten einer der Großmächte gelungen war. Eine ideale Waffe. Sie hinterließ die Erde unversehrt und tötete nur Menschen und Tiere. Wenn das Gift...

Ich stellte mir jedenfalls eine Art Gift vor. Seine Wirkung verloren hatte, konnte man das Land in Besitz nehmen. Nach dem friedlichen Aussehen der Opfer zu schließen, hatten sie nicht gelitten. Das Ganze schien mir die humanste Teufelei, die je ein Menschenhirn ersonnen hatte. Seit den 50er Jahren wurde in den USA an der Entwicklung der Neutronenbombe gearbeitet, deren zerstörerische Wirkung sich weitgehend auf Menschen und Tiere beschränken sollte.

Ins allgemeine Bewusstsein drang die saubere Bombe jedoch erst Anfang der 80er Jahre. Man kann die Wand aber auch lesen als Zeugnis einer schweren Depression oder als philosophisches Traktat über die Bedingungen der Conditio Humana unter Quarantänebedingungen,

als eine Art von Experimentallaborsituation, ein Kammerspiel über die letzten Dinge. Oder auch als sozialdarwinistisches Heldenepos über eine heroische Einzelkämpferin ohne jegliche stresspuffernde menschliche Nähe. Leben als Überleben. Am ehesten trifft aber wohl die Deutung des Romans als hellsichtige Zivilisationskritik zu.

als eine moderne Dystopie, als katastrophales Untergangsszenario, inklusive der Behauptung weiblicher Stärke und Autonomie in Demut und enger Verbindung mit der Natur. Denn es sieht gar nicht so aus, als wäre die Tagebuchschreiberin je in Gefahr gewesen, den Verstand zu verlieren. Es macht sie glücklich, auf der Waldlichtung Himbeeren zu ernten, Preißelbeeren einzukochen.

Sie mäht, melkt, gräbt um, pflanzt und erntet, sieht den Schmetterlingen zu und hilft ihrer Kuh, ein Stierkalb auf die Welt zu bringen. Unbeschwert erkundet sie mit Jagd und Luchs Wälder, Wiesen und Auen. Schon der Grundplot, wie das beim Film heißt, ist genial. Es ist fast ein griechisches Drama. Es gibt einen Ort, einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren, eine Person, ein Thema.

Wie kann, wie soll man überleben, weiterleben? 2011 adaptierte der österreichische Regisseur Julian Roman Pölzler die Wand für den Film mit Martina Gedeck in der Rolle der namenlosen Frau, versunken im inneren Monolog, die keinerlei auktoriales Wissen hat. Was wirklich geschieht, das, wonach der Leser, die Leserin, die Zuschauer lächzen, bleibt ungreifbar.

Spannung pur.

bis ich darauf gekommen bin, dass es mit meinen Stimmungen zusammenhängt. Das macht das Buch auch so groß. Wenn man es einmal gelesen hat, hat man es noch nicht gelesen. Die Wand senkte sich jetzt wieder in eine kleine Wiesenmulde, in der ein einschichtiges Gehöft lag. Eigentlich nur ein sehr kleiner Hof, wie man ihn oft im Gebirge findet, nicht zu vergleichen mit den Vierkantern über Land. Die Wand teilte die kleine Wiese hinter dem Haus.

und hatte von einem Apfelbaum zwei Äste abgeschnitten. Sie sahen übrigens nicht wie abgeschnitten aus, eher wie geschmolzen, wenn man sich geschmolzenes Holz vorstellen könnte. Ich berührte sie nicht. Zwei Kühe lagen jenseits der Wand auf der Wiese. Ich sah sie lange an. Ihre Flanken hoben und senkten sich nicht. Sie wirkten eher schlafend als tot. Ihre rosigen Nüstern waren nicht länger feucht und glatt,

sondern sahen aus wie hübsch bemalter, feinkörniger Stein. Lux wandte den Kopf und sah in den Wald hinein. Er brach nicht wieder in das entsetzliche Geheul aus. Er sah einfach nicht hin. So als hätte er beschlossen, alles, was jenseits der Wand lag, nicht zur Kenntnis zu nehmen. Früher einmal hatten meine Eltern einen Hund, der sich auf ähnliche Weise von jedem Spiegel abwandte. Während ich noch die beiden toten Tiere betrachtete,

hörte ich plötzlich hinter mir das Brüllen einer Kuh und Lux aufgeregtes Bellen. Es riss mich herum, unterteilte sich das Unterholz und heraus schritt, gefolgt von dem aufgeregten Hund, eine brüllende und lebendige Kuh. Sie kam sofort auf mich zu und schrie mir ihren ganzen Jammer entgegen. Das arme Tier war Tage nicht gemolken worden, seine Stimme klang schon ganz heiser und rau.

Ich versuchte sofort, ihr Erleichterung zu verschaffen. Als junges Mädchen hatte ich zum Spaßmelken gelernt. Aber das lag 20 Jahre zurück und ich hatte jede Übung verloren. Beim ersten Lesen als Mädchen habe ich es in einem Zug ausgelesen. Ich habe damals nicht in den Kategorien Krankheit, Ausgrenzung oder Feminismus gedacht. Ich war am Schicksal dieser Frau interessiert.

Sicher richtig ist, dass es eine Vertiefung in der Wahrnehmung gibt, dass sich die Lektüre aus veralteten Kategorien hinaus bewegt hat. Sie findet nicht mehr im Zeichen der 50er, 60er Jahre statt, nicht mehr im Zeichen der Emanzipation, nicht mehr im Zeichen der aggressiven, männlichen Gesellschaft. Jetzt, fast 60 Jahre später, ist es ein existenzieller Stoff, der mit Mann und Frau nur mehr im übertragenen Sinne zu tun hat.

Vielleicht innerhalb einer Person die männlichen und weiblichen Anteile beleuchtet. Für mich, wo ich sie erstmals im Film verkörpere, ist diese Frau jemand, der sich auch in einen Mann verwandelt. Sie sorgt für die Tiere, wie eine, die man eine Hausfrau nennt, und dann geht sie raus und wird zur Kriegerin. Sie fragen mich, woher die Frau die Kraft nimmt, da am Leben zu bleiben und zu bestehen. Ich denke oft, wie das bei einfachen Leuten ist.

Da ist eine Frau, sie hat nichts als Arbeit, Sorgen und Krankheiten und fürchterliche Familienverhältnisse. Und ich frage mich, wie hat sie das ausgehalten? Und immer noch, mit 70 oft, sieht man sie die Enkelkinder bedienen oder den kranken Mann pflegen. Da muss man wirklich fragen, woher nehmen diese Frauen die Kraft?

Sehr bald wird im Laufe der Geschichte klar, dass es für die Ich-Erzählerin im Grunde nicht darum geht, diese Existenz mit ihren besonderen Umständen auszuhalten, sondern die Existenz an sich. Die erzwungene, absolute Einsamkeit spitzt die Lebensfragen nur zu. Die einstige Klosterschülerin Marleen Haushofer provoziert hier die christliche Glaubenslehre weit mehr als Camus mit seiner Pest.

denn die Erzählerin weigert sich, zwischen Mensch und Tieren, mit denen sie lebt, einen mehr als nur graduellen Unterschied zu machen. Ich kann nicht sehen, was daran unehrenhaft sein sollte, wie jedes Tier die auferlegte Last zu tragen und letzten Endes wie jedes Tier zu sterben. Die Katze und ich, wir waren aus demselben Stoff gemacht. In jenem Sommer vergaß ich ganz.

»Dass Lux ein Hund war und ich ein Mensch.« »Während die Toten jenseits der Wand einer sichtbaren Versteinerung und Erstarrung zum Opfer gefallen sind, kommt das Leben der Überlebenden durch das Unglück erst richtig in Bewegung. Oben auf der Alm hat sie sogar so etwas wie eine diesseitige Erleuchtung.« »Ich suchte nicht mehr nach einem Sinn, der mir das Leben erträglicher machen sollte.«

»Den größten Teil meines Lebens hatte ich damit zugebracht, mich mit den täglichen Menschen Sorgen herumzuschlagen. Nun, da ich fast nichts mehr besaß, durfte ich in Frieden auf der Bank sitzen und den Sternen zusehen, wie sie auf dem schwarzen Firmament tanzten. Ich hatte mich so weit von mir entfernt, wie es einem Menschen möglich ist. Und ich wusste, dass dieser Zustand nicht anhalten durfte, wenn ich am Leben bleiben wollte.«

Die Verwandlung, die mit der Erzählerin geschieht.

stellt für sie auch die Gültigkeit von Menschenschrift und Menschenworten in Frage, denn sie kann ihre Träume damit nicht mehr wirklich erfassen. Vielleicht müsste ich diese Träume mit Kieselsteinen auf grünes Moos zeichnen oder mit einem Stock in den Schnee ritzen, überlegt sie. Dass der Mensch, der der Erde ihre Unschuld geraubt hat, von ihr verschwinden muss, ist nach diesem Weltbild nur folgerichtig.

Wie schon in ihrem ersten Roman, »Eine Handvoll Leben«, beschreibt Marleen Haushofer die Vorstellung, das eigene Ich im Großen und Ganzen aufzulösen, als schaurig-süße Verlockung. Ihre Erzählerin weiß, dass sie für den Wald kein ernstzunehmender Störenfried ist. »Einmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen. Das Unterholz wird in sie einwachsen.«

und später wird der wald bis zur wand vordringen und sich das land zurückerobern das ihm der mensch geraubt hat manchmal verwirren sich meine gedanken und es ist als fange der wald an in mir wurzeln zu schlagen

Und mit meinem Hirn seine alten ewigen Gedanken zu denken. Aus einer Spritztour, einem Wochenendausflug in die Berge, wird die ersehnte Rückkehr ins verlorene Paradies der Meta-Kindheit, in die geliebte, unberührte Natur. Nicht ohne Schrecken, Mühsal und Erkenntniswucht.

Auch für die Leserschaft, denn dieser Text ist anschlussfähig. Spätestens seit der Club of Rome 1972 die Studie »Die Grenzen des Wachstums« veröffentlichte, wissen wir, dass unser Wirtschaftssystem nicht nachhaltig ist. Totale Kapitalisierung der Natur, linear statt zirkulär, überhitzt, ausbeuterisch, gravierend.

Grenzenlos. Klimawandel, Erderwärmung. Der Mensch dringt immer tiefer und zerstörerischer in den natürlichen Lebensraum von Wildtierbeständen vor. Arten sterben, Massentierhaltung, Pandemien. Wir erleben den drohenden Burnout des Planeten durch das Anthropozän, in dem der Mensch die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf diesem Planeten stärker verändert als die Natur.

Und die geschundene Natur holt sich rabiat ihr Lebensrecht zurück. Tödliche Epidemien wie Ebola, SARS, MERS, HIV, Zika, Covid-19. Wer mit ihr lebt, von ihr lernt und die Natur in Ruhe lässt, erstarkt, wird autark und resilient.

Die Ich-Erzählerin innerhalb der Wand ist erstaunlich stabil. Isolationserfahrung als Prozess des Aufblühens und Durchatmens, des Weges zu sich selbst. Was brauche ich wirklich? Von Depression ist jedenfalls keine Rede mehr. Ja, man kann diesen Roman lesen als »ethische Mahnung«,

als eindringliche Warnung vor nichts Geringerem als dem Weltuntergang, als einen Appell, endlich innezuhalten im zerstörerischen, irreversiblen Treiben. Und das bereits 1963. Man kann diesen Roman aber auch lesen als Einübung in das Absurde und das sich Abfinden mit der Vergeblichkeit.

Die Erzählerin, die nach der gefährlichen Entrücktheit auf der Alm ihr Butterfass zu Tal schleppt und die schwere Last willig auf sich nimmt, wiederholt jenen mythischen Augenblick, der den Kollegen Albert Camus vor allem interessiert. Sisyphos beim Abstieg vom Gipfel. Diesem weiblichen Sisyphos ist das Pathos der Auflehnung allerdings fremd.

In der Wand hat Marleen Haushofer die hausfrauliche Sisyphos-Arbeit gleichsam veredelt und jener Banalität enthoben, die ihr nicht nur in ihren anderen Romanen, sondern auch im Alltag der Autorin anhaftet. Weil hier die Hausarbeit Teil des Überlebenskampfes ist, darf die Last der täglichen Verrichtungen hier minutiös geschildert werden. Für Marleen Haushofer selbst ist die Erzählerin der Wand die Erzählerin der Welt.

Vielleicht die einzige Gestalt, die zu einer Bejahung ihrer Pflichten gefunden hat, weil jede Nachlässigkeit das Ende ihrer Welt bedeuten würde. Ich habe alle Texte von Haushofer gelesen. Ich bin ja selbst auf einem Bergbauernhof in der Steiermark groß geworden und wir waren auch sehr abgeschieden von allem. Auf dem Hof waren meine Eltern, meine Großmutter, meine Geschwister und unsere Hunde, Katzen, Hühner, Schafe.

Eine Rezensentin hat einmal über »Himmel, der nirgendwo endet« geschrieben, »Marlene Haushofer erzähle wunderbar von einem Land, das man, wenn man es einmal verlassen hat, nie wieder besuchen kann. Die Kindheit.« Und bei mir war es auch so. Als ich aber »Die Wand« gelesen habe, bin ich wieder in die Welt meiner Kindheit eingetreten. Für mich war »Die Wand« wie ein offenes Buch. Es ist für mich fast das Buch der Bücher.

Die Wand fordert zum Wechsel der Blickrichtung auf. Nicht die Ich-Erzählerin ist infektiös, um im Bild der Virus-Pandemie zu bleiben und zieht sich in Quarantäne zurück, sondern die kranke Welt draußen ist es, jenseits der Wand, diese ewig wachsen wollende Männerwirtschaftswunderwelt, vor der es sich zu schützen gilt, vor all der Ignoranz, der Gier, der Zerstörung, allein zum Zweck des Profits.

Warum ist es so, dass Politiker und eigentlich die meisten Menschen so wenig über die großen Zukunftsgefahren nachdenken? Warum werden die sogenannten Prepper häufig verlacht? Jene Menschen wie Hugo Rüttlinger in der Wand, die sich mittels individueller Maßnahmen auf jede Art von Katastrophe vorbereiten. Warum wollen viele Menschen den Klimawandel nicht wahrhaben? Warum erzeugen grundvernünftige Empfehlungen wie Masken tragen und Impfen während einer Pandemie massive Gegenreaktionen?

Fragen, die sich Weltuntergangsforscher heute stellen. Marleen Haushofers Wand ist ein früher hellsichtiger Weckruf, die drastische Aufforderung zum Innehalten, zur Umkehr, zum Leben, zum Naturschutz. Ob die Wand je über die Menschheit kommt, jene äußerliche Wand, nämlich von der die Apokalyptiker gerne reden, kann ich nicht sagen. Aber vorstellen könnte ich es mir schon.

Aber wissen Sie, jene Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird. Haben wir nicht überall Wände aufgerichtet? Trägt nicht jeder von uns eine Wand, zusammengesetzt aus Vorurteilen vor sich her? Eine einmal aufgerichtete Wand muss gar nicht immer als negativ angesehen werden.«

Man sitzt rund um einen Tisch und isst so viele Menschen, so viele Wände. Weit, sehr weit voneinander entfernt. Wer sagte noch einmal, das Werk sei immer schlauer als sein Schöpfer? Die sphinxhafte, die elfengleiche, rätselhafte Marleen Haushofer bleibt ihrem Image treu.

Es ist ihr zuzutrauen, dass sie ihre schonungslose Gesellschaftskritik ironisch und bewusst verharmlosend als subjektives Defizit verkauft. So nimmt sie sich geschickt aus der Schusslinie und ist auch allen weit voraus. »Vielleicht, wahrscheinlich bin ich bisschen verrückt und unbelehrbar.«

Aber da kann man halt nichts machen. Obwohl 1963 mit dem Arthur-Schnitzler-Preis für die Wand ausgezeichnet, erkennen nur wenige Kritiker und Leser die beunruhigende, zeitlose Aktualität des Buches. Erst eine Neuauflage des Romans, 13 Jahre nach dem Tod der Autorin, bringt dem Buch die Aufmerksamkeit, die es verdient. Marlen Haushofer mag ein Rätsel bleiben.

Ihr Klassiker Die Wand ist Zeugnis einer individuellen, ambivalenten Lebenssituation zwischen Depression und gesteigertem Lebensgefühl, zwischen Selbstzerstörung und Überlebenswillen. Er ist aber vor allem eine genial umgesetzte Vorahnung einer Welt, der zwischen Klimakatastrophe und pandemisch beschleunigten sozialen Ungleichheiten womöglich die Zukunft abhanden kommt. Denn da ist noch diese Begegnung.

Die Wand liest sich über weite Strecken wie eine Schilderung Evas von ihren schönsten Jahren im Paradies. Doch eines Tages, als sie mit Lux von einem Spaziergang zurückkehrt, ist Adam da. Und was passiert? Nichts Geringeres als das Ende der Menschheit wird besiegelt. Keine Erlösung. Nirgends. Die Wand als die Geschichte von der Unmöglichkeit der Kommunikation. Gegen fünf Uhr erreichte ich die Alm. Plötzlich...

Ich konnte die Hütte noch gar nicht richtig sehen, stutzte Lux und rannte dann mit wütendem Gebell über die Wiese. Ich hatte ihn noch nie auf diese Weise bellen gehört. Grollend und hasserfüllt. Ich wusste sofort, dass etwas Schreckliches geschehen war. Als die Hütte mir nicht mehr die Sicht verdeckte, sah ich es. Ein Mensch, ein fremder Mann stand auf der Weide. Und vor ihm lag Stier. Ich konnte sehen, dass er tot war. Ein riesiger, graubrauner Hügel.

Lux sprang den Mann an und schnappte nach seiner Kehle. Ich pfiff ihn gellend zurück, und er gehorchte und blieb grollend und mit gesträubtem Fell vor dem Fremden stehen. Ich stürzte in die Hütte und riss das Gewehr von der Wand. Es dauerte ein paar Sekunden, aber diese paar Sekunden kosteten Lux das Leben. Warum konnte ich nicht schneller laufen? Noch während ich auf die Wiese rannte, sah ich das Aufblitzen des Beils und hörte es dumpf auf Lux' Schädel aufschlagen.

Ich zielte und drückte ab, aber da war Lux schon tot. Der Mann wies die Axt fallen und sank in einer sonderbaren kreiselnden Bewegung in sich zusammen. Ich beachtete ihn gar nicht, als ich neben Lux hinkniete. Ich konnte keine Verletzung sehen, nur aus seiner Nase tropfte ein wenig Blut. Stier war schrecklich zugerichtet. Sein Schädel, von vielen Hieben gespalten, ruhte in einer großen Blutlache. Ich trug Lux zur Hütte und legte ihn auf die Bank.

Er war plötzlich klein und leicht geworden. Ich verstehe nicht, was geschehen ist. Noch heute frage ich mich, warum der fremde Mann Stier und Luchs getötet hat. Ich hatte doch Luchs zurückgepfiffen. Und er musste wehrlos darauf warten, dass ihm der Schädel eingeschlagen wurde. Ich möchte wissen, warum der fremde Mann meine Tiere getötet hat. Ich werde es nie erfahren. Und vielleicht ist es auch besser. Als im November der Winter hereinbrach, beschloss ich, diesen Bericht zu schreiben. Es war ein letzter Versuch.

Ich konnte doch nicht den ganzen Winter am Tisch sitzen mit dieser einen Frage im Kopf, die mir kein Mensch, überhaupt niemand auf der Welt beantworten kann. Ich habe fast vier Monate dazu gebraucht, diesen Bericht zu schreiben. Heute, am 25. Februar, beende ich meinen Bericht. Es ist kein Blatt Papier übrig geblieben. Es ist jetzt gegen fünf Uhr abends und schon so hell, dass ich ohne Lampe schreiben kann. Die Krähen haben sich erhoben und kreisen schreiend über dem Wald.

Wenn sie nicht mehr zu sehen sind, werde ich auf die Lichtung gehen und die weiße Krähe füttern. Sie wartet schon auf mich. Es gibt viele Leute, die das Buch total erschreckt, die plötzlich nach einem Drittel aufhören zu lesen und sagen, es sei langweilig. Wenn ich dann nachfrage, stellt sich heraus, es hat sie erschreckt und sie haben Angst, weiterzulesen und verschanzen sich hinter dem Argument der Langeweile. Mich fasziniert der klare Blick von Marlin Haushofer.

Denken Sie an den Text, der so etwas wie Ihr Testament ist und in dem es heißt, mach dir keine Sorgen. Darin kommt die Formulierung vor, die mich fasziniert. Dafür sei Gott gedankt, den es nicht gibt. Das ist diese Klarheit, die Marleen auch in der Wand hat. Ich bewundere an Marleen Haushofer, mit welcher Konsequenz sie geschrieben hat. Zugleich bewundere ich dieses Stille, dieses Verborgene in ihrem Werk. Musik

Es tut mir leid, wenn ich das Bild einer Einsiedlerin zerstören muss, die das einfache Leben liebte und menschenscheu war. An diesen Märchen stimmt, dass sie alle Pflanzen, vielleicht mit Ausnahme der Brennnesseln und Kakteen, liebte. Schon darum, weil Pflanzen nicht Lärm schlagen können und immer hübsch still sind.

Marlen Haushofer hatte große Angst vor Hunden, weil sie öfters von einer gewissen Hunderasse, braunen, langhaarigen Hunden mit Ringelschwänzen, in die Kniekehlen gebissen wurde. Zwar leicht, es floss kein Blut, aber sie erschrage jedes Mal fürchterlich über diese heimtückischen Attentate.

Dass sie trotzdem weiterhin freundlich über Hunde schrieb und sie aus sicherer Entfernung gern hatte, ist ein schöner Zug dieser widersprüchlichen Natur. In einem Blockhaus im Wald hätte meine Schwester, meine Zwillingsschwester, nie leben mögen. Sie legte großen Wert auf heißes Wasser. Außerdem brauchte sie dringend in der Nähe ein Kaffeehaus mit möglichst vielen Zeitungen und eine Bibliothek.

Sie hätte wirklich unmöglich allein hausen können, weil sie sich seit ihrer Kindheit nachts vor Gespenstern fürchtete und weil sie bestimmt schon in der dritten Nacht den Verstand verloren hätte vor Schreck über unerklärliche Geräusche im Kamin. »Soll zum Arzt. Weiß, dass er nichts tun kann gegen eine Veranlagung. Rasche Abnützung. Tendenz zur Verschwendung wie in jeder anderen Hinsicht.«

Die Diagnose Krebs stand sehr bald fest. Marleen Haushofer erzählte Oskar Jan Tauschinski von der Auffassung ihres Arztes, jeder Krebs sei eine unbewusst gewollte Krankheit, eine Art stiller Selbstmord. »Äußerst depressiv«,

Oder eher wütend. Vielleicht hormonelle Störungen. Blutdruck 190. Es nagt alles Mögliche an mir. Längst vergangene Ärgernisse sind quicklebendig. Habe überhaupt gar nichts vergessen oder verziehen. Wundert mich. Da sonst so vergesslich. Komme sichtlich über gar nichts hinweg. Ich bin ein Wiederkäuer.

Eine Registriermaschine aus Fleisch. In dieser Stimmung schreibt Marleen Haushofer an ihrem letzten Roman, den sie im Januar 1969 fertigstellt. In gewisser Weise ist »Die Mansarde« eine Fortsetzung der Novelle »Wir töten Stella«.

Die Geschichte spielt in einer Familie. Die Eltern sind um die 50, der Vater ist Anwalt, die Mutter Hausfrau. Auch die Kinder sind, verglichen mit denen der Novelle, sozusagen in die Jahre gekommen. Der Sohn studiert, die Tochter geht noch in die Schule. Hubert, der Familienvater, unterscheidet sich von Richard dadurch, dass er keine dämonischen Züge aufweist.

Dass er einmal wöchentlich eine Geliebte besucht, wird hier nicht behauptet, sondern nur listig suggeriert. In erster Linie ist Hubert rührend und sieht sehr harmlos aus. Seine Frau, die Ich-Erzählerin, hat früher einmal Kinderbücher illustriert. Jetzt zieht sie sich abends in die Mansarde des Hauses zurück, um zu zeichnen. Die Ehe der beiden scheint in einer seltsamen Mischung aus Überdruss und Vertrautheit zu bestehen. Und Sprachlosigkeit.

Eines Tages bekommt die Erzählerin Post von einem anonymen Absender. Das Kuvert enthält Aufzeichnungen, die sie selbst 17 Jahre zuvor während einer persönlichen Krise verfasst hat. Damals war sie durch das Schrillen einer Feuerwehrsirene plötzlich ertaubt. Hubert hatte sie daraufhin zur Genesung in das Jagdhaus seines verstorbenen Vaters abgeschoben und die Ich-Erzählerin so von ihrem dreijährigen Sohn getrennt.

Nun erhält sie dort Tag für Tag ein neues Paket mit ihren eigenen Notizen zugestellt. Einmal mehr arbeitet Marleen Haushofer mit Rückblenden, die sie mit Tagebuchaufzeichnungen montiert. In der Mansarde hat Marleen Haushofer ihre eigenen Lebensumstände so unverdeckt nachgedichtet wie nirgends sonst. Die Hauptfigur ist eine Hausfrau und Mutter, deren künstlerische Begabung zum Lebensmittel wird.

Gleich zwei Möglichkeiten, aus dieser Realität zu fliehen, hat sie hier durchgespielt. Zum einen die Flucht durch die Ertaubung. Die führt aber in ein Gefängnis mit den Bergen als Kerkermeister. In eine Szenerie der Abgeschiedenheit, die an die der Wand erinnert. Doch diese Flucht ist gescheitert. Der zweite Zufluchtsort ist die Mansarde.

In ihrem letzten Roman scheint sich Marleen Haushofer also offenbar damit abgefunden zu haben, dass ihre Existenz durch die vier Wände eines bürgerlichen Hauses begrenzt wird und eine Flucht nur noch nach oben, nur in den virtuellen Raum einer höchst privaten Dachkammer möglich ist. Wie die Frau in der Mansarde hat Marleen Haushofer wohl lernen müssen, ihre Mansardengedanken, auch ihre Existenz als Künstlerin, die meiste Zeit über zu verdrängen.

Ich träume jetzt viel von zerfallenen Städten und von Landschaften, in denen es keine Menschen mehr gibt, nur verwitterte Statuen. Ich gehe dann von einer Statue zur anderen und sie betrachten mich aus weißen Augenhöhlen. Ich lege mich auf den Boden, der von Gras überwuchert ist und schlafe ein. Aber es ist kein Schlaf, sondern Bewusstlosigkeit. Und es ist für immer. Im letzten Augenblick des Erlöschens.

bin ich immer sehr glücklich.

Man kann diesen Roman lesen als zynische Replik auf die Stummheit den Nazi-Greueltaten gegenüber, auf die Verlogenheit der Nachkriegszeit, auf die Gleichgültigkeit, die die ersten Nachkriegsjahrzehnte in Europa so gespenstisch stillgemacht hat, als hätte es den Massenmord der Nationalsozialisten, als hätte es Auschwitz nie gegeben. Bei Marleen Haushofer steckt das unfassbare, das schlechte Gewissen zwischen den Zeilen.

Es ist das Grauen hinter den schlichten Sätzen. Form als Statement. Eine Erzähltechnik, die den Prozess des Verdrängens, das subkutane Mitlaufen nicht zugelassener Erinnerungen selbst mitdarstellt.

Gerade die Übersetzung ins Private zeigt sich als präzise Beobachtung der Familialisierung gesellschaftlicher Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg. In »Wir töten Stella«, wie auch in »Die Mansarde«, inszeniert Haushofer eine Familientragödie, in der – durch mehrere Signale im Text – politisch-gesellschaftliche Katastrophenzusammenhänge sichtbar werden.

Schon im ersten Roman Haushofers, »Eine Handvoll Leben«, sind die belastenden Erinnerungen des Austrofaschismus spürbar. Ich zitiere die Literaturwissenschaftskollegin Irmgard Röbling, »Es scheint, als versuche die Autorin, die wie Hitler aus Oberösterreich stammt, wie Hitler in Linz zur Schule ging, wie Hitler in Steyr gelebt hat, wie Hitler in Wien ihr Studium aufgenommen und abgebrochen hat,«

Als Versuche die Autorin also an einer Stellvertreterfigur die Nazifizierung der Heimat aktiv und passiv, das heißt als Agierende und als Verführte, zu rekonstruieren. Auch wenn die Anspielungen auf den Nationalsozialismus und die Kriegsverbrechen bei Haushofer eher implizit und versteckt sind, als dass sie ausgesprochen werden.

Es ist ein durchaus raffinierter Text. Die Protagonistin in die Mansarde verweigert sich dem sozialen Leben. Zu ihren Freunden hat sie keinen Kontakt mehr, um den Prozess des aktiven Vergessens zu beschleunigen. Jetzt trifft sie sich nur noch mit oberflächlichen oder sehr selbstbezogenen Bekannten, die ihr keine persönlichen Fragen stellen.

Eine solche Bekannte ist ihre Friseurin Lisa. Laut der Protagonistin eine Gedächtniskünstlerin, die die Vergangenheit geschickt zu vermeiden weiß und nie etwas Unpassendes oder Persönliches ausdrückt. Im Übrigen ist Lisa nicht redselig. Gewisse Gespräche meidet sie überhaupt. So redet sie nie über Krankheiten oder über Politik. 7. September. Ich bin froh, dass der Sommer zu Ende geht. Ein Sommer der tödlichen Stille.

Gewitter, die ich nur sehen kann. Regengüsse, die nicht an mein Ohr dringen. Wind, der lautlos an meinen Haaren zerrt. Ein Vogelkonzert, nicht für mich gesungen. Jagdhunde, die hechelnd an mir vorüberrennen und alles ganz lautlos. Wie die stumme Welt in einem alten Gemälde. Es wird besser für mich sein, im Winter in meinem Ledersessel zu hocken und zu lesen und zu zeichnen. Es tut dann sicher nicht so weh. Ich werde langsam einfrieren.

und es nicht einmal merken. Ironie des Schicksals oder nur folgerichtiger Rückschluss, dass Marleen Haushofer selbst auch im richtigen Leben auf einem Ohr ertaubt war? Wenn das kein psychosomatisches Statement ist. Und ab und an scheint in diesem schiffrierten Aufarbeitungsroman doch so etwas auf wie eine leise Auseinandersetzung mit der verdrängten Krebskrankheit, die in ihren Knochen lauert. Manchmal gelingt es mir, nicht zu denken. Und dann sehe ich Bilder.

Vielleicht ist es wirklich wichtig für mich, wenn ich die Bilder auch nicht deuten kann. Hinter geschlossenen Lidern sah ich ein Bild. Ein monströses Geschöpf aus grau-braunem Papier, wie die Puppe eines Insekts, das an einem silbrigen Faden hing. Es sah tot aus, schien aber doch nicht tot zu sein, denn von Zeit zu Zeit spielten sich kleine wellenförmige Bewegungen unter der knittrigen Haut ab.

Ein Stoßen und Pulsieren, das quälend und drängend war. Etwas war im Begriff, ans Tageslicht zu kommen. Mit der grau-braunen Puppe konnte ich mich abfinden. Das neue Geschöpf hätte mich erschrecken können. Und ich will nicht erschreckt werden. Ach, es wird alles vergebens sein.

Ich bin weit davon entfernt, Marleen Haushofers Leben als gesamtes leidend und duldend zu sehen. Es war sicher ein gemischtes Leben, wo zu vielen Teilen auch Lebensfreude, Unbekümmertheit und Egoismus dabei waren. Schreiben ist ja die egoistischste Handlung überhaupt. Sicher nahm sie zwischendurch das für sich in Anspruch, was sie zum Überleben brauchte. Sie konnte schlau sein, die Ohren anlegen und Haken schlagen wie ihre Katzen.

Sie lebte ihre persönlichen Beziehungen oder stillte ihre Italiensehnsucht, indem sie geschwintermal zum Gardasee fuhr oder nach Rom. Hauptsächlich, um die dort streunenden Katzen zu füttern. Wütend, wach, visionär, verkannt. Oder eigentlich kann ich nur leben, wenn ich schreibe. Sie hörten eine lange Nacht über das Rätsel Marleen Haushofer von Elke Pressler.

Es sprachen Stefan Schad, Anita Gramser, Marion Martinsen, Sascha X, Hedi Kriegeskotte, Anne Moll, Sonja Schilowicki und Achim Buch. Regie und Realisation Elke Pressler. Redaktion Monika Künzel. Musik

Nächste Woche erwartet Sie an dieser Stelle eine lange Nacht über den Paragrafen 218, über das Abtreibungsrecht in Deutschland, das beinahe von der Ampelkoalition noch geändert worden wäre.

Aber dann kam es doch nicht mehr dazu und blieb die aktuell geltende, schwierige, angebliche Kompromissregelung des Paragrafen 218 in Kraft. Seien Sie gespannt. Sie können alle langen Nächte der letzten Monate auch in der Deutschlandfunk-App nachhören. Und wenn Sie uns abonnieren, können Sie keine Sendung mehr verpassen. Bis nächste Woche.