We're sunsetting PodQuest on 2025-07-28. Thank you for your support!
Export Podcast Subscriptions
cover of episode Geschichte der Migration und Remigration - Schlüssel, Pass, Fluchtboot

Geschichte der Migration und Remigration - Schlüssel, Pass, Fluchtboot

2024/11/10
logo of podcast Diskurs

Diskurs

AI Chapters Transcript
Chapters
Die Einführung zur Diskurs-Reihe der Vienna Public History Lectures und die Vorstellung von Ursula Krechel als Referentin. Dabei wird die Bedeutung der transdisziplinären Studien und die Verbindung von Wissenschaft und Literatur diskutiert.
  • Die Vienna Public History Lectures sind eine neue Vortragsreihe, die disziplinäre Grenzen überschreitet.
  • Ursula Krechel ist eine renommierte Autorin und Professorin, die über Migration spricht.
  • Die Reihe zielt darauf ab, transdisziplinäre Themen zu erforschen und zu diskutieren.

Shownotes Transcript

Deutschlandfunk Kultur Diskurs Sehr geehrte Professorinnen und Professoren, liebe Mitarbeitende, liebe Studierende, sehr geehrte Damen, Herren, Gäste außerhalb der Universität, liebe Ursula Krechel,

Mein Name ist Klara Valentina Fritz und im Namen der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und ihres Zentrums für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien darf ich Sie heute Abend als Moderatorin dieser Veranstaltung ganz herzlich begrüßen. Heute setzen wir mit einer Veranstaltungsreihe fort, die noch immer recht neu ist und der ich heute zum ersten Mal beiwohnen darf, den Vienna Public History Lectures.

Diese noch immer recht junge Reihe ist aus demselben Impuls entstanden, der auch zur Gründung des Fakultätszentrums für transdisziplinäre historisch-kulturwissenschaftliche Studien und ihrer drei, bald schon vier Brückenprofessuren geführt hat. Die Fakultät zeigt eine beeindruckende disziplinäre Vielfalt auf.

Und in einer Zeit, in der sich wissenschaftliche Disziplinen immer stärker spezialisieren mit ihren eigenen Methoden, Theorien und Fachsprachen, geht es hier darum, das Verbindende in dieser Vielfalt der Fächer neu zu entdecken. Die Vortragsreihe sucht nach gemeinsamen Themen, Schnittstellen und Überschneidungen.

Für einen Abend wollen wir in einer angenehmen, inspirierenden Atmosphäre die Grenzen zwischen den Disziplinen überschreiten. Unsere heutige Referentin und ihr Vortrag versprechen uns genau diese Art von inspirierendem Austausch. Der Vortrag wird heute Abend vom Radiosender Deutschlandfunk Kultur aufgezeichnet und Sie werden ihn kommende Samstag Nacht in der Sendung Diskurs und seinem Podcast nachhören können.

Das Video der Veranstaltung wird auch ab Dezember auf unserem YouTube-Kanal bereitstehen. Eine erweiterte deutsche und englische Druckfassung erscheint im August des kommenden Jahres als kleine Monografie in der Reihe Vienna Public History Lectures beim De Kreuter Wissenschaftsverlag. Ich freue mich sehr, jetzt das Wort weitergeben zu dürfen an die Dekanin der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät, Frau Prof. Dr. Christina Luther. Liebe Frau Grechl, lieber Marco, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Ich heiße Sie ganz herzlich willkommen zu unserer dritten Public History Lecture in unserem schönen großen Festsaal der Uni Wien. Vor zwei Jahren hat hier alles begonnen und an dieser Stelle der Medievist Valentin Gröbner den Reigen der Vienna Public History Lectures mit einem Vortrag über Geschichten in Bildern und Bildern von Geschichte eröffnet.

Ein Vertreter der akademischen Zunft hat uns also gezeigt, wie sich Geschichte verändert, wenn sie aus dem akademischen Raum hinaus in den öffentlichen Raum wechselt und wie durch Medienwechsel neue Geschichten entstehen. In der zweiten Public History Lecture vor einem Jahr hat uns Patrick Barnas, Wissenschaftsredakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zu einem Grenzgang zwischen Wissenschaft und Literatur eingeladen.

indem er Hilary Mantel's historischen Roman über Thomas Cromwell neu für uns, mit uns gelesen hat. Mit dem Vortrag unserer heutigen Referentin sind wir gleichsam im Herzen der Literatur angelangt. Ihre Vita wird Marco Demandowski gleich näher vorstellen. Warum wir so froh sind, Sie, Frau Krechl, für unsere Vortragsreihe zu gewinnen, ist abermals in Grenzgängen begründet.

Denn Frau Grechli ist nicht nur eine gefeierte Autorin einer Vielzahl von Romanen, von Gedichten, von Essays und Theaterstücken. Sie lehrt ebenso international an mehreren Universitäten und ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und der Akademie für Wissenschaften und Literatur in Mainz.

Die Public History Vortragsreihe unserer Fakultät lädt Grenzgängerinnen und Grenzgänger zwischen Forschung, Wissenschaft und Literatur zum Gespräch ein. Die sogenannte Brückenprofessur Public History, wir haben das schon gehört.

Am Fakultätszentrum für transdisziplinäre Studien möchte dabei ein Gesprächsforum mit Persönlichkeiten etablieren, die uns dafür sensibilisieren sollen, wie das Erzählen von Geschichte und von Geschichten in Objekten, in Bildern und in Texten bedeutsam wird.

Damit sind gleichzeitig im Grunde genommen alle Gegenstände unserer Fakultät und ihrer vielfältigen Fächer benannt. Und zwar quer über historische Räume und Epochen. Das transdisziplinäre Fakultätszentrum aber liegt quer zu den Fächergrenzen. Innerhalb dieser Gegenstände die Bearbeitung stattfindet.

Ursula Krichl wiederum ist mit ihrem Oeuvre quasi prädestiniert dafür, sich der Herausforderung solcher Grenzgänge für uns und mit uns zu stellen. Heute wird sie uns im Wortsinn auf eine Reise mitnehmen, die vielen in unserer Fakultät aus wissenschaftlicher Perspektive recht vertraut ist. Gleich drei ERC-Projekte widmen sich derzeit einschlägigen Themen, und zwar im engeren Sinn.

Nisha McSweeney arbeitet mit ihrem Team die Rolle von Migration für die Entstehung der antiken griechischen Welt auf. Walter Pohl, Synergy Grand Histogenes, integriert historische, archäologische und genetische Perspektiven zur Forschung von Migrationsprozessen in der spätrömischen Welt. Kerstin von Lingen, die heute auch da ist, untersucht globale Migrationsregime der Nachkriegszeit in Europa und Asien.

Migration und Mobilität lautet auch die Denomination der Professur von Valeska Huber und einer unserer größten Forschungsschwerpunkte der Fakultät. Die SprecherInnen sind ebenfalls anwesend, widmen sich unter dem Titel Diktaturen, Gewalt und Genozide zahlreichen Aspekten von Migration. Ebenso eine ForscherInnengruppe zum Thema Migration und Transformation.

Mobilität und Migration, Flucht und Exil sind Gegenstandsbereiche vieler weiterer archäologischer und historischer Forschung Schwerpunkte, so zum Eisen genauso wie zum bronzzeitlichen Europa, zur byzantinischen Welt ebenso wie zur Habsburger Monarchie und Osmanischem Reich, zum Europa der Nachkriegszeit ebenso wie nach dem Kalten Krieg und zu den Ursachen und Konsequenzen globaler Migration in der Gegenwart.

Ein Blick in unseren aktuellen Evaluationsbericht zeigt, dass diese Themen, die uns alle heute so dringlich sowohl politisch als auch persönlich beschäftigen, fest in den Forschungsaktivitäten und in den Curricula unserer Fächer und unserer Studienrichtungen verankert sind.

Bei einer Umfrage, die wir unter Fakultätsmitgliedern zu den wichtigsten Forschungsthemen der Fakultät gemacht haben, gehörten sie zu den am häufigsten genannten. Stellvertretend für viele, viele Publikationen seit 2017 bei SURK haben wir ein Buch von Philipp Ter, die Außenseiter Flucht, Flüchtlinge und Integration in der europäischen Geschichte erwähnt. Aber...

Unsere Vortragsreihe nimmt sich vor, nicht nur die disziplinären Grenzen der historisch-kulturwissenschaftlichen Fächergruppe zu überwinden, sondern eben auch darüber hinaus zu gehen, im Wortsinn transdisziplinär zu sein, unangepasstes Denken zu bieten und zugleich mit den Problemhorizonten unserer Gegenwart verbunden zu sein.

An der Schnittstelle von Wissenschaft und Literatur fokussiert der heutige Vortrag ein Thema, das uns wirklich alle betrifft. Vielen Dank, liebe Frau Grechel, dass Sie sich bereit erklärt haben, dieses Experiment mit uns gemeinsam zu machen. Und Ihnen allen wünsche ich einen erfüllenden Abend des Zuhörens, des Nachdenkens, des Lernens und anschließend des gemeinsamen Gesprächs. Alles Gute, vielen Dank.

Gestatten Sie mir als Organisator der heutigen Veranstaltung und Ihre Reihe ein paar kurze einführende Worte für den folgenden Hauptvortrag Ursula Grechels. Migration und Remigration sind die Stichworte. Ihn trennten nur noch Monate von seinem gewaltsamen Tod, als sich Markus Tullius Cicero anschickte, intensiv über ein gutes Leben und Lebensende nachzudenken.

Ganz am Ende seiner Tusculane Disputationis beschäftigt ihn überraschenderweise das Problem des richtigen Nachdenkens über unfreiwillige Migration. Er schreibt, Zitat, wenn man also die Ehre und auch das Geld verachtet, was bleibt noch, was man fürchten muss? Die Verbannung, glaube ich, die man zu den größten Übeln zählt.

Wenn es ein Unglück bedeutet, der Heimat fern zu sein, dann sind die Provinzen voll von Unglücklichen, von denen nur ganz wenige in ihre Heimat zurückkehren. Wie sehr unterscheidet sich aber die Verbannung, wenn wir auf das Wesen der Dinge und nicht auf die Schande, die in dem Begriff liegt, schauen. Von einer lang andauernden Reise.

Damit verbrachten sehr angesehene Philosophen ihr Leben, die einmal fortgegangen, niemals mehr nach Hause zurückkehrten. Kann die Verbannung dem Weisen überhaupt Schande bereiten? Man ersetzte den Begriff der Verbannung durch den der Flucht, was ohne weiteres möglich ist, denn gelungene Flucht ist oft nichts anderes als wohlweislich selbstverstreckte Verbannung.

So leuchtet dieses historische Nachdenken Ciceros auf eine aufregende Weise. Es ist daran, wieder einmal zu erkennen, dass es unsere Begriffe sind, die unsere Anschauungen zum Denken und Urteilen bringen.

Dass also die Nicht-Selbstverständlich-Machung unseres Begreifens und damit auch der still mitgelieferten schlechten Vorurteile hilfreich dabei sein kann, gemeinsame Erfahrungen dort zu erkennen, wo zuvor nur Differenz empfunden wurde. Cicero, der selber über Jahre zur unfreiwilligen Migration gezwungen worden war, unternimmt diese Verflüssigung zur Tröstung.

Der letzte Satz dieses dicken Buches spricht aber von der Unaufhebbarkeit des persönlichen Erlebens. Es ließ sich, so schreibt er, für unsere bitteren Schmerzen und für die verschiedenen Kümmernisse, die uns von allen Seiten bedrängen, keine andere Linderung finden. Erzählen und reflektieren hilft also, um die Fremde zu bewältigen, in der es einen geworfen hat. Folgen wir jedenfalls dem leidgeprüften und zugleich glänzenden Stoiker.

Wir wechseln den Schauplatz. Ein kleines westböhmisches Streudorf, den Kamm des Böhmerwaldes kann man bei klarem Wetter erkennen. Es war kein sonderlich fruchtbares Land in dieser Gegend und auch kein besonders freundliches Klima. Der böhmische Wind war und ist berüchtigt, wenn sich in nicht seltener Wetterlage die Kaltluft des böhmischen Beckens über die Kämme des Erzgebirges und des Oberpfälzer Waldes ergießt.

Die Bauernhöfe brauchen also Land und Abstand zur Subsistenz. Deshalb gruppierten sich die Höfe seit Alters her locker um das Herz dieses Dorfes. Die Pfarrkirche und ihre Katharinkapelle datieren kundiger auf das 12. Jahrhundert. Niemand weiß, ob hier auch eine vorchristliche Ansiedlung existierte. Die relativ geschützte Lage auf einer leichten Anhöhe umgeben von den abfallenden Äckern lässt es wahrscheinlich sein.

Das Dorf wechselte seine Besitzer häufig, Klöster und lokale Adelsfamilien nutzten es als Wechselgeld. Dann pflügte der sogenannte Dreißigjährige Krieg mehrfach über das Dorf und unter seinen Bewohnern. Die alte Magistrale zwischen Nürnberg und Prag lag nicht weit, nur ein Waldstück war dazwischen. Es war also Fouragier-Distance.

Die Ödnis des Krieges blieb aber nicht lange unbesiedelt. Seit dieser Zeit, also seit kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg,

wurde im Kirchenbuch auch von einer Familie Heller Notiz genommen. Es waren arme Leute, die dann über Jahrhunderte im Dorf blieben und zu nichts kamen als ihrem kerklichen Leben. Die Generationen kannten Glück und mehr noch das Leid. Die Männer verdingten sich durchgehend als Gemeindehirten, Landarbeiter oder Feldwachen. Die Frauen sterben im Kinderbett oder an Auszehrungen.

Zwei KOK-Zensus zeigen uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Familie Heller in einem immer noch kleinen Häuschen mit einem kleinen Gärtchen und mit vielen, vielen Kindern. Der schon 53-jährige Wenzel, das Haupt der Familie, hatte aber im Jahr 1900 genug. Er hat gehört von den unbegrenzten Möglichkeiten in der 400 Kilometer entfernten Reichsmetropole. Nach Jahrhunderten geht es mit Zack und Pack plötzlich los.

Und man kommt an in der Brigittenau, einem billigen, feuchten Stadtrandgebiet, typisch für Immigranten nach Wien. Das Geld reicht für eine Wohnung und einen Fiat. Mit dem fährt Wenzel los wie Jim Jarmus' Figur Helmut Krokenberger im Taxi in New York.

Einer von Wenzels Schönen, Anton, hat sich aber noch im tiefen Böhmen in Makarete verliebt, ein Mädchen aus dem Nachbardorf. Man hielt Kontakt, schrieb Briefe. 1907 ging er dorthin, Wien verlassend, wohin die Familie seiner Geliebten gegangen war, nämlich nach Norden, nach Sachsen übers Erzgebirge. Die Tochter von Anton in Makarete hielt Kontakt nicht mit den böhmischen Dörfern, sondern mit Wien. Sie hieß Charlotte.

1942 besuchte sie in der Brigittenau ihre Onkel, Tanten und Cousinen, denn ihr Mann lag verwundert vom Fleischwolf von Rechef im Allgemeinen Krankenhaus, dort, wo jetzt die Büros der Zeitgeschichte sind. Ihrem Enkel hat diese Charlotte viel von Wien erzählt, dann später in der DDR. Als es diesen Enkel noch später nach Wien verschlug, stellte er nach einer Weile erschrocken fest, dass er keine 300 Meter Luftlinie von dem Haus entfernt wohnte,

in das Wenzel und die Seine 1900 gezogen waren. Solche Geschichten tragen wir mit uns herum. Das Beste, was wir machen können, ist, so Cicero, über sie nachzudenken und sie zu erzählen. Helfen tut das aber alles nichts. Überall abgetrennte Lebensszenen und neue Muster. Ursula Grechel, die uns über dieses Thema noch sehr viel heute berichten wird, veröffentlicht Geschichte in eigenen Bänden seit dem Jahr des Deutschen Herbstes.

Romane und Erzählungen seit der Wahl Ronald Wagons zum US-Präsidenten. Mit einem Theaterstück fing es ja an im Jahre des Putsches gegen Salvador Allende. Und Ihre Essays begleiten uns seit dem Jahr, als meine Mutter morgens begann, mich in die Krippe zu radeln. Wie viele Akademien haben Sie in Ihre Reihen berufen? Sehr viele.

Unsere heutige Vortragende ist promovierte Germanistin und sie steht exemplarisch für die Art von Persönlichkeiten, die wir uns einmal im Jahr nach Wien zur Vienna Public History Lecture einladen. In einem im Jahr 2010 veröffentlichten Gedicht schrieb sie, ich zitiere, hinter jedem Hügel eine Verwerfung. Maulwurfshügel, in denen die Erdwärme sich ballt. Eine Erdspannung, die kaum auszuhalten ist. Landschaft, die einen Witwinschleier trägt.

Und darunter, wer will es denn wissen? Abschied auf ein Immer Wiedersehen und ein Triften in eine unstadthafte Namenlosigkeit. Durch Schall und durch Erschütterung der Membrane ramponierte Wahrnehmung in den Sand gesetzte Zeichen. Und damit übergebe ich das Wort an die Autorin. Sehr geehrte Frau Dekanin Luther, sehr geehrter Professor Demarkowski, ich bedanke mich sehr für die Einladung nach Wien.

Als dieser Termin verabredet worden ist, war wohl niemandem klar, dass das heute ein bedeutsames, wahrscheinlich welthistorisches Datum ist. Da die USA eben doch eine andere Uhrzeit haben, sieht sich das Ereignis doch noch ein wenig anders.

weiter in den Abend, in die Nacht, sodass wir mit unserem Thema fertig sind. Gleichwohl hat dieses Thema natürlich große Wirkungen auch im Zusammenhang dieser Wahl. Es könnte sich dadurch sehr, sehr viel ändern, was auch die Dinge betrifft, über die ich sprechen werde. Achtung, hier kommen die Auswanderer, die im Bauch der Dampfer in die neue Welt reisten. Niemand hat auf sie gewartet, während sie sich nichts anderes wünschten als a better life.

Ein Fluchtgrund, der gegenwärtig denunziert wird, als wäre er gänzlich unangemessen, eine Zumutung, ja, schon fast unsittlich.

Das Nadelöhr, Ellis Island, die Sandbank vor New York in der Hudson-Mündung, auf der die amerikanische Einwanderungsbehörde ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Zelte, nein, riesige Hallen, Korridore mit Büros, Waschräumen, Speisesälen, durch die zwölf Millionen Menschen geschleust wurden, die meisten zwischen 1892 und 1914.

Die Einwanderer hatten unter jämmerlichen Bedingungen mit unzureichender Verpflegung in der dritten Klasse im Zwischendeck, das in Wirklichkeit der Laderaum war, die Überfahrt hinter sich gebracht. Manche mussten nur ein paar Stunden auf Ellis Island bleiben, andere monatelang, wieder andere wurden zurückgeschickt ins Unwägbare.

Passagiere der ersten und der zweiten Klasse mussten die Prozedur nicht durchlaufen. Sie wurden auf dem Schiff untersucht und abgefertigt. In den Hallen von Ellis Island müssen der Lärm, der Gestank, die vibrierende Aufregung unbeschreiblich gewesen sein.

Die Hauptregistrationshalle wurde auch Tierpark genannt. Gitter, Gatter, Gänge hinter Drahtzäunen, die die von der Überfahrt erschöpften Auswanderer zusammenferchten in einer rigiden Ordnung. Menschen aus verschiedenen Nationen wurden in Kategorien eingeteilt, die ihnen verborgen blieben. Und an der Stirnseite hing eine große amerikanische Flagge.

Eine lange Liste von Fragen war mithilfe von Dolmetschern an einem der Legal Desks zu beantworten. Wer hat ihre Überfahrt bezahlt? Haben sie Freunde? Haben sie hier Familie? Gibt es jemanden, der für sie bürgen kann? Sind sie Anarchist?

Sanitätsoffiziere prüften den Menschen nach Augenschein. Wenn ihnen jemand verdächtig erschien, zeichnete sie ihm einen Buchstaben auf die Schulter. C. Tuberkulose E. Augen F. Gesicht H. Herz K. Bruch L. Hinken S. C. Kopfhaut T. C. Drachom X. Geistesschwäche

Seit 1914 verringerte sich infolge des Krieges die Zahl der Einwanderer, auch wegen Diskriminierungsbeschlüssen. Seit 1924 regelten die amerikanischen Konsulate die Einwanderungsformalitäten. Das kommt uns bekannt vor, seit die EU Flüchtlinge außerhalb ihrer Grenzen abzufertigen versucht und die Prüfung ihrer Asylgründe Drittstaaten überlassen will.

Die kleine Insel wurde zur Haftanstalt für diejenigen, deren Papiere nicht ausreichend waren. Ellis Island steht gewissermaßen für eine industrielle Lenkung der Einwandererströme, für einen vorläufigen Fordismus, zeit- und platzsparend, überaus effizient. Manche der alten Fotografien lassen an Schlachthöfe in Chicago denken.

Heute ist Alice Island eine Touristenattraktion, eine Gedenkstätte mit einem Museum. Für 75 Dollar kann man eine Hard-Head-Tour buchen, die einen Besuch von Liberty Island mit der Freiheitsstatue und auch der nicht restaurierten Teile des Krankenhauskomplexes mit einschließt. Vorsicht, für Behinderte nicht geeignet.

Im Jahr 1978 waren Robert Bobert und Georges Pirec mit der Absicht, einen Film zu drehen, nach Ellis Island gereist und daraus ist ein Buch mit vielen bewegenden Zeugnissen von Menschen entstanden, die sich an ihre Ankunft zwischen Hoffen und Bangen erinnerten. Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht. Zitat.

Auf das eine Ende des Fließbandes stellt man einen Iren, einen ukrainischen Juden oder einen Italiener aus Apulien. Und am anderen Ende kommt nach Untersuchung der Augen, Untersuchung der Tränensäcke, Impfung und Desinfektion ein Amerikaner heraus. Zitat Ende, schreiben Robert Bobert und Georges Perrecq.

Robert Bobert wurde 1931 in Berlin als Kind jüdischer Eltern geboren, die aus Polen kamen. Seine Eltern flohen 1933 nach Frankreich und er überlebte im Schatten der Shoah. Nach dem Krieg arbeitete er als Erzieher traumatisierter Kinder, deren Eltern deportiert worden waren und schrieb darüber ein beeindruckendes Buch »Berg und Beck«.

Der Erzähler wendet sich darin in Briefen an einen früheren Mitschüler, der als Siebenjähriger getötet wurde. In seiner filmischen und schriftstellerischen Arbeit forscht Boberbe harrlich nach der Abwesenheit derer, die deportiert und getötet wurden.

Wiebobair hat George Perek, der 1936 geboren wurde und bereits 1982 starb, eine polnisch-jüdische Familie. Sein Vater verblutete als Soldat im Krieg. Seine Mutter ist trotz Warnungen so selbstbewusst, dass sie den gelben Stern nicht trägt. Als Witwe eines Soldaten fühlte sie sich sicher.

Es bleibt nicht aus, dass sie bei der Massenrazzia am 16. und 17. Juli 1942 festgenommen wird, wie 13.132 Juden und Jüdinnen und in das Lager Transy nördlich von Paris verschleppt wird. Eben vor dieser Razzia waren Robert Bobers Eltern gewarnt worden. Vermutlich wurde Perics Mutter in Auschwitz ermordet.

Georges Perek hat nur wenige Fotos von ihr, die er in seinem bewegenden Buch »W oder die Kindheitserinnerung« militiös beschreibt. Programmatisch heißt es jedoch »Ich habe keine Kindheitserinnerungen«. Doch Perek hat als Zwölfjähriger einen Text geschrieben, auf den er zurückgreift. »W, irgendwo im südlichen Pazifik, nicht weit von Feuerland angesiedelt, ist ein dystopischer Inselstaat, gegründet von Weißen«, Zitat, »wenn

Vertretern jener hochmütigen Klasse, die man in den Vereinigten Staaten WASP nennt. Das ist das Ende. Auf W, dieser unwirtlichen Insel mit steilen Küsten, regiert nicht die Arbeit, sondern der Sport.

Alles ist auf die rigiden Leibesübungen ausgerichtet. Olympisch, spartanisch, vollkommen hierarchisch. Eine sadistische Willkürherrschaft, aus der es kein Entkommen gibt. Keine Revolte, nur Unterwerfung. Mannschaftssportsarten gibt es nicht. Jeden Tag können die Organisatoren der Wettkämpfe die Regeln ändern.

Je länger der Autor das System von W entwickelt, umso deutlicher ist, W ist ein riesiges Konzentrationslager. Und als würde er sich die Augen reiben, fügt er eine Nachbewerkung hinzu. Ich habe vergessen, weshalb ich mit zwölf Jahren das Feuerland ausgesucht habe, um dort W anzusiedeln.

Pinochets Faschisten haben es auf sich genommen, meiner wahren Vorstellung einen letzten Nachhalt zu verleihen. Mehrere Inseln des Feuerlands sind heute Zwangslager. Zitat Ende. Setzt seine Erinnerung ein, als er Autonomie gewinnt, indem er den Fokus auf seine Erfindung richtet, die ihn genau dahin zurückbringt, wovon er nichts weiß.

Um das aber sein Denken und Fühlen kreist, die Totalität der Vernichtung, die Unmöglichkeit, vor ihr zu flüchten. Der Mutter von Georges Brecht gelingt es noch, für das Kind mit einem Rote-Kreuz-Transport bei der Massenflucht vor den Deutschen in die unbesetzte Zone Südfrankreichs einen Platz zu ergattern, der für jüdische Kinder gar nicht vorgesehen ist, sondern nur für Verwundete. So wird ihm ein Arm in eine Binde gesteckt und er kommt durch, hin und her geschoben.

Perecs Suchbewegungen münden in Spaziergänge durch Paris. Er sucht Straßen, Häuser, in denen er gewohnt hat. Nicht, dass der Krieg alle, die er sucht, zerstört hat. Häuser sind abgerissen worden, weil ein Parkplatz gebaut wurde. Ein Parkplatz, auf dem Müll herumliegt. Die Banalität der Stadtentwicklung kränkt.

An der Nahtstelle, die die Geschichtswissenschaft und den literarischen Umgang mit zeitgeschichtlichen und autobiografischen Stoffen verbindet und trennt, steht ein langer Gedankenstrich.

Der Historiker ist der Objektivität verpflichtet. Die Geschichtswissenschaft baut auf Forschung auf, treibt sie fort auch und gerade da, wo sie andere Forschungen argumentativ zurechtrückt oder falsifiziert. Kein Zweifel, ohne Forschung keine Wissenschaft und Wissenschaft braucht Begriffe.

Die Geschichtswissenschaft verfügt über objektive Maßstäbe, Literatur hat sie nicht. Wissenschaftliche Forschung ist darauf angelegt, überholt zu werden, schreibt Dieter Langewiesche in seiner Dankesrede zum Lyon-Feuchtwanger-Preis. Und Valentin Gröbner nennt die Geschichtswissenschaft eine Ernüchterungswissenschaft. Trotzdem, magisches Denken, der Zufall, das Finderglück sind dem Forschen nicht feindlich.

Historiker schreiben meist für ein Fachpublikum. Leichte Lesbarkeit, stilistische Finesse, ein machtvoller Zugriff, das sind Kriterien, die nicht unmittelbar erwartet werden. Sie gelten als Supplement der Chorifäen ihres Faches, die es sich leisten können. Wissenschaftler bewegen sich in einer Community, um die sie manche Schriftsteller und Schriftstellerinnen beneiden.

Literatur hat alle erdenklichen Freiheiten. Ja, sie muss sie sich nehmen, will sie bestehen. Sie kann um ihren Gegenstand herumgehen, eine Nah- und Fernsicht erproben, historische Personen sprechen lassen, was und wie sie vermutlich nie gesprochen hätten.

Sie kann das Leidvoll Individuelle, wie Georges Pirec, und das Allgemeine miteinander verknüpfen. Geschichte von unten und oben, ohne dass alles in einer funktionalen Mitte austariert wird. Erste oder dritte Person, das muss sorgsam entschieden werden. Der Zeitzeuge ist die erste Person in seiner Lebenserzählung. Schriftsteller und Schriftstellerinnen dagegen haben die Wahl zwischen verschiedenen Pronomen, Sehweisen, Sichtachsen.

Wenn sie autobiografisch schreiben, sind sie ZeitzeugInnen ihrer selbst. Nichts verpflichtet sie zur Objektivität. Sie sind ihrer Erinnerung verpflichtet und die ist, wie jeder weiß, trügerisch. Erinnerungen sind keine eidesstattlichen Erklärungen. Autofiktionale Texte sind durch Abwehr des allzu Schmerzlichen gegangen. Ich habe keine Kindheitserinnerungen. Ich wünschte mir, dass viele in meinem Gedächtnis gelöscht wären.

Der Historiker Reinhard Koselek hat die Nahtstelle zwischen wissenschaftlichen und literarischen Texten mit Neid oder doch Bewunderung umschrieben. Er spricht von der Überlegenheit der Dichtung, mehr über Geschichte aussagen zu können, als ein Historiker, der auf Begriffe angewiesen bleibt, jemals zu leisten vermag. Das ist das Ende.

Michel Foucault begreift Literatur weder als Nachahmung noch als ästhetische Kommunaturik, sondern als singuläre Erfahrung, als Welterfahrung für den, der sich hier aussetzt, nicht für das schreibende Individuum. Literatur lebt nur von dieser immerwährenden Dämmerung und Morgenröte. Sie kommt unablässig aus ihrem eigenen Verschwinden als ein unbestimmtes Murmeln zum Vorschein.

Nach dem generalistischen Diskurs der Philosophie, vermutlich im Sommer 1969 geschrieben und posthum veröffentlicht, die die Literatur, die er vorwiegend als Fiktion begreift, projektiv überhöht, wandte sich Foucault in seinem schweifenden Denken den Rändern zu, der Psychiatrie, dem Gefängnis, geschlossenen Systemen wie der Insel W, der Schreckensvision von Georges Pirec.

Die Geschichtswissenschaft trainiert die Schriftstellerin, die über Exilsituationen, Migration, Remigration und Transite in historischen Konstellationen schreibt, macht sie fit für die Kür. Vieles wüsste ich nicht, wenn ich nicht die Arbeiten von Historikern lese. Aber Wissen macht keine Literatur.

Die Geschichtswissenschaft bietet ein Unterfutter, gibt Hinweise auf sprudelnde Quellen. Und in den Archiven, die ich aufsuche, sitzen dann HistorikerInnen, Docs und Postdocs und die SchriftstellerInnen geschwisterlich auf den harten Stühlen nebeneinander. Doch die HistorikerInnen sind nach meiner Beobachtung beharrlicher. Sie haben nicht mehr den altmodischen Traum von der gepolsterten Sitzfläche eines Lehrstuhls, den es zu meiner Studienzeit noch gab,

Oder wie Hans Magnus Enzensberger die Produktionsbedingungen und Verwertungsbedingungen 1973 benannt hat. Gemeinhin Gehaltsempfänger, denen ein Stab von Mitarbeitern und ein Apparat von Arbeitsmitteln zur Verfügung stehen. Die ökonomische Basis solcher Unternehmen ist die Subvention. Zitat Ende. Schön wäre es. Kurz und knapp.

Die Wissenschaftler sprechen vom ideellen Gut, die Dichter von der hässlichen, hinkenden Ökonomie.

Wie derjenige, der sich ein Bein gebrochen hat, auf seinen mühsamen Krückenspaziergängen nur hinkende Menschen sieht, so sehe ich, seit ich mich mit der Nahtstelle zwischen der Geschichtswissenschaft und der Literatur beschäftige, überall Grenzgänge, eingerissene Zäune oder clevere Maulwurfsspuren von Lebewesen, die sich eingegraben haben in diesem unübersichtlichen Gebiet und vielleicht wieder ans Licht gelangen.

So ist es auffällig, dass der Übersichtsband "Geschichte schreiben in der Postmoderne" mit seinen Beiträgen zur aktuellen Diskussion im Epilog einen Schriftsteller zu Wort kommen lässt: Claude Simon mit einem Auszug als Georgiker. Erinnere dich: Die Geschichtswissenschaft gebraucht das Verb "erinnern" nicht als reflexives Verb. Sie erinnert an etwas.

Im November 1977, ein Jahr bevor Robert Bobert und Georges Pirek in Ellis Island das Tor zu so vielen Immigrantenschicksalen in den Vereinigten Staaten öffneten, reiste ich nach New York. 1977, das war das Jahr der größten Verfinsterung in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein Jahr, das sich ausdehnte in den deutschen Herbstjahre.

Der Auftakt war, Generalbundesanwalt Bobak wurde von einem Kommando Ulrike Meinhof in seinem Dienstwagen erschossen. Dann erführte die Rote Armee Fraktion Hans Martin Schleyer den Arbeitgeberpräsidenten mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. An allen möglichen Orten hingen die Fahndungsplakate mit mehr als einem Dutzend Köpfen der steckbrieflich Gesuchten.

Heute, fast 50 Jahre später, muss gesagt werden, Studierende, junge Intellektuelle, Künstler, Künstlerinnen und alternativ Lebende standen unter dem Generalverdacht, Staatsfeinde zu sein. Das traf eine ganze Generation. In diesem Herbst wollte ich die Bundesrepublik verlassen. Das Land, in dem Haarfarbe, Kleidung, Gestus jemanden verdächtig machten, Staatsfeindin zu sein.

Aufbruch, Forschungsaufenthalt, das Tasten nach einem Exil, wie immer es genannt werden könnte. Von einer ersten Reise nach New York hatte ich ein paar Adressen übrig behalten. Nicht die von Freunden, so weit war es nicht gekommen, eher die von netten Leuten. Ich hatte Traveller-Checks und eine Handvoll Dollar, wechselte einen davon in Kleingeld, suchte einen öffentlichen Telefonapparat und arbeitete meine Liste ab.

Peinlich und dumm und hilflos musste es klingen. Ich bin am Flughafen und brauche ein Bett. Später habe ich viel darüber nachgedacht, mit welcher Leichtfertigkeit, Kopflosigkeit und logistischen Planlosigkeit ich in die USA gereist war. Und ich bin ja nicht vertrieben worden, war nicht geflüchtet.

Ich hatte nichts zu fürchten, ich hatte nur Furcht gehabt. Dagegen waren meine Recherchepläne in New York ausgefeilt. Doch während ich nicht aufhören konnte, über die junge Frau tantenhaft den Kopf zu schütteln, verhandelte ich nach dem Motiv, bis ich bei dem Islamwissenschaftler Stefan Weidner den Begriff Selbstentwurzelung fand. Selbstentwurzelung. Jemand bricht auf? Aus welchen Motiven, politischen oder persönlichen?

In meinem Fall aus einer Überlagerung beider Motive. Selbstentwurzelung, ein individuelles Phänomen, das bei jedem voluntaristischen Abschied von den Eltern auftaucht. Am eindrücklichsten beschrieben von Peter Weiß, dem jungen Emigranten in Schweden.

Es taucht auf beim sozialen Aufstieg durch Bildung, beim Verlassen eines Landes als eine Chance oder ein schwerer Verlust. Geld, Traveller-Checks, Pass und der heute imaginäre Schlüssel zur Welt, das Handy.

Im Berliner Dokumentationszentrum Vertreibung und Versöhnung am Anhalter Bahnhof, von dem viele Flüchtlinge aus Nazideutschland aufgebrochen sind, gibt es eine Vitrine mit staunenswerten Objekten, wie sie wohl bisher nicht als museumswürdig galten. Erstens ein Samsung-Handy mit einer zersplitterten Oberfläche. Es gehörte Bassem aus Syrien, dem 2015 die Flucht nach Berlin gelang.

Zweitens, eine defekte SIM-Karte, die er vollkommen überteuert bei einem Straßenhändler auf Lesbos kaufte. Euro-Internet steht drauf und 10 Euro. Abends merkte er, dass die SIM-Karte nicht funktionierte. Am anderen Morgen, als er sie zurückbringen wollte, war der Händler verschwunden. Drittens, ein abgegriffenes, zerkratztes, mit Klebestreifen gepflegtes Handy aus Catania.

Besitzer unbekannt. Als die MS Aquarius 2016 641 Menschen an Bord nahm, die von der italienischen Küstenwache gerettet worden waren, konfiszierten die Vertreter der Behörden ihre Handys, um nach Schleppern zu fahnden. Eines der Handys ist nicht zurückgegeben worden. Eine Tragödie für den Flüchtling, heißt es in der Legende.

Die unscheinbaren Ausstellungsstücke machen deutlich, wie überlebenswichtig das kleine Ding auf der Flucht geworden ist. So können die Flüchtlinge mit Angehörigen, die um sie bangen, in Kontakt bleiben, Fluchtrouten erkunden und planen und bargeldlos bezahlen. Aber zwei drängende Fragen bleiben ungelöst. Wo ist die nächste Steckdose? Wie bekommt man einen Adapter für den Stecker?

Über Flüchtlinge zu schreiben, wie ich es seit langem tue, greift an, lässt die eigene sichere Existenz reflektieren und beschämt beim Alltagskonfortschweigen. Als ich diesen Text zu schreiben begann, wollte ich an die Bedingungen erinnern, unter denen Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Gegner des Nationalsozialismus aus Deutschland flüchteten.

und an die, an denen es nicht vergönnt war, zu flüchten. Ich dachte daran, mit welchen Argumenten sie ihre Flucht in einem anderen Land hätten begründen müssen, während die Aufnahmebedingungen, die die EU seit dem Dubliner Übereinkommen 1997 festgeschrieben hat, damals schon gültig gewesen. Sie wurden verschärft in der Dublin-II-Verordnung und praktisch ausgehebelt in der Dublin-III-Verordnung.

Was hätte das sichere Drittland sein können, das sie registrieren sollte? Und zurückblickend, wie lange oder besser, wie kurz, waren Länder wie Frankreich, die Tschechoslowakei, Österreich sicher?

Milena Jesenska, eine mutige Prager Journalistin, gemeinhin Kafkas Milena genannt, besuchte 1937 eine Unterkunft, in der Flüchtlinge aus Deutschland zum Teil schon seit 1933 lebten. Zitat, »Es sind fremde Menschen. Sie sprechen eine fremde Sprache und sie kommen aus einem fremden Land.«

Sie erzählen von sich selbst wie Leute, die nach einer schweren Krankheit zu einem Gesunden sprechen. Sie lächeln und sagen alles in allem nichts.

Denn was sollen sie schon sagen und woher die Worte nehmen? Aber diese Menschen stehen da und dürfen nicht arbeiten. Sie hören die Zeit frinnen, stehen da und warten auf morgen. Milena Jesenskas Schreibhaltung ist die eines grenzenlosen, selbstlosen Mitleids, verbunden mit einer klaren Beobachtungsgabe. Zitat.

Und vier Jahre Immigration sind nicht nur Hunger und Elend, Not, Verlassenheit, Einsamkeit, Heimweh und aufgezwungener Bettelstand. Vier Jahre Immigration sind ein schrecklicher, ein unerträglicher Seelenzustand. Mehrheitlich handelt es sich um junge Leute, Arbeiter und Intellektuelle.

Diese Menschen verlieren die Möglichkeit, tätig zu sein, sich zu bilden, sich weiterzuentwickeln. Es ist nicht nur der Hunger, der entkräftet, es ist auch die aufreibende, zermürbende Wachterei. Sollen diese Menschen nicht mit der Zeit zu einem Geschwür mitten in unserer Gesellschaft werden, nicht zu einem demoralisierten Element, dann müssen sie die Möglichkeit haben, zu leben. Zitat Ende.

Milena Jesenskas Ehemann war die Flucht gelungen, doch sie zögerte es hinaus, den Schritt zu wagen. Immer noch gab es Aufgaben, die sie glaubte erfüllen zu müssen. Sie hatte auch gezögert, weil sie das Elend von Flüchtlingen gesehen hatte und beschrieben hatte.

Milena Jesenska büßte für ihre politischen Überzeugungen und ihre Hilfe für Verfolgte. Sie hatte Gefährdeten zur Flucht geholfen, bis sie selbst in das Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert wurde und dort an einem Nierenversagen starb.

Ihre Briefe an Franz Kafka sind verschollen, so heißt das immer, wenn die Hinterlassenschaften von Frauen nicht geachtet und bewahrt werden. Kafkas Briefe an sie gab Willi Haas ohne Wissen ihrer Tochter Jana Tscherner heraus. Im Buch über ihre Mutter schreibt sie, dass sie erst nach ihrem Erscheinen davon erfahren habe.

Die Institutionen, vorwiegend die Quaker, die 1938 beharrlich darum gekämpft haben, 10.000 Kinder und Jugendliche aus Nazi-Deutschland und Österreich nach England zu lotsen, stehen nun 85 Jahre später heldenhaft da. Sie haben gerettet.

Und gleichzeitig wird der damaligen englischen Regierung der Vorwurf nicht erspart, sie hätte mehr tun müssen, die Eltern der Kinder ins Land zu lassen oder zumindest die doppelte Zahl von Minderjährigen. In England herrschten Arbeitslosigkeit und Angst vor der überwältigenden Macht Nazi-Deutschlands.

Doch wer sagt denn, dass in 85 Jahren nicht eine ebenso große Scham herrschen wird? Wir hätten mehr Opfer der Taliban, des IS, der Houthi-Rebellen, die Menschen abschlachten Europa lassen müssen.

Eine Schuld, deren Last es die zukünftigen zu tragen haben, wie viele aus meiner Generation unter der Last der Gleichgültigkeit, des Fatalismus, der Schuld unserer Eltern bis heute leiden. Humanität ist ein Wort, das gestrichen worden ist in der EU, in den Parteien, im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Aber andere kamen zurück nach Deutschland, nach Österreich, bereit und mutig genug zu einer Remigration. Niemand hatte auf sie gewartet. Im Gegenteil, sie waren lästig, standen in dauernder Konkurrenz zu den Flüchtlingen aus den Ostgebieten.

Manche hatten die Zeit ihrer Immigration damit verbracht, Pläne zu schmieden, Programme zu entwerfen, Bündnispartner zu suchen für die Aufbauarbeit nach dem Ende der Nazi-Herrschaft. Frankfurt am Main war die einzige westdeutsche Stadt, die ihre Immigranten zurückrief.

Ihr Oberbürgermeister Walter Kolb, ein Sozialdemokrat, hatte unter den Nationalsozialisten unendlich gelitten. Es waren nur 5% der Emigranten aus Nazi-Deutschland, darunter eine kulturelle und eine politische Elite, die Remigranten wurden. Und sie wurden zum Teil übel aufgenommen als die, die nicht in den Bunkern gesessen hatten, als die, die gegen Deutschland gekämpft hatten, deren Stellen, deren Wohnungen man gerne eingenommen hatte, als sie flohen.

Ernst Reuter, der erste Oberbürgermeister der drei Westsektoren Berlins, war nach zweimaligem Konzentrationslageraufenthalt in die Türkei entkommen und lehrte an der Universität Ankara Stadtplanung. Remigration. Es drängte ihn, zurückzukommen.

Nur Freiwillige nach Europa hatte der Regisseur und Dichter Berthold Viertel in der Austrian American Tribune geraten. Zitat Ende.

Als er am 2. Oktober 1949 in Southampton wieder europäischen Boden betrat, war er 62 Jahre alt. Der Dramatiker Karl Zuckmeier war über die Schweiz und über Kuba 1939 in die USA geflüchtet. 1946 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Im selben Jahr reiste er im Auftrag der amerikanischen Regierung nach Österreich und Deutschland,

um zu erkunden, wie man das Theater wieder in Gang bringen könnte. In einer ähnlichen Funktion kam Alfred Döblin im Auftrag der französischen Regierung nach Deutschland. Doch während Döblin in der Uniform eines französischen Offiziers auftrat, was die Deutschen maßlos erregte, reiste Zuckmeier als ein Zivilangestellter.

Zuckmeier ist im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten, insbesondere Erika und Thomas Mann, der Ansicht, dass es das andere Deutschland gibt. Jedenfalls möchte er daran glauben. Während er zurück in den USA, in seinem Bauernhof in Vermont, weil kein Tierarzt die Farm erreicht, einer Ziege bei der Totgeburt zwei Zicklein beisteht. Remigration.

Zwischen 1946 und 1955 reist er mehrfach zwischen Europa und den USA hin und her. Sobald er in Deutschland ist, weiß er, Zitat, »dass ich kein Amerikaner bin, obwohl ich in Amerika ein Heim und draußen in Vermont eine echte Zugehörigkeit gefunden hatte.«

Ich empfand immer stärker, dass ich nicht zu denen gehörte, die mich hierher berufen hatten und mich als einen der ihren betrachteten, sondern zu dem Volk, dessen Sprache und Art die meine war, in dem ich geboren wurde, aufgewachsen bin. Aber auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause. Da war ein Schatten, den man nicht überschreiten konnte.

Auch der nicht, dem jede schreckliche Vereinfachung, jede Kollektivanklage fremd war. Der Schatten eines grausamen Verbrechens, das auch bei anderen Völkern denkbar und möglich gewesen wäre, aber bei dem unseren war es geschehen und gerade bei diesem, wie wir es liebten und weiter lieben, hätte es nicht geschehen dürften.

Ich gehörte nicht zu den Siegermächten, aber auch nicht zu den Besiegten. Jetzt, nach der Wiederkehr, war ich erst wirklich heimatlos geworden und wusste nicht, wie ich je wieder Heimat finden sollte. Zuckmeier ist der Schriftsteller, der sehr früh und am pointiertesten den millionenfachen Mord als eine Ursache der Entfremdung benennt und beklagt.

Dagegen wiegen seine persönlichen Kränkungen und Verluste gering. Der Riesenerfolg von Deskäufels General in den Theatern macht ihn nicht heimisch. Auch nicht die Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Bonn, nicht das große Verdienstkreuz mit Sternen.

1958 beantragt er die österreichische Staatsbürgerschaft. 1966 wird ihm die Schweizerische verliehen. Er, der Bodenständige, der schon einmal im Salzburgischen gelebt hatte, entscheidet sich für ein Haus im Wallis. Es hätte anders kommen können.

Der Wienerin Franziska Tausig und ihrem Mann war es gelungen, ihren einzigen Sohn Otto zu einem Kindertransport nach England zu bringen. Danach blieb ihnen nur die Immigration nach Shanghai und auch das war ein Glücksfall, weil ein anderes Ehepaar der Reise ins Unwägbare den Selbstmord vorgezogen hatte.

Franziska Tau sich war in Shanghai Witwe geworden und gehörte zu den ersten der Schanghai-Länder, die sich repatriieren lassen möchte. Das bedeutete, sie, die staatenlos gewordene, musste sich auf einem Formular zu Österreich bekennen, ehe sie mit dem ersten Schiff von Repatrianten, das im Hafen Schanghai auslief, aufbrechen durfte.

Zitat Ende.

Hilde Schmiel kommt und kommt nicht. In der Kake-Uniform der britischen Armee trifft sie am 31. Januar 1946 in Wien ein. Sie ist gut informiert, reicht als Korrespondentin der Wochenzeitung New Statesman und bringt nach zehn Jahren des Exils in London eine gehörige Portion britischer Rationalität mit.

Nicht erst der Anschluss Österreichs an das wahnhafte Deutsche Reich hat sie aus dem Land getrieben, sondern bereits der austrofaschistische Ständestaat. Rückkehr nach Wien, ein Tagebuch, ist erst 1968 erschienen, nicht in Österreich, sondern in München.

Zitat

Das Bewusstsein, hier nicht mehr herzugehören, ist aus Schmerz und Befriedigung gemischt. Die Bomben, die diesen Häusern die Augen ausbließen, haben nichts mit mir zu tun. Meine Bomben färbten an jenem 8. September den Himmel der City rot.

als ich auf das Dach im Vorort stieg, um den Folgenschein zu betrachten. Meine eigene Bombe hatte im Februar 1944 gegenüber meinem Haus eingeschlagen, hatte zwölf Leute getötet und zwanzig verletzt, deren helle, scharfe Schmerzensschreie mir noch in den Ohren klingen und meine Wohnung in eine Mondlandschaft aus zersplittertem Holz und zerschmettertem Glas verwandelt. Zitat Ende. Die Toten

Von den anderen Remigranten vermeiden zu sprechen, sind nach ihrer Auffassung, Zitat, uns so gründlich entzogen, dass es nicht darauf ankommt, ob sie gestern oder vor tausend Jahren gestorben sind. Mit kaltem historischen Interesse suchte ich hinter Schutt und Asche eine Epoche, die nicht weniger tief im Schoß der Zeit zu liegen scheint als das Römische Reich. Zitat Ende. Das klingt hart, klingt nach einem rigiden Überlebensprogramm.

Sie berichtet von einem jungen Autor, Hans Weigel, der nicht zögerte, rasch nach seiner Emigration aus der Schweiz nach Wien zurückzukehren, wo man ihn wie einen heimgekehrten Sohn einer großen und verlorenen Familie begrüßte.

Ihn hat Wien wie ein Magnet angezogen. Der Preis für seine idealisierte Remigration ist allerdings Anpassung, Überanpassung an die reaktionäre Gesellschaft, eindeutige Parteinahme im Kalten Krieg.

Sie wiederum zieht es zu ihren Kindern, die in England geboren wurden. Ihre Remigration ist dann eher ein geordneter Umzug, der erst im Jahr 1963 stattfindet, nachdem die Frankfurter Allgemeine Zeitung, vertreten durch Marcel Reich-Ranitzky, ihr anbietet, Korrespondentin in Wien zu werden. Ihre Weltläufigkeit, ihre Kenntnisse sind unverzichtbar. Remigration als ethische Säuberung.

Remigration als ethnische Säuberung, Remigration als Deportation. Wer heute von Remigration schwafelt, zieht das Ansehen dieser Menschen, ihre Verluste, ihre Konflikte in den Dreck ab.

zieht Menschen, die heute in unseren Ländern leben, den Boden unter den Füßen weg, den Boden, auf dem sie sich eine Existenz aufgebaut haben. Migrare, gehen, nicht gegangen werden. Es ist nicht so, als wäre bei einem Geheimtreffen in einem Potsdamer Hotel der Begriff Remigration aus dem Hut gezaubert worden.

Er kursiert schon lange in postfaschistischen Kreisen bei Marine Le Pen, bei Georgia Meloni. Der Vorschlag zur massenhaften Ausweisung von Migranten aus Deutschland rührt an die Grundfesten unserer Gesellschaft und wir wissen, ob in den Flüchtlingsunterkünften nicht längst oppositionelle Türken, irakische Kurden, Afghanen und Syrer dabei sind, Pläne für ihre Länder auszuarbeiten, für den Tag, an dem ihr Land schließt.

eine Perspektive für sie hat. Etwas flattert am losen Band. Schlaflosigkeit. So nennt Bertolt Viertel seine Gedichtssammlung aus dem amerikanischen Exil. Nichts ist ihm wirklich gelungen in diesen Jahren. Filmprojekte scheiterten, Regiepläne wurden storniert, eine Vorauszahlung für ein Gedichtband wurde vom Konkurs der Druckerei geschluckt.

Die schlaflose Nacht des Exils. Davon schrieb Friedrich Engels in Bezug auf den Emigranten Karl Marx. Das Herzastmal des Exils, Thomas Mann.

Er, der die Bedrohlichkeit des Exils als Existenzform bei vergleichsweise hervorragenden ökonomischen Bedingungen durchlitt, erfindet diesen Begriff. In seinem berühmten offenen Brief an Walter von Molo, warum ich nicht zurückkehre, später variiert in Zurückkehre, veröffentlicht in der Immigrantenzeitung Aufbau vom 28. September 1945 und vielfach nachgedruckt,

benennt er das Herzasthma des Exils, die Entwurzelung, die nervösen Schrecken der Heimatlosigkeit. Hat Thomas Mann von fern Friedrich Engels gehört? Ein Echo über Jahrhunderte hinweg?

Vermutlich hat er ihn nicht gelesen. Und wenn diese beiden hochprivilegierten Emigranten, der Unternehmer und der Nobelpreisträger den Schmerz, die chronische Krankheit benennen, wie ist es dann mit denen, die keine Sprache haben oder eine, die nicht einmal ihre Kinder mehr verstehen?

Nein, es ist nicht gesund, nie mehr zu Hause sein zu dürfen. Viele Exzellenten tragen ihren Hausschlüssel bei sich, obwohl vollkommen unwägbar ist, ob sie ihn jemals wieder benutzen können. Er ist eine Art Talisman, der ihnen auch ihre Erinnerungen aufschließt. Möglichkeiten in einer unsicheren Zukunft, vielleicht einer Krankengeschichte oder die eines Neuanfangs unter zufällig glücklichen Umständen,

Vielleicht erst für ihre Kinder und Kindeskinder. Schmerzlos sind wir und haben fast die Sprache in der Fremde verloren. Diese Zeilen aus dem Gedicht Nemosyne von Friedrich Hölderlin haben mich lange begleitet. Nemosyne ist die Göttin der Erinnerung, auch der Geschichtswissenschaft. Ich danke Ihnen.