Deutschlandfunk, Kulturfragen. Mit Anja Reinhardt am Mikrofon, guten Tag.
In den letzten Tagen war die Beschäftigung mit der Geschichte allgegenwärtig. Nicht nur anlässlich des Kriegsendes vor 80 Jahren am 8. Mai, sondern auch, weil die Bezeichnung historisch auffallend oft in der gegenwärtigen Politik fällt. Zuletzt am Dienstag, als zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein Kanzler nicht im ersten Wahlgang gewählt wurde. Gerade weil wir heute feststellen, dass die Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, liegt die Bezeichnung historisch auf.
Liegt der Vergleich mit der Weimarer Republik nahe und der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat ihn am Tag der Kanzlerwahl zum wiederholten Mal gezogen.
Welchen Sinn historische Vergleiche haben, darüber kann ich in diesen Kulturfragen mit dem Historiker Jörn Leonard sprechen. Er ist Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Freiburg, Autor zahlreicher Bücher, darunter über Kriege und wie man sie beendet. 2024 bekam er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis und außerdem gehört die vergleichende Geschichtswissenschaft zu seinen Spezialgebieten. Guten Tag, Herr Leonard. Guten Tag.
Friedrich Nietzsche hat sich vor ziemlich genau 150 Jahren Gedanken über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben gemacht. Eine kritische Auseinandersetzung mit der damals ja noch eher jungen Disziplin. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen, heißt es bei ihm. Ist das ein Satz, mit dem Sie etwas anfangen können? Also Friedrich Nietzsche formuliert diese berühmte Schrift ja vor dem Hintergrund des Eindrucks, den er gewinnt, dass seine eigene Gegenwart
unter einem zu viel an Geschichte leidet. Er hat, könnte man sagen, Angst davor, dass man die Gegenwart nur noch unter dem Gesichtspunkt sieht, was sie mit der Vergangenheit zu tun hat. Er hat Angst davor, dass die Menschen der Gegenwart Epigonen werden, nur noch eine Art von historischem Mimikrie betreiben. Und ich würde Friedrich Nietzsche für ...
meinen eigenen Blick insofern nutzen, als ich davor warne, alles und jedes als historisch zu bezeichnen. Denn wenn alles und jedes historisch ist oder scheint, dann ist eigentlich gar nichts mehr historisch. Wir leiden unter einer Art von Inflation dieser Begriffe und da hat vielleicht auch die Geschichtswissenschaft dann eine Aufgabe, genau hinzugucken und das in der Öffentlichkeit besser zu vermitteln.
Was bedeutet das in Bezug auf diese doch recht ereignisreiche Woche mit zuerst der Einstufung der AfD als gesichert rechtsextremistischer Partei, was ja auch immer wieder zu historischen Vergleichen führt und dann einer bislang einzigartigen Kanzlerwahl in der Geschichte der Bundesrepublik?
Ich wende mich gar nicht dagegen, dass wir vergleichen. Das Entscheidende ist, dass das Vergleichen nicht die Gleichsetzung bedeutet. Es ist nachvollziehbar und auch wichtig, dass wir fragen, was ist der Gehalt, was ist die neue Qualität, wenn eine Partei in der Bundesrepublik als gesichert rechtsextremistisch bezeichnet wird und was ist...
Was verändert sich in der Qualität der Politik, des Politischen, wenn wir eine im ersten Wahlgang gescheiterte Kanzlerwahl erleben? Aber deshalb muss nicht alles 1928, 1929, 1930 sein und auf ein scheinbar neues 1933 hinausläufen. Denn das liegt in der Natur der Sache. Wer permanent in die Weimarer Republik blickt,
Der provoziert auch so etwas wie einen Angstschauder. Sind wir schon da oder sind wir schon einen Schritt weiter? Und da würde ich sagen, sollte man nüchtern und analytisch drauf blicken. Und wenn man das tut, dann könnte man sagen, ganz anders als am Ende der 1920er und frühen 1930er Jahre,
vollzieht die Bundesrepublik vielleicht im Augenblick eine Entwicklung, die in vielen anderen westeuropäischen Gesellschaften schon sehr viel länger unterwegs ist. Wir haben uns in der Bundesrepublik an ein über viele Jahre einzigartiges Niveau der Stabilität des Parteiensystems, auch der Institutionen gewöhnt. Wir kommen jetzt sicher in unruhigeres Fahrwasser. Aber das ist keine Neuauflage eines deutschen Sonderweges. Es findet auch nicht statt in einer Situation,
Nachkriegsphase, nach einem katastrophischen Weltkrieg. Deutschland ist auch kein politischer oder diplomatischer Paria. Wir haben keinen Bürgerkrieg auf den Straßen und dieser Unterschied zwischen einem unruhigen Fahrwasser und einer Staatskrise, einer Verfassungskrise, der ist mir doch im Vergleich zwischen den 1920er Jahren und der Gegenwart sehr wichtig.
Da wäre aber dann die Frage, welche Funktion eigentlich dieser Weimar-Vergleich hat, der ja dann doch immer sofort eine gewisse Aufmerksamkeit nach sich zieht. Da haben Sie, glaube ich, schon einen wichtigen Aspekt angesprochen. Wer mit Weimar vergleicht oder wer den Vergleich mit dem Nationalsozialismus einsetzt, der produziert, könnte man sagen, erstmal Aufmerksamkeit, der markiert etwas als besonders wichtig, dramatisch.
Man könnte fast sagen, er markiert einen Kairos-Moment, eine Entscheidung. Und das ist nachvollziehbar. Aber es sagt dann vielleicht doch weniger über die 1920er Jahre und unsere Gegenwart aus, sondern sehr viel über Sicherheiten, die uns in der Gegenwart abhandengekommen sind. Ich würde sagen, bei den Analogien ist es völlig legitim, mit ihnen zu beginnen. Sie sind häufig so eine Art Begründung.
der Erkenntnis, aber man muss dann auch den zweiten Schritt gehen und fragen, wie weit trägt die Analogie und wo hört sie auf und wo muss ich vielleicht hin?
Das eigene Urteil fällen. Also im besten Sinne könnte man sagen, immunisiert die Beschäftigung mit der Geschichte auch gegen die falschen Vergleiche, gegen die Verzerrungen im weitesten Sinne vielleicht sogar gegen die Geschichtspolitik. Und wir erleben ja, egal ob bei Wladimir Putin, bei Donald Trump, bei vielen anderen Populisten, ja genau dies, eine Instrumentalisierung der Geschichte,
zum Zwecke der Geschichtspolitik. Und wenn man sich dagegen wehren will, darf man den einfachen Analogien nicht vorschnell auf den Leim gehen. Also das heißt mit anderen Worten, Sie warnen auch davor, dass sozusagen auch in der Demokratie die Geschichte als Kampfbegriff, um es jetzt mal ein bisschen überspitzt oder zugespitzt zu formulieren, instrumentalisiert wird. Man muss zunächst sich beobachten,
dass das passiert und wenn man es merkt, muss man sich dagegen wehren und nicht einfach einen falschen Vergleich übernehmen, weil er in gewisser Weise dann auch zu einer Dauerpanikmache beiträgt. Also wenn alles in diese Richtung geht und ich erlebe das ja, wie oft ich im Augenblick gefragt werde, sind wir jetzt schon 1928 oder schon 1930 gewesen,
dann könnte man sagen, wird man auch Opfer eines unter Umständen determinierten Geschichtsbildes und begibt sich in gewisser Weise in ein abschüssiges Terrain. Und wir haben ja mit Nietzsche angefangen, man könnte Nietzsche's Schrift eben auch als Warnung davor lesen,
sich von der Geschichte das eigene Urteil abnehmen zu lassen. Wenn die Geschichte inspiriert, dazu zu fragen, was erinnert an frühere Erfahrungen und worin unterscheidet sich die Gegenwart, dann finde ich, erfüllt sie eine ganz wichtige Funktion für Gesellschaften.
Aber wenn sie in so eine Art zyklisches Muster überführt, wenn man das Gefühl hat, alles wird schlechter und es kam, wie es kommen musste, dann ist etwas schiefgelaufen. Und gegen diese Art der Hyperdeterminierung, für die wir vielleicht in Deutschland auch eine besondere Anfälligkeit haben, auch nach der Erfahrung von Katastrophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da, finde ich, muss man gegenhalten. Und das ist im Augenblick natürlich eine aufgeheizte Situation, in der diese Situation,
Analogien auch permanent vorkommen und dann eben alles irgendwie historisch wirkt.
Also man könnte vielleicht sagen, dass 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ja wir doch auf der einen Seite feststellen, dass auch das Verständnis der Bundesrepublik, der Gründungsmythos ex negativo, das Bewusstsein um die Geschichte und dass man aus dieser Geschichte lernt, ja zur Bundesrepublik sozusagen zur DNA dazugehört.
Da verändert sich gerade was. Wie würden Sie sagen, ist das nach 80 Jahren? Und gerade wenn man auch nochmal daran denkt, dass Geschichte natürlich auch immer in der Gegenwart gebildet wird. Also zunächst erleben wir sicher einen generationellen Wandel. Das ist erstmal sehr wichtig, weil die unmittelbaren Zeitzeugen des Holocaust, der Verbindung aus Krieg und Verbrechen,
wenn man so will, der beiden Perspektiven von Tätern und Opfern, weil uns diese Zeitzeugen jetzt verlassen. Diese Generation tritt ab und damit steht natürlich
die Herausforderung vor uns, wie wir ohne diesen Kontakt zu den damals Miterlebenden diese Geschichte erinnern. Und ich glaube, dass in der Gedenkstättenarbeit, in der Erinnerungskultur darauf auch schon viele Jahre reagiert wurde. Aber es ist natürlich eine Veränderung. Der zweite wesentliche Aspekt, den ich hier nennen würde, ist, die Bundesrepublik ist ein Einwanderungsland. Das heißt, wir
Wir können nicht davon ausgehen, dass wir mit Blick auf Erfahrungen der Vertreibung, Erfahrungen des Holocaust allein die Erinnerungspolitik so fortführen können, wie das vielleicht zwischen 1945 und in der Gegenwart passiert ist. Wir haben viele Menschen, die nach Deutschland kommen, die mit ganz anderen Erinnerungen aufwarten. Und das ist eine zweite Herausforderung. Und die dritte ist ...
Im Rahmen der Neuentstehung der neuen Stärke von rechtspopulistischen, jetzt gesichert rechtsextremistischen Parteien, einen Versuch des Revisionismus, der revisionistischen Interpretation. Und damit geht einher die Forderung weiter Teile der AfD, die Erinnerungspolitik, man könnte auch sagen den erinnerungspolitischen Konsens der Bundesrepublik,
Das ist ja das Programm, das man bei der AfD findet und insofern steht...
Das, was uns 80 Jahre vielleicht auch nicht spannungs- und konfliktfrei begleitet hat. Wir denken an die Spiegel-Affäre, wir denken an die 68er, wir denken an die Auschwitz-Prozesse. Das waren ja auch alles Kontroversen. Aber wir stehen sicher vor einem Umbruch dieses Umgangs mit unserer eigenen Geschichte. Und das merken wir. Das steckt in gewisser Weise in vielen Kontroversen unserer eigenen unmittelbaren Gegenwart auch schon drin.
Diesen Umbruch, den merken wir ja nicht nur in Deutschland, sondern der betrifft ja die ganze Nachkriegsordnung. Also spätestens seit diesem Eklat im Weißen Haus war das ja doch sehr offensichtlich, dass sich da sehr massiv etwas verändert hat, was sich in den Jahren davor sicher schon angedeutet hat. Jetzt haben Sie zum Beispiel auch in Ihrem Buch Empires, das Sie zusammen mit Ulrike von Hirschhausen geschrieben haben, gezeigt, dass das imperiale Denken nicht verschwunden ist.
Warum haben wir das nicht gemerkt? Ja, das ist eine sehr gute Frage und ich finde die deshalb so gut, weil sie sich natürlich auch definitiv an uns Historiker und Historikerinnen richtet. Wir haben vielleicht in Westeuropa zu sehr darauf vertraut, dass dieses Modell der supranationalen Integration, der Europäisierung, der Pazifizierung Europas durch mehr Integration funktioniert.
Die Kategorie Raum, die Kategorie Empire als etwas, Nietzsche würde sagen, als etwas Antiquarisches, also als etwas rein Historisches, das wir im Museum betrachten, gemacht hat. Und das ist eben nicht so. Wir sehen, dass offensichtlich die Erfahrung der Globalisierung in vielen Gesellschaften
zu ganz anderen möglichen Reaktionen geführt hat. Also zu einer Rückbesinnung auf Geschichte, zu einer Rückbesinnung auf scheinbare Höhepunkte der eigenen imperialen Geschichte. Und wir haben unterschätzt, dass Gesellschaften nach dem Untergang von Empires, also Habsburg nach 1918, aber eben auch Russland nach dem Untergang der Sowjetunion, das Osmanische Reich oder die Türkei nach dem Untergang des Osmanischen Reichs,
dass solche Gesellschaften extrem empfindlich sind und man könnte etwas platt sagen, in einer solchen Phase unter Umständen auch in einer größeren Gefahr sind, Rattenfängern zu folgen. Und man könnte sagen, Putins...
Also diese Rückbesinnung auf den Raum, auf das Vorfeld, auf alte Größe, auf eine zivilisatorische Mission, auf die moralische Überlegenheit, die Idee des dritten Roms und was da alles dran hängt.
Das hat eben auch etwas mit dieser Erfahrung einer wahrgenommenen Demütigung 1989, 1991 zu tun. Das ist nicht die einzige Erklärung, aber es ist eine Erklärung. Und wir haben vielleicht unterschätzt, wie stark Gesellschaften auch in der Gegenwart für diese, man könnte sagen, geschichtlichen Heilsversprechen sind. Und das holt uns im Augenblick ein Stück ein. Wir haben vielleicht zu sehr von unserer eigenen deutschen Geschichte gehört.
die eben eine Geschichte der Souveränitätstransfers, des Fortschritts sozusagen der Geschichte. Richtig, genau. In gewisser Weise auch verbunden mit der Idee, dass man aus der Geschichte paradigmatisch lernen kann. Das hat sich für viele Deutsche manchmal auch mit einer gewissen moralischen Suprematie verbunden. Wir waren vielleicht auch ein bisschen Besserwisser, weil wir gesagt haben, wir haben einmal in die Abgründe geblickt und wissen jetzt ganz,
ganz genau, worauf wir achten müssen. In all dem sind wir vielleicht durch die Erfahrungen der letzten Jahre auch ein bisschen vorsichtiger geworden, jedenfalls unsicherer. Und das merkt man im Augenblick in Deutschland an vielen Stellen, in der wissenschaftlichen Diskussion, in der Frage des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, in der politischen Diskussion, in der Frage, was ist uns abhandengekommen und wo gehen wir hin. Diese Abhandenheit
Diese abgenommene Erwartungssicherheit, diese erodierte Erwartungssicherheit, die glaube ich hat sehr viel damit zu tun. Und diese, man könnte es auch Orientierungslosigkeit vielleicht nennen, ist die eigentlich verantwortlich dafür, dass Geschichtsformate in jeglicher Form, ob jetzt als Podcast, als Fernsehformat oder auch als Zeitschrift, dass die so gut funktionieren?
Ich glaube, sie katalysiert das. Aber sie haben natürlich einen Faktor genannt, der, glaube ich, von großer Bedeutung ist und den ich vorhin als vierten Punkt vergessen habe. Und das ist der mediale Wandel. Geschichte ist eben nicht etwas, was nur mehr im Museum, in der Ausstellung, im Schulunterricht, auf der Universität stattfindet, sondern jeder kann das mit einem Podcast-Kanal inzwischen selbst machen. In den sozialen Medien entsteht
Ja, eine Vielfalt von Teilöffentlichkeiten, in denen Menschen ihre eigenen Geschichtserzählungen fabrizieren. Ich würde als Wissenschaftler sagen, das kann eben auch völlig unkontrolliert sein. Das ist dann kein abgesichertes Wissen, sondern das ist Meinung. Und dann geht der Unterschied zwischen Information, Nachricht, Meinung, gesichertem Wissen,
Wissen komplett verloren. Und dieser mediale Wandel hat, glaube ich, zu dieser Präsenz von Geschichte enorm beigetragen. Also jegliche Art von Popularisierung über Fernsehen, über Internet, aber eben auch jegliche Möglichkeit, aus der Geschichte eine Meinung abzuleiten und sie in einer eigenen Blase, einer eigenen Teilöffentlichkeit zu kommunizieren. Das ist nochmal ein wesentlicher qualitativer Wandel.
Übrigens natürlich auch nochmal zur Frage von Öffentlichkeit und Geschichte im 19. Jahrhundert in der Phase, in der Nietzsche geschrieben hat. Und da ist eine, würde ich sagen, wirklich fast revolutionierende Veränderung eingetreten. Wir erreichen mit dem, was ich im Hörsaal tue, eben nur noch einen relativ kleinen Teil. Ich kann die Hoffnung haben, dass ich zukünftige Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrer damit auf einen guten Weg bringe.
Aber das ist eben in einer Konkurrenz zu vielen, vielen anderen Formaten, die eine unglaubliche Eigendynamik entwickeln. Und da ist man manchmal als Wissenschaftler auch in einer eigenen Art von Defensive. Anders kann ich mir nicht erklären, warum wir trotz all dieser großen Bemühungen viele junge Leute nicht mehr unbedingt erreichen. Und das wäre auch für mich die Erklärung, warum trotz der Begegnung
Präsenz des Nationalsozialismus des sogenannten Dritten Reichs in den schulischen Curricula die letzten Umfragen doch erschreckende Ergebnisse hervorgebracht haben, was das Allgemeinwissen von Schülerinnen und Schülern zum Holocaust, zur Geschichte des NS bedeutet. Ich glaube, das hat auch etwas mit diesem Medienwandel zu tun.
Ja, es hat möglicherweise auch etwas damit zu tun, weil sie eben die Hoffnung ausgesprochen haben, dass sie möglicherweise auch Geschichtslehrer und Lehrerinnen ausbilden, dass die gar nicht mehr so viel zu tun haben. Denn de facto ist es so, dass der Geschichtsunterricht an den Schulen doch eingeschränkt worden ist in den letzten Jahren. Das gilt zumindest für Nordrhein-Westfalen, da weiß ich es auf jeden Fall. Das ist natürlich auch für den historischen Vergleich, der sich ja immer lohnt, ich glaube, da sind wir uns einig, ziemlich fatal.
Das stimmt. Der kleine Trost ist, dass das im bundesdeutschen Bildungsföderalismus in anderen Bundesländern anders sein kann. Und da bin ich in Baden-Württemberg, glaube ich, ganz froh, auch weil man merkt, wie stark in der curricularen Arbeit der Dialog zwischen Lehrerinnen, Lehrern, Schulbehörden und der Wissenschaft gepflegt wird.
Wir haben das gemerkt, etwa bei der Frage, wie stellt man die Folgen des Ersten Weltkriegs in den Schulbüchern dar. Da hat es großes Interesse gegeben. Natürlich, es dauert lange, bis das dann in die Welt der Schulbücher übernommen wird. Aber was Sie sagen, ist natürlich trotzdem ein Alarmsignal, weil es das abgesicherte Wissen interessiert.
in Frage stellt, weil es, man könnte sagen, viele Schülerinnen und Schüler dann viel unvorbereiteter auf all diese Teilöffentlichkeiten und dem, wie in sozialen Medien Geschichte dargestellt wird, loslässt. Und ich finde, da hat die Schule eine extrem wichtige Funktion. Was nutzen mit anderen Worten alle Schülerwettbewerbe und alle Ausstellungsprojekte
die Stiftungen finanzieren, wenn es keinen guten Platz mehr für einen guten Schulunterricht ist. Und das ist ja kein Unterricht, wo Daten kompiliert und addiert werden, sondern wo es um das Verständnis von größeren strukturellen Zusammenhängen geht. Also nicht welche
Politiker haben wann was unterschrieben, sondern warum scheitert die Weimarer Republik? Wie konnte der NS diesen Aufstieg in Deutschland nehmen? Warum in Deutschland und nicht in Großbritannien und nicht in den USA? Und dann ist man genau bei diesen vergleichenden Fragen. Die finde ich für die Relevanz, für die Gegenwart enorme Relevanz haben. Aber das braucht einen Ort in der Schule und deshalb ist das betrüblich, was Sie sagen, wenn das in NRW eine andere Richtung nimmt.
Müssen wir uns, Herr Leonard, vielleicht auch immer noch ein bisschen mehr klar machen, aus welcher Perspektive heraus wir historische Vergleiche ziehen, nämlich mit dem Wissen darum, wie die Geschichte dann verlaufen ist? Das ist ein Grundproblem. Der große deutsche Historiker Reinhard Koselleck hat mal gesagt, besser wissen, also mit einer kleinen Pause, ist besser als besser wissen.
Und man könnte sagen, Historiker und Historikerinnen leiden unter der Berufskrankheit, der Deformation professionell, dass sie immer wissen, was in der Geschichte herausgekommen ist. Und das schließt an an etwas, was wir am Anfang diskutiert haben, nämlich, dass wir vorsichtig sein müssen mit diesen Informationen,
deterministischen Vorstellungen. Wir wüssten, wie die Geschichte weiterläuft. Wir dürfen sie eben nicht allein vom Ende her denken. Wenn wir das mal auf die Geschichte Weimars anwenden,
Die Krise und der Untergang der Weimarer Republik sind nicht 1918 determiniert. Kein Mensch weiß 1918, dass es einen Zweiten Weltkrieg geben würde. Kein Mensch spricht 1918 vom Ersten Weltkrieg. Die Rede vom Ersten Weltkrieg setzt das Wissen um den Ausbruch eines Zweiten Weltkrieges voraus und dann beginnt man aus einer deutschen Perspektive sozusagen zu nummerieren.
Mit anderen Worten, zur Geschichte gehört die Offenheit der vergangenen Zukunft, die Möglichkeit auch für die Menschen der Vergangenheit, dass sie eine Zukunft hatten, die vielleicht belastet war, die ihre eigenen Hypotheken hatte, das war nach 1918 der Fall, aber die nicht determiniert war, wo man nicht sagen konnte, diese Demokratie hat keine Chance.
Und ich glaube, wenn man das durch die Geschichte vermittelt, dann ist das auch eine Botschaft für die Gegenwart, weil es dann eben bedeutet, die Geschichte ist offen, dann ist auch die Zukunft offen. Man kann sie gestalten, sie ist nicht determiniert, sie hat ihre Belastungen und jede Generation, jede Epoche könnte man sagen, hat ihre eigenen Belastungen, sie ist aber nicht determiniert. Ich benutze gern das Beispiel des Jahres 1933,
Da macht die New York Times eine große Umfrage, was ist die Zukunft der Demokratie? Und die Antwort der meisten Korrespondenten und Intellektuellen auf allen Kontinenten, das ist wirklich eine globale Umfrage, lautet, die Demokratie hat keine Chance mehr. Und dann kommt Franklin Delano Roosevelt in die amerikanische Präsidentschaft und findet mit vielen Anläufen und vielen Spannungen doch eine Antwort auf diese Doppelkrise der Demokratie und des Kapitalismus.
Und das hat für die Entstehung dessen, was wir nach dem Zweiten Weltkrieg den Westen, den europäisch transatlantischen Westen nennen, enorme Bedeutung gehabt. Also zusammengefasst, ich glaube, immunisieren gegen ein determiniertes Geschichtsbild, ein Plädoyer für diese Idee der vergangenen Zukunft und Vorsicht bei dem Satz, es kam, wie es kommen musste. Das wären so drei Worte.
fundamentale Botschaften, die ich mir wünsche, wenn sich Menschen mit Geschichte beschäftigen. Und wenn wir das jetzt nochmal auf diese Woche voller Ereignisse beziehen, dann schauen Sie positiv in die nächste Woche. Naja, dann würde ich sagen, wir stellen natürlich fest, dass sich die bundesdeutsche Parteienlandschaft fundamental verändert hat. Aber das ist auch in anderen europäischen Ländern passiert, also kein deutscher Sonderweg mehr.
Und dann würde ich sagen, natürlich, was mit der AfD-Neubewertung passiert ist, gibt uns einen Eindruck davon.
dass die Statik, vielleicht die ausgeprägte Stabilität des deutschen politischen Systems und des deutschen Parteiensystems vorbei ist. Das heißt aber nicht, dass wir auf eine Verfassungs- oder gar eine Staatskrise zusteuern. Ich finde, man darf dieser bundesdeutschen Demokratie auch etwas zutrauen. Wir haben ja in der deutschen Zivilgesellschaft eine Vielfalt von Reaktionen, die klar macht,
dass Menschen wissen, was ihnen diese Demokratie bedeutet. Man soll die Demokratie nicht in eine Regression hineinschreiben, man soll auch ihrer Resilienz vertrauen. Und das heißt eben nicht, sich in diese Negativspirale zu begegnen oder zu begeben,
Dass wir in einem neuen Weimar wären und das Ende vorgezeichnet ist, sondern vielleicht durch den Vergleich herausfinden, wo liegen die Sollbruchstellen, worauf muss man aufpassen. Das ist eine, finde ich, berichtigte Funktion, eine wichtige Funktion des Vergleichs.
aber sich nicht in eine vorgezeichnete, scheinbar vorgezeichnete Bahn von Niedergang, Erosion und vorgezeichnetem Scheitern begeben. Das wäre, finde ich, der falsche Weg. Mit dem Historiker Jörn Leonard von der Universität Freiburg habe ich in diesen Kulturfragen über historische Vergleiche und ihre Funktion gesprochen. Im Programm geht es weiter mit Kultur heute. Danke für Ihr Interesse an dieser Sendung, sagt Anja Reinhardt.