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Für ihren Jugendroman »Das Jahr, in dem ich Lügen lernte« wurde die US-Amerikanerin Lauren Walk 2018 mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet, für den Deutschen Jugendliteraturpreis war sie nominiert. Danach hat sie zwei weitere, viel beachtete Jugendromane herausgebracht. In ihrem aktuellen Buch kehrt Walk nun zum Setting und zu den Figuren ihres Debüts zurück. In »Der Sommer, in dem der Blitz mich traf« wirbelt ein Sommergewitter Annabels Leben durcheinander.
Verständigung auch ohne Sprache, Empathie und Vorurteile sind in diesem Jugendroman elementar.
Angela Sommersberg. Ein Mädchen wird vom Blitz getroffen und hat danach übernatürliche Fähigkeiten. Das klingt nach Superheldengeschichte oder Fantasy-Abenteuer. Doch Lauren Walks aktuelles Jugendbuch »Der Sommer, in dem der Blitz mich traf« lässt sich am ehesten als Entwicklungsroman einordnen. Es ist ein nachdenklich machendes Buch, das im Sommer 1944 spielt.
Die zwölfjährige Annabelle lebt mit ihrer Familie auf einer Farm in West-Pennsylvania. Auf dem Rückweg von der Schule gerät sie in ein heftiges Unwetter. »Starr vor Furcht stand ich noch da, als plötzlich die Luft um mich herum zu zischen begann«,
Es war, als wäre ich mitten in einen Wespensturm getaucht worden. In Sekundenschnelle stachen all diese Wespen gleichzeitig zu. In jedem Zoll meines Körpers, innen wie außen. Und alles, was ich spürte, waren der glühende Schmerz in meinem Kopf, das Gefühl einer schrecklichen Hitze, eine klaffende Leere in meiner Brust und die Schmerzen, die ich in meinem Körper hatte.
und das Gefühl, dass etwas zu Ende ging. Als sie aus der Bewusstlosigkeit erwacht, trägt der Vater sie bereits ins Haus. Annabelle hat überlebt, doch etwas ist anders. Ihre Sinne sind schärfer als zuvor. »Die ganze Welt kam mir auf einmal verändert vor. So, als hätten die Bäume plötzlich entschieden, dass ihnen die Farbe Grün nicht länger gefiel.«
Als ob ich, so wie Alice, ein Wunderland betreten hätte, in dem ich, anders als Alice, größer war als je zuvor.
Ein ganz neues Mädchen, das auch die Empfindungen von Tieren spüren kann, das versteht, was Vögel, Pferde und Kühe bewegt. Vor allem aber, wie es Hunden geht. Zwar kann sie nicht mit ihnen sprechen, sich aber so in sie hineinversetzen, dass sie genau weiß, wo die Tiere Schmerzen empfinden. Anhand ihres Bellens kann sie Hunde auch auf weite Entfernung identifizieren.
Dadurch findet Annabelle den verschwundenen Hund ihres Bruders wieder, so wie auch einige andere verletzte Tiere. In ihrem aktuellen Roman kehrt Lauren Walk an das Setting ihres Debüts zurück. Schon in »Das Jahr, in dem ich Lügen lernte« spielen Annabelle und die Farm in Pennsylvania die Hauptrolle. Die Handlung setzt ein knappes Jahr nach Ende des ersten Buches ein. Und auch ein zweiter, bereits bekannter Charakter ist wieder mit dabei.
Andy, der ropige Junge von der Nachbarfarm, der damals gemeinsam mit einem neu zugezogenen Mädchen andere Kinder erpresst und verletzt hat. Immer wieder verweist Ich-Erzählerin Annabelle auf diese Geschehnisse. Zu ihrem Vater sagt sie, Andy ist nicht mein Freund und er wird es auch nie werden. Und wenig später, er hatte schreckliche Dinge getan.
Trotzdem ist »Der Sommer, in dem der Blitz mich traf« keine klassische Fortsetzung. Wer den 2017 erschienenen Roman nicht kennt, kann dieser neuen Geschichte folgen, vielleicht sogar die Hinweise auf die Vorgeschichte als spannendes Element wahrnehmen.
Eine fortlaufende Irritation bleibt jedoch, denn es gelingt Rock nicht, die vorausgegangene Geschichte komplett zu integrieren. Stattdessen liest man zu oft vage Andeutungen, die nicht beantwortet werden. Somit werden die inneren und äußeren Verletzungen, die Annabelle durch Andy erlebt hat, für die Lesenden nicht greifbar. Diese Leerstellen sorgen dafür, dass das Nachfolgewerk nur in Kombination mit dem Vorgänger zu empfehlen ist.
Es scheint, als wolle Lauren Walk mit der aktuellen Geschichte ein neues Licht auf Andy werfen. Sie zeigt, wie ein Mensch von seinem Umfeld geprägt wird, vor allem wenn er Gewalt erfährt. Doch dass jeder sich auch weiterentwickeln kann. So steht der Nachbarsjunge Annabelle in verschiedenen Situationen bei und erweist sich als großer Tierfreund. Stück für Stück verändert sich Annabelles Bild von Andy.
Im Laufe der Geschichte verliert Annabelle ihre übernatürlichen Fähigkeiten wieder. Doch mit der Zeit erkennt sie, dass die Empathie, die ihr geholfen hat, die Tiere zu verstehen, schon vor dem Blitzschlag in ihr war. Dass sie sich auf ihren Instinkt verlassen kann. Dass sie Menschen, in dem Fall Andy, nicht nur anhand ihrer Vorgeschichte charakterisieren darf, sondern auch anhand der aktuellen Taten. Und dass jeder eine zweite Chance verdient.
Irgendwann gesteht Annabelle Andy...
Ich glaube, ich habe nicht genau genug hingesehen. Lauren Woke verfolgt diese Entwicklung ihrer Protagonistin aus großer Nähe. Ihre Sprache, hervorragend ins Deutsche übertragen von Birgit Kollmann, ist simpel in der Wortwahl, doch immer präzise, voller Bilder und Metaphern, die sich natürlich in die Handlung einfügen.
Walk lässt ihre jungen Lesenden in eine längst vergangene Zeit eintauchen, in der Kinder sich noch viel freier bewegen konnten. Sie beschreibt das Landleben voller Wärme und Zuneigung, die gepflegte Farm, die wilde Natur, die liebevolle Familie, die gemeinsamen Abendessen, jedoch ohne zu romantisieren.
Auch die Kalkheit und Abgeschiedenheit Pennsylvanias sowie die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs lässt sie mit nur wenigen Sätzen in diese Atmosphäre einfließen. Lauren Walk verhandelt große Themen wie Tierschutz, Menschlichkeit und Empathie. Es geht darum, Fehler machen zu dürfen und zu verzeihen, innezuhalten und zu überlegen, bevor man jemanden verurteilt und zu lernen, sich selbst zu vertrauen.
Das Fazit von Angela Sommersberg zu Lauren Walks Der Sommer, in dem der Blitz mich traf, aus dem Englischen von Birgit Kollmann, erschienen ab zwölf Jahren im Karl-Hansa-Verlag.