Auf der Erde gibt es dreimal mehr Hühner als Menschen. Welchen Stellenwert das Federvieh als Eier- und Fleischlieferant hat, zeigt sich im Moment angesichts der Vogelgrippe. Die Eier sind knapp, die Preise schnellen in die Höhe.
In den USA wandte man sich zu Ostern in der Not sogar an Deutschland und andere europäische Länder. Auf sein Osterei wollte man dort trotz Vogelgrippe und hohen Einfuhrzöllen, mit denen man diese Länder ja sonst belegt, nicht verzichten. Hühner sind aber weit mehr als nur Essenslieferanten. Sie sind auch Sympathieträger. Die niederländische Autorin Evelyn de Vlieger und der Illustrator Jan Hamstra widmen dem Geflügel nun »Das große Buch der Hühner«, ein großformatiges Kindersachbuch.
Oliver Jungen sagt, was man darin alles erfährt. Gallus gallus domesticus, das Haushuhn, mag wohl jedes Kind. Es steht allerdings zu vermuten, dass eine Mehrheit es vor allem in der Form frittierter Nuggets mag. Das aber hat dieses wackere Tier nicht verdient.
Der Meinung sind auch die Autorin Evelyn de Vlieger und der Illustrator Jan Hamstra. Und so haben sie gemeinsam ein betörend schönes und aufregend informatives Kindersachbuch über Hühner verfasst, das zwar keineswegs das Essen von Brathähnchen verteufelt, aber doch dafür sorgen möchte, dass man die engsten geflügelten Freunde des Menschen besser kennen und schätzen lernt.
Eher kurz gehalten ist die Geschichte der Domestikation. Man erfährt, dass sich das rote Kamhuhn vor etwa 8000 Jahren aus dem thailändischen Dschungel auf die Reisfelder vorwagte. Bauern zähmten das scheue Tier und schon bald verbreitete sich das Haushuhn über ganz Asien und Afrika bis nach Europa.
Einen weiteren großen Schub bekam die weltweite Hühnerpopulation in der frühen Neuzeit im kolonisierten Amerika. Dort waren Hühner die einzigen Tiere, die die versklavten Afrikaner halten durften. Auf den Plantagen bereiteten schwarze Köche für ihre weißen Herren Fried Chicken zu. Und das fand großen Anklang.
Viel Wert legen de Vlieger und Hamstra auf Anatomie und Physiologie der Hühner, die in Text und Bild mit beinahe fachbiologischer Akkuratesse dargestellt werden. Das aber immer so anschaulich, dass alles leicht verständlich bleibt.
Wen etwa der vielleicht ungewohnt tiefe Einblick in den Verdauungs- und Reproduktionsapparat der Tiere überfordert, für den gibt es kleine Seiteninfos wie die, dass Hühner im Jahr bis zu zwei Kilogramm Steine fressen, die beim Zermahlen der Nahrung im Kaumagen helfen. Ähnlich beim Kapitel zum Knochenbau. Passionierte Naturkundler können sich in die Details vertiefen. Für alle
Für andere reicht vielleicht der Hinweis, dass im Hühnerflügel von Oberarm bis Hand und Finger genau die gleichen Knochen wie im Menschenarm zu finden sind. Die Leserinnen und Leser lernen auch, warum ein Huhn so ruckartig läuft, indem es zunächst den Kopf nach vorne streckt und dann erst einen Schritt macht. Es kann nur scharf sehen, wenn der Kopf still steht. Dann allerdings sieht es sehr scharf und sogar mit beiden Augen unabhängig voneinander.
Natürlich wird auch erwähnt, dass Hühner mehr flattern als fliegen und dass sie sogar ohne Kopf noch eine Weile herumlaufen können. Schritt für Schritt erklärt die Autorin zudem nicht nur die Eierproduktion, sondern auch und ohne falsche Charme die Paarung. In einer Hinsicht allerdings lässt sich wenig herumdeuten. Was die Geschlechterrollen angeht, entsprechen Hühner einfach nicht dem modernen Gleichstellungsideal. Die
Die Autorin nimmt es mit Humor und weist darauf hin, dass die größeren, stärkeren und meist schöneren Hähne ihren unterwürfig im Haarem lebenden Damen durchaus etwas zu bieten haben. Ein Hahn bringt Ruhe in die Hühnerschar. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Hähne so große Stücke auf sich halten und das der Welt auch gern laut Hals mitteilen.
Diesem Buch gelingt es, im Vergleich mit vielen anderen Hühnerbüchern ganz besonders, die ungeheure Variationsbreite der Tierart herauszustellen. Dabei helfen die prächtigen Illustrationen ungemein, denn von den über 400 Rassen haben eine ganze Menge in Form wunderbarer Porträts Eingang ins Buch gefunden. Darunter Kuriose wie das Holländer Haubenhuhn oder das südamerikanische Araucanerhuhn.
Auch die Mannigfaltigkeit der Federn, Kämme und Bärte prägt sich dank der detailgenauen Illustrationen ein. Überhaupt ist die Gestaltung spektakulär. Sämtlichen Abbildungen liegen Linol-Schnitte des Buchkünstlers Jan Hamstra zugrunde. Im wirklich großen Großformat kommen sie bestens zur Geltung.
Der enorme Aufwand bei Gestaltung wie Recherche, eine ganze Literaturliste ist angefügt, wirkt wie eine Verneigung vor diesem so oft unterschätzten Haus, Hof und Nutztier.
Und auch inhaltlich zollt das Buch seinen Protagonisten höchsten Respekt. So entbehre beispielsweise die Wendung »Dummes Huhn jeder Grundlage«. Küken können bis fünf zählen und sogar hinzuzählen und abziehen. Und zwar ganz von sich aus. Gingen Hühner in den Kindergarten, würden sie nicht sonderlich aus dem Rahmen fallen.
Eine so aufmerksame und kenntnisreiche Liebeserklärung an das Huhn und seine Geschichte kann freilich die Augen vor der modernen Massentierhaltung nicht verschließen. Die Autorin beschränkt sich in dem bedrückenden Kapitel bewusst auf die Aneinanderreihung von Fakten. Von den Details der Legehennenhaltung bis zur qualvollen Turbo-Zucht der Fleischhühner. In sechs Wochen wächst das Huhn so rasch, dass sein Knochengerüst nicht hinterherkommt.
Fleischhühnern fällt das Laufen deswegen schwer, weshalb sie oft auf dem Boden hocken, in ihren eigenen Exkrementen. Auch ihr Herz hält dem schnellen Wachstum oft nicht stand. Eine solche Nüchternheit der Darstellung wirkt stärker als jeder aufgesetzte Moralismus und lässt vielleicht in Zukunft einige Menschen mehr zu Eiernudeln oder Chicken Nuggets mit Bio-Siegel greifen.
Das hofft Oliver Jungen. Er stellte das große Buch der Hühner von Evelyn de Vlieger und Jan Hamstra vor. Rolf Erdorf hat es aus dem Niederländischen übersetzt. Gerstenberg Verlag, ab acht Jahren.